Die Überquerung der Feuerzangenbowle

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Die Überquerung der Feuerzangenbowle
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Geschichte

Was tun, wenn orthopädische Odysseen versagen? Von Rückenschmerzen geplagt, greift Frau B. zur Selbsthilfe und verordnet sich zur Ablenkung ein Bildungsrezept: Sie möchte das Abitur nachholen. Wider Erwarten stößt sie in ihrer neuen Schule ausschließlich auf junge Mitschüler. Bunt aus verschiedenen Nationalitäten zusammengewürfelt, haben sie sich für einen höheren Bildungsabschluss entschieden, um nicht in die Arbeitslosigkeit zu geraten. Der Schreck sitzt tief- Frau B. ist der absolute Schul-Oldie!

Und eine weitere Hürde stellt sich ihr in den Weg. Vater Willi, ein ehemaliger Profikicker, leidet an beginnender Demenz und hat Probleme mit den Neuerungen im Leben seiner Tochter. Schafft sie es, die scharfen Klippen aus schulischer Anforderung, Außenseiterstatus sowie familiärer Belastung zu umschiffen?

Zunächst sieht es nicht danach aus, aber dann sorgen die turbulenten Ereignisse für einen Richtungswechsel.

Bereits in der ersten Stunde trug er lächelnd zur allgemeinen Verwirrung bei, als er jeden Schüler bat, sich als Blume vorzustellen. Ich entschied mich für ein Stiefmütterchen. Leider interpretierte er meine Wahl in eine falsche Richtung: „Sie sehen doch nicht aus wie ein Stiefmütterchen, oder werden sie aufgrund des Altersunterschiedes von ihren Mitschülern stiefmütterlich behandelt?“ Just in diesem Moment hörte ich Tobi seinem Nachbarn zuflüsterten: „Hoffentlich schafft Stiefmütterchen das Abi noch vor dem Verwelken.“

Autorin

Hildegard Becker, 1952 in Mönchengladbach geboren, arbeitete lange Jahre im öffentlichen Dienst und als selbstständige Floristin. Später studierte sie Kunstgeschichte, sowie Medien- und Kommunikationswissenschaft in Düsseldorf, wo sie auch lebt.

Mit der „Überquerung der Feuerzangenbowle“ veröffentlicht die Autorin ihre erste Erzählung.

Imprint

Die Überquerung der Feuerzangenbowle

Hildegard Becker

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Hildegard Becker

ISBN: 978-3-8442-6134-9

Intro

In einem alten Jack Nicholsen Film, dessen Titel mir entfallen ist, wird zum Ende hin eine junge Frau von einem Gangster verfolgt. Scheinbar kommt sie, sehr zu seiner Freude, an einem steilen Abhang nicht mehr weiter. Aber dann passiert es: sie überbrückt den Abgrund mit einem wunderbaren Spagatsprung und landet elegant auf dem gegenüberliegenden Felsen. Während sie den rechten Arm hebt, um stolz den Mittelfingergestus zu präsentieren, ruft sie dem völlig verblüfften Verfolger zu: „9 Jahre Ballett, du Arschloch!“ Dieser Satz als Ausdruck höchster Genugtuung ist seitdem bei mir zum Bonmot avanciert, erfährt aber durch, „25 Jahre Ballett, du Arschloch“, noch eine kleine Steigerung. Ob ich den Sprung allerdings so hinbekommen würde sei dahingestellt, aber für mich zählt der Symbolcharakter des Satzes. Angewandt schon bei kleinen Erfolgen, die mir nicht zugetraut werden, oder Recht behalten in irgendeiner Angelegenheit, ist dabei unbedingt erforderlich, dass der andere kein Sympathieträger ist und dass ich es ihm „gezeigt“ habe. Unter diesen Voraussetzungen hebt diese, allerdings aus Gründen der Contenance, öfter gedachte als ausgesprochene Devise, meine Stimmung und stärkt das Selbstbewusstsein.

Überhaupt vergleiche ich das Leben oft mit Filmszenen, die mir zu bestimmten Gelegenheiten durch den Kopf schießen. Selbst für meinen Hochzeitswalzer vor zig Jahren griff ich auf Musik aus einem Hitchcock Film zurück. Deshalb ist es nicht eigentlich verwunderlich, dass mich die Theater- und Filmwelt in ihren Bann zieht. Aber auch das richtige Leben, unser „Real Life“, schreibt oft genug so gute Geschichten, dass sie unglaublicher erscheinen als manche Leinwandstory. Abenteuer muss sich nicht unbedingt wie bei Indiana Jones anfühlen, mit Lagerfeuerromantik assoziiert werden, oder mit dem berühmten Wurf in ein Haifischbecken. Abenteuer kann auch bei uns zu Hause während der täglichen Prozesse und Rituale stattfinden, man muss sie nur sehen. Abenteuer liegen oft zum Greifen nah. Sie können hart, bitter, aufregend, lustig und manchmal einfach nur lästig sein. Wir können uns in ein Abenteuer mit lässigem Schwung hineinfallenlassen, ahnungslos hineintappen, aber auch nicht selten gemein hineingestoßen werden. Befinden wir uns mitten in unserem persönlichen Abenteuerstrudel, kämpfen wir uns heraus, um nicht unterzugehen. Oder wir lassen uns treiben, genießen, sind dabei jedoch mit einem Auge schon auf der Suche nach dem nächsten Erlebnis.

Meine Geschichte beginnt in einem Alter, in dem die Meisten schon viele Abenteuer bestanden haben. Selbstverständlich habe auch ich ein Vorleben, aber es ist für die folgenden Ereignisse eher nebensächlich. Vielleicht werde ich einmal an anderer Stelle einige Episoden preisgeben. Dennoch möchte ich mich nun kurz vorstellen: Ich gehöre der Generation an, die noch auf der Straße spielen konnte. Es gab zwar schon Spielplätze, dort benutzte ich aber ausschließlich das Kotzkarussell, den Fliegenpilz (außen mit den großen Jungs) und die Lauftrommel (mit Bein hochziehen). Zu Hause bei uns gegenüber, wo sich seit endloser Zeit ein Wohnblock erhebt, stand der Hof von Bauer Scholzen, der immer nach dem Schlachten einen Wurstteller in der Nachbarschaft herumreichte. Eine Prämisse meines Vaters lautete: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Er war Kicker in einer bekannten rheinischen Fußballmannschaft und impfte mir schon früh eine sportliche Weltanschauung ein. Gedrillt durch väterliches Training, wollte ich zeitweise ein Junge sein, was durch Vaters Typberatung, „ein sportliches Mädchen trägt die Haare kurz“, optisch unterstützt wurde. Manchmal spornte mich bereits der süßlich-penetrante Gummigeruch verschwitzter Knieschoner, mit denen ich aufwuchs, zu sportiven Glanzleistungen an. Etwas später entdeckte ich meine Liebe zum Ballett und wollte lieber tanzen als Fußballspielen. „Kommt gar nicht in Frage“, so der Kommentar, „da laufen doch nur Affen rum!“ Damit war zunächst das Thema erledigt. Erst viel später setzte ich mich durch- und blieb beim Tanz. Auch heute noch fühle ich mich dem kleinen Billy Elliot verbunden, der gegen den Willen seines Vaters den Boxring mit dem Ballettsaal tauscht. Und auch bei mir war der Vater, allerdings erst sehr viel später, stolz auf das, was sein Kind zu bieten hatte. Oft schon habe ich mich gefragt, warum viele Menschen sich immer auf gewisse Erfolge ihrer Kinder stützen müssen, ganz so, als ob diese Leistungskrücke zwingend notwendig sei, um daran das eigene Selbstwertgefühl aufzurichten. Warum reicht es nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr aus, Tochter oder Sohn derselben Eltern zu sein, die damals bei unserer Geburt in einen Freudentaumel gerieten, unsagbar stolz auf uns, ohne dass wir dafür etwas anderes geleistet haben, außer endlich da zu sein?

Wenn man uns Frauen schon in die amerikanische, östliche, exotische, oder französische Typschublade steckt, würde ich mich der letzten Kategorie zuordnen. In diesem Zusammenhang betone ich immer wieder gerne meine (entfernte) französische Verwandtschaft. Von Großtante Christine dieses Zweiges stammt das Zitat: „Obwohl wir arm waren, hatten wir immer einen guten Geschmack.“ Und, ein Filmgeständnis Dany DeVitos: „Ich liebe Geld“, habe ich für mich in: „Ich liebe Schmuck“, abgewandelt. Keine teuren Klunker, die könnte ich mir sowieso nicht leisten, aber hie und da ein kleines Schmuckstück und- auf jeden Fall Ohrringe! Ohne sie läuft nichts- Ohrringe müssen immer sein, sonst fühle ich mich nackt. Und nackt gehe ich nicht auf die Straße. Und, ich liebe Friseur. „Wenn die Haare nichts sind, nutzt das schönste Kleid nichts“, pflegt meine Mutter zu sagen, von der ich die Leidenschaft für Friseurbesuche unmittelbar mit der Muttermilch übernommen habe. Sie ist Schneiderin und muss es ja wissen. Böse Zungen in meinem Freundeskreis behaupteten schon vor Jahren, dass ich aufgrund dieser Neigung das Vermögen meines Mannes verplempere. Da er keins hat, kann ich weiter den Friseuren die Tür einrennen. Trotz meines fortgeschrittenen Alters bin ich also eitel geblieben, beziehungsweise es wird täglich schlimmer. Ich merke es daran, dass die Zeiten im Bad und beim Anziehen immer länger werden, damit ich so natürlich lässig wirke, als sei ich soeben aufgewacht und hätte die Haare mit einer Jeans durchgewuselt, in die ich danach gesprungen bin. Die Banalität dieser Koketterie beschämt mich, aber bisherige Selbstbremsversuche sind völlig fehlgeschlagen.

Wenn ich mich einsam fühle, obwohl ich mit Klaus-Willi[1] verheiratet bin, wenn ich Stress habe, oder wenn irgendetwas Undefinierbares mit mir nicht stimmt, muss ich mir einen Quarkauflauf nach dem Rezept meiner Oma backen. Bei höchster Alarmstufe der für vier bis sechs Personen. Den esse ich komplett. Denn der macht Alles wieder gut. In vielen Märchen werden die Protagonisten von einer guten Fee nach drei Wünschen befragt. Im realen Leben wird man leider bei dieser Art der Befragung übergangen, nichts desto trotz möchte ich mich dazu äußern, damit sie Rückschlüsse auf meine Person ziehen können. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass meine anvisierten Herzensbedürfnisse nichts Besonderes sind und wahrscheinlich von jedem dritten Mitmenschen geteilt werden. Also: seit Jahrzehnten hege ich den großen Wunsch, mich mit allen Freunden heimlich in ein Kaufhaus einschließen zu lassen und dort bis zur Öffnung am nächsten morgen eine Riesensause zu veranstalten.

Bei meinem zweiten Wunsch würde ich gerne ausprobieren, ob der russische Trick des Tischabräumens funktioniert: Die Tafel ist festlich gedeckt und wird durch das Wegziehen der Tischdecke aufgehoben. Oder durch das zerbrochene Geschirr. Zu Hause traue ich mich nicht diesen Kniff auszuprobieren, denn das kann unter Umständen teuer werden. Vom Krach mit dem Ehemann ganz zu schweigen.

 

Trotz ständiger Wiederholungen konnten die Fernsehanstalten meinen dritten Wunsch bisher nicht erfüllen: In einer Seriennacht möchte ich hintereinander alle Lieblingssendungen meiner Kindheit und Jugend noch einmal erleben. Vielleicht erinnern sich ältere Leser noch gerne an Froschmann Mike Nelson, an Kobra übernehmen Sie (hierzulande hieß es noch nicht Mission Impossible, sondern Unmöglicher Auftrag) oder Hiram Holiday? An Lassie mit Jeff (nicht mit Timmy, der war langweilig), Vilma und King, Fury, am Fuß der blauen Berge, Sprung aus den Wolken, Sport, Spiel, Spannung (aber nur Spannung ), und viele, viele andere mehr, sowie an Uraltfolgen der Serie Bonanza. Bonanza! Schon als Kind begeisterte mich der chinesische Koch Hop Sing so sehr, dass ich jedem erzählte: „Wenn ich später einmal reich bin, möchte ich einen chinesischen Koch.“ Später wurde ich zwar nicht reich, modifizierte aber meinen Wunsch in: „Ich hätte gerne einen asiatischen Koch und einen Masseur und…ein Boxspring-Bett.“ Später ist auch noch heute.

Apropos China, ich reise gerne. Am liebsten zu den unterschiedlichsten Orten der Welt, soweit es der Etat erlaubt. Nachdem dieser mittels einer umfassenden Finanzprüfung festgelegt wird, stellt sich in unserem Hause die obligatorische Urlaubsfrage: „Entspannung oder Abenteuer?“ Allerdings können beide Kategorien im Laufe der Reise mühelos eine Liaison miteinander eingehen. Ganz wichtig hierbei ist aber die Einhaltung der obersten Ferienfaustregel: für null Sterne buchen- für zehn Sterne Spaß haben! Ich hoffe, dass durch die legere Vorstellung meiner Person vor ihrem geistigen Auge bereits die Protagonistin dieser Geschichte entstanden ist, oder zumindest ihr Schattenriss imaginiert werden kann. Mehr zu wissen ist zu diesem Zeitpunkt nicht nötig, denn alles Weitere ist selbsterklärend.

Ach so- ich bin übrigens bis auf einige frühe Experimente und Chemieunfälle blond. Jedenfalls so gut wie immer. Während ich hier gerade meine eigene Geschichte Revue passieren lasse, träume ich von deren Verfilmung. Ich denke zwar an eine internationale Produktion, aber mit einem in Deutschland ansässigen Regisseur, da die nachfolgenden Begebenheiten Kenntnis über eine Einrichtung voraussetzt, die es meines Wissens so in anderen Ländern nicht gibt. Kühn denke ich daran, dass Kevin Spacey als mein Ehemann Klaus-Willi ideal besetzt wäre. Der ist auch jünger als ich. Aber Spacey arbeitet doch auch als Regisseur, fährt es mir durch den Kopf, indessen unser Regisseuralphabet von Akin an bis Wortmann durchgehend. Vielleicht erträgt er keinen künstlerischen Leiter aus Deutschland. Diesen Gedanken verdränge ich sofort.

Auf jeden Fall aber sehe ich Marianne Sägebrecht bereits absolut authentisch in ihrer Rolle als skurrile Lehrerin Annilore Frenken. Oder doch Nina Hagen? In meiner Vorstellung vergebe ich weitere Rollen an herausragende Darsteller. Omnipräsente Vorzeigeakteure haben bei meinem Casting keine Chance. Bis auf Einen. Mario Adorf! Er, und wirklich nur er, ist sprachlich in der Lage, der Figur meines Vaters ihren waschechten Akzent zu verleihen.[2] Aus rationalen Gründen lasse ich jedoch in diesem Buch meinen alten Herrn hochdeutsch reden, denn ansonsten wäre eine adäquate Übersetzung dringend erforderlich. Filmmusikalisch tummeln sich in meinem Kopf wunderbare Ideen zu den einzelnen Sequenzen, selbst die Titelmusik kann ich schon festlegen. Eine schräge französische Jazzband, mit einer kräftigen Saxophonistin und ihrer „Maman“ an der Klarinette, bekommt den Auftrag für die Komposition. Dann und wann spielen sie samstags nachmittags in schreiend roten Shirts auf einem kleinen Podest vor der Kathedrale Notre Dame in Paris. Schwierigkeiten ergeben sich lediglich bei meiner eigenen Person, denn schließlich spiele ich die Hauptrolle. Keine Frage, ich liebe die Schauspielerei. Nur ist meine Sprache mit einem leicht rheinischen Singsang durchtränkt, der sich vor allem in emotionalen Situationen verstärkt entfaltet. Wie wirkt das auf ein nicht ausschließlich rheinländisches Publikum? International wiederum sehe ich kein Problem- mein Englisch ist nicht schlecht, und zur Not kann man sich synchronisieren lassen.

Trotz meiner Ambitionen sehe ich ganz klar eine Favoritin: Neiiiiin! Also bitte! Die doch nicht! Die auch nicht! Na, und die erst recht nicht! Und alle anderen sind noch zu jung. Halt! Stopp! Meine Damenwahl fällt auf…ach was, entscheiden sie lieber selbst! Ich gebe aber noch zu bedenken, dass diese Person glänzend zu Kevin Spacey als Filmehemann Klaus-Willi passen sollte.

Hoffentlich tanzt sie gerne.

Ich bin davon überzeugt, wenn sie meine Geschichte zu Ende gelesen haben, werden sie denken, den Film bereits gesehen zu haben. Oder sich wünschen ihn zu sehen.

Erste Etappe

„Wir sehen uns gleich“, sagte eine Stimme hinter mir, „sie kommen in meine Klasse.“ Ich erkannte Frau Frenken, meine schrille Englischlehrerin aus dem Vorkurs, den ich absolvierte um zu testen, ob ich noch geistig imstande sei mein Abitur nachzuholen. Die Vorbereitung verlief zu meiner Zufriedenheit, sodass ich mich zuversichtlich in dieser Schule anmeldete, deren Aula ich jetzt aufgeregt mit vielen anderen Schülern betrat. Zum Glück waren auch einige Ältere da. Ich saß neben einem dünnen, in grellbunte Tücher gehüllten Mädchen, das mir mitteilte, dass sie nun zum dritten Mal Anlauf nahm: „Weißt du, mit Kindern hast du nicht viel Zeit zu Lernen.“

„Wieviele hast du denn“, fragte ich.

„Hab´ vor kurzem mein Viertes bekommen“, antwortete sie. Als ich mich noch fragte, wie man mit vier Kindern überhaupt Zeit für irgendetwas finden konnte, las sie offenbar meine Gedanken. Und legte noch ein Schippchen drauf: „ Als Alleinerziehende muss ich schließlich auch noch arbeiten, aber in der Werbebranche geht das Gott sei Dank auch abends.“ Sie wurde etwas nachdenklich, dann bemerkte sie: „Bei meinem letzten Versuch an dieser Schule war ich in der Theatergruppe aktiv und habe mich in die SV wählen lassen.“

„Ach so“, bemerkte ich geistreich, und überlegte schnell was die SV sei. Ach ja, zu meiner Zeit die SMV- die Schülermitverwaltung.

„Dieses mal werde ich darauf verzichten- ist mir zu stressig“, resümierte die junge Mutter.

Aber nach Greenwichzeit hat der Tag doch nur 24 Stunden, lag es mir auf der Zunge. Aber es kam nicht soweit, denn an dieser Stelle mussten wir unser denkwürdiges Gespräch unterbrechen, da der Rektor nun seine Begrüßungsrede hielt und das Lehrerkollegium vorstellte. Die Älteren, die ich für Schüler in meinem Alter hielt, gehörten dazu. Da der Altersdurchschnitt meiner Mitschüler bei Anfang Zwanzig lag, hieß das für mich: ich war der absolute Oldie der Schule!

Nach dem Festakt folgten wir Neuen den Klassenlehrern in unsere Räume. Wenigstens hatte ich damit Glück. Frau Frenken als Klassenlehrerin zu haben freute mich, denn während der Einführungszeit hatte ich Gelegenheit, sie, respektive ihren Deutsch- und Englischunterricht näher kennenzulernen.

Annilore Frenken war eine exaltierte Person mit einer Ehrlichkeit, die oft an Körperverletzung grenzte. Trotzdem, oder gerade deswegen schätzte ich sie, denn sie kannte weder Freund noch Feind. Täglich wurden ihre Lob- und Tadelkarten neu gemischt, in der Bemühung um eine objektive Beurteilung der Leistung ihrer Schüler. Sie schien sich den Teufel um Konventionen zu scheren, oder gar um soziale Erwünschtheit. Ihren vollen Mund betonte sie stets mit einem feuerroten Lippenstift, den sie auch schon mal im Klassenraum zu erneuern pflegte, was dann und wann zu kleinen Übermalungen führte. Frau Frenken trug auffälligen Schmuck zu farbenfrohen Dritte Welt Strickjacken, die aussahen als seien sie aus den 68ern in unsere Epoche gerettet worden. Die dunklen Naturlocken wurden mal gebändigt, aber nach einer durchkorrigierten Nacht, auch mal nicht. Mit einer lauten Stimme gesegnet, die in markerschütternde Höhen klettern konnte wenn sie sich aufregte, stellte jedoch ihre schallende Lache alles in den Schatten. Bemerkenswert, dass ich nie darauf gefasst war wann es losging, denn offenbar ging unsere Auffassung von Humor manchmal etwas auseinander. Ihr Lachanfall traf einen oft völlig unvorbereitet, zumal sie unterstützend dabei immer wieder mit der flachen Hand auf die Bank schlug, sodass alle Schüler schlagartig hellwach wurden. Tja, und nun saß ich in ihrer Klasse. Vorne. In der ersten Reihe. Durch den Vorkurs bemerkte ich bei mir neben der üblichen altersbedingten Seh- auch eine gewisse Konzentrationsschwäche, die sich einstellte, wenn sich meine Banknachbarn während des Unterrichts über Gott und die Welt unterhielten. Also hieß das für mich in den sauren Apfel beißen, und ab in den Vordergrund, wenn ich dem Unterricht folgen wollte.

„Kommt doch zu mir“, versuchte ich Veronique und Swantje zu locken, die ich während der halbjährigen Informationsphase kennengelernt hatte.

„Nein, komm doch mit nach hinten, was willst du denn da vorne“, echauffierte sich Veronique die kesse Halblibanesin, während ihre deutsche Begleiterin Löcher in die Luft stierte.

„Ich kann nur vorne“, rechtfertigte ich mich.

Die beiden standen noch unentschlossen herum und verhandelten mit mir, während sich die hinteren Plätze schnell füllten. „Und zwei nebeneinander sind jetzt auch in der Mitte weg!“ Veronique und Swantje waren sichtlich ungehalten, als sie sahen, dass ihr Platz nun doch in der ersten Reihe war. Widerwillig setzten sich die beiden und warfen mir böse Blicke zu. Aha, ich merkte: ganz vorne war ganz unten. Zwei weitere Mädchen mussten ebenso auf die “Strafbank“. Die Stimmung sank auf den Nullpunkt, die lautstarken Beschwerden waren nicht zu überhören. Insgeheim war ich froh. Ein Albtraum als Stammesälteste in der ersten Reihe alleine zu sitzen. Nicht auszudenken was Lehrer und Mitschüler in diesem Fall gedacht hätten:

„Die hat bestimmt Körpergeruch.“

„Die ist bestimmt total überheblich.“

„Die ist bestimmt ´ne Streberin.“

„Die ist bestimmt schon Asbach Uralt.“

„Die ist bestimmt gerade auf Selbstfindung.“

„Die hat bestimmt sonst Niemand.“

Mir fielen noch schlimmere Behauptungen ein, doch meine Lehrerin holte mich in die Realität zurück. Mit unnachahmlicher Stimme verkündete sie den Stundenplan:

„Physik, Chemie, Mathematik!“ Das Grauen.

„Soziologie, Philosophie, VWL!“ Könnte interessant werden.

„Informatik!“ Brechreiz gepaart mit blanker Panik.

„Deutsch, Englisch, Französisch oder Latein!“ Geht klar.

„Erdkunde, Biologie, Geschichte!“ Kann ich wahrscheinlich auch mit leben.

„Naturwissenschaftliches Ergänzungsfach!“ Wie bitte?

Es folgte eine komplizierte Erklärung, der ich lediglich das für mich Wichtigste entnahm: Chemie und Physik konnten irgendwann abgewählt werden.

„Ich heiße Melanie…“

„Ich bin die Carola…“

„Mein Name ist Sandra…“

Unsere Vorstellung versetzte mich wieder in den Jetztzustand. Da das Unterrichtsfach Deutsch hieß, wünschte Frau Frenken neben der üblichen Einführung zu erfahren, was denn jeder im Moment so liest. Auch das noch dachte ich, was soll ich denn jetzt nur sagen?

„…daneben lese ich gerade etwas von Ingrid Noll, einfach so, zur Zerstreuung“, setzte sich ein wunderschönes, exotisch aussehendes Mädchen mit dem Namen Derya in Szene, nachdem sie uns vorher auf das von ihr gerade verschlungene Werk der Weltliteratur aufmerksam gemacht hatte. Ich zählte ab wann ich dran war. Mir brach der Schweiß aus.

„Ich bin 19 Jahre, heiße Felix und trenne den Müll. Ich bin Zimmermann und liebe Holz.“

Welches Buch er vorstellte, war mir danach sowieso egal. Eine sofortige Sympathie für meinen neuen Mitschüler stellte sich bei mir ein.

„Ich heiße Veronique, …und ich…, also ich lese überhaupt nicht gerne, und wenn schon dann Comics.“ Oha.

„Wie wollen sie denn das Abitur ohne Lesen schaffen“, fragte die Lehrerin in einem leicht verschärften Tönchen. Die Gegenseite antwortete nur mit einem müden Schulterzucken. Es folgten noch einige Darbietungen von Protagonisten, die am besten geschwiegen hätten. Viel mehr blamieren als die kann ich mich auch nicht, dachte ich, denn zu meiner Schande musste ich mir eingestehen, dass jede schlechte Vorstellung einer meiner Mitschüler auf der Stelle eine ungemein beruhigende Wirkung auf mich ausübte. Ich entschloss mich bei der Wahrheit zu bleiben. „Und sie, Frau B.?“ Frau Frenken nickte wohlwollend mit dem Kopf in meine Richtung. Einige schauten mich erstaunt an, da sie bereits meinen Namen wusste. Ich stellte mich vor, versuchte dabei die Regeln der Rhetorik zu beachten, lächelte in die Runde, machte eine schöpferische Pause und stellte mein aktuelles Buch vor: „Die Leiche im Kreuzverhör.“

 

Totenstille. Die Augen unserer Deutschlehrerin kullerten. Ehe ich noch schnell den Autor nennen konnte, kam der Lachanfall. Zunächst von Annilore Frenken, dann stimmte die Klasse mit ein. Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, holte ich tief Luft und ging ich zur Offensive über: „Es ist ein kriminologisches Lehrbuch über berühmte Kriminalfälle, die mit wissenschaftlichen Methoden gelöst wurden. Der Autor beschreibt sowohl in spannender als auch in informativer Weise, wie durch Spurensicherung, Kriminalpsychologie, DNS-Analyse, Toxikologie oder Sprachidentifizierung letztendlich die Täter überführt werden konnten. Gleichzeitig vermittelt dieses Sachbuch Kenntnis über die historische Entwicklung dieser Methoden, denn bereits im Jahre 1849 konnte ein Mörder anhand der forensischen Zahnmedizin überführt werden.“ Puuuuuh!

„Ach, das ist ja interessant“, bekundete meine Lehrerin ihre Neugier, „das ist mal was völlig anderes als ein üblicher Krimi.“ Nach dem Unterricht kamen fünf Mitschüler plus Lehrerin, die sich das Buch ausleihen wollten, was mein bisher wenig beachtetes literarisches Gewissen nicht beruhigen konnte. Es war beschämend. Meine neuen Schulkameraden, die nicht ausschließlich aus unserem Land stammten, die zudem mindestens fünfundzwanzig Jahre jünger waren als ich, lasen Werke, von denen ich allenthalben nur etwas gehört hatte. Aber auch nicht alle, beruhigte ich mich. Schäm dich, wie peinlich, die willst du doch wohl nicht zum Vorbild nehmen, tadelte mich mein neues Bewusstsein. So fuhr ich nach dem Unterricht umgehend in die örtliche Bücherei und entlieh dort zunächst Orwells 1984.

In den nächsten Tagen lernte ich meine neuen Lehrerinnen und Lehrer kennen. Ständig versuchte ich die entsprechenden Räume zu finden ohne mich zu verlaufen. Die Türe des Physiksaales war mit dem prominenten Poster Albert Einsteins geschmückt und leicht zu finden. Du mich auch, dachte ich immer, wenn er mir die Zunge herausstreckte. Dennoch musste ich zunächst Abbitte an das Fach leisten. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, möglichst vorurteilsfrei an Fächer heranzugehen, die ich nicht mochte, und entdeckte dabei, dass dies eine weise Entscheidung war. Unser Lehrer hieß Herr Dr. Kivelitz. Der graubärtige Karl-Elmar Kivelitz, einer der ältesten Lehrer des Kollegiums, erschien zum Unterricht immer im grauen Anzug, dazu passend, Ton in Ton, immer mit einem grau verfärbten Leinenbeutel in der Hand. Wie es sich für einen Physiker gehört, war er seinem Fach verfallen. Seine Begeisterung für unsere Eignung hielt sich dagegen sehr in Grenzen. „Wer das nicht versteht, hat die ganze Physik nicht verstanden, der, ja der kann doch bleiben wo der Pfeffer wächst“, war einer seiner empörten Ausrufe, bei denen ich immer Angst hatte, er würde rückwärts die Treppe des Saales hinunterstürzen. Einige Jungs schlossen Wetten vor jeder Unterrichtsstunde ab, ob es denn heute soweit sei. Besonders rüpelhaft benahm sich ein Riesenbaby namens Tobi, der aus mir unbegreiflichen Gründen mit Felix befreundet war.

Im Chemiesaal stank es. Schon aus diesem Grund war ich froh, wenn die Stunde vorüber war. Der Lehrer war höflich, sympathisch und ich konnte seinen Ausführungen folgen. Er war so ohne Ecken und Kanten, dass ich seinen Namen vergessen habe. Das Schloss der Toilettentüre im oberen Stockwerk klemmte. Man durfte sie nicht abschließen, denn sonst kam man nur mit blauen Fingern heraus- oder nie wieder. Zweimal kam ich deshalb in den ersten Tagen nach der Pause nicht mehr zurück. Neben der Toilette lag der Biologiesaal. Biologie bei Veit Meinrad! Er war mit der Gabe gesegnet, selbst einfache Sachverhalte dermaßen kompliziert zu erklären, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Als ich erfuhr, dass er neben Biologie auch Latein und Philosophie unterrichtete, wurde mir der hohe Level seines Drei-Fach-Mix-Unterrichtes klar. Bereits in der ersten Stunde trug er lächelnd zur allgemeinen Verwirrung bei, als er jeden Schüler bat, sich als Blume vorzustellen. Ich entschied mich für ein Stiefmütterchen. Leider interpretierte er meine Wahl in eine falsche Richtung: „Sie sehen doch nicht aus wie ein Stiefmütterchen, oder werden sie aufgrund des Altersunterschiedes von ihren Mitschülern stiefmütterlich behandelt?“ Just in diesem Moment hörte ich Tobi seinem Nachbarn zuflüsterten: „Hoffentlich schafft Stiefmütterchen das Abi noch vor dem Verwelken.“ Das saß. Welch dreister Affe! Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle eine rein gehauen. Ehe ich dahingehend tätig werden konnte, forschte Herr Meinrad bereits weiter: „Ein Stiefmütterchen, hm. Haben sie Stiefkinder, sind sie also tatsächlich eine Stiefmutter? Aber hoffentlich keine Rabenmutter! Welcher Jahrgang sind sie denn?“ Veit Meinrad holte noch weiter aus und ließ seiner Phantasie freien Lauf. Irgendwann kam ich dann zu Wort: „Mein Opa war Maler. Er liebte Blumen. Seine besondere Liebe galt den Stiefmütterchen, die er oft mit mir zusammen malte, als ich noch ein Kind war. Aus diesem Grund ist mir diese Blume spontan eingefallen.“ Zur Vorsicht verschwieg ich, dass mich das charakteristische Herzstück der Blüte durch seine dunklen Markierungen anzog wie ein magisches Auge, von dessen Wimpernkranz ich leider nur träumen konnte.

„So, so“, säuselte Herr Meinrad lächelnd und holte aus zu einer biologischen Beschreibung des Stiefmütterchens, philosophierte anschließend über Stempel und Blüten aller Art, schwenkte zu den Bienchen über, und landete beim Menschen, mit dem er seinen Rundkurs beendete. In der Fünfminutenpause nach jener denkwürdigen ersten Stunde nahm er mich beiseite, um mich zu fragen, ob ich mich denn für Kunst interessiere. Es entspann sich ein Gespräch, aus dem hervorging, dass wir ein Jahrgang waren, Rückenprobleme hatten, sein Freund, ein namhafter Künstler gestorben sei, und dass in früheren Zeiten das Unterrichten schöner war, als noch mehr ältere Schüler wie ich das Institut bevölkerten. Auf meine Frage, warum das so sei, erklärte mir Herr Meinrad, dass die hohe Arbeitslosigkeit junge Menschen veranlasse, meist nach einer Lehre ohne anschließende Übernahme, doch noch einen höher qualifizierten Schulabschluss anzustreben.

Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich berufliche Schwierigkeiten Jugendlicher nur aus zweiter Hand. Meine Anteilnahme an dieser Problematik war aus diesem Grund noch nicht sonderlich angekurbelt. De Facto erschien es mir aber ab diesem Moment auch nicht erstrebenswert, das Zeiträdchen zurückzudrehen. Außer, ja, außer an dem Ort wo ich täglich mit meinem Alter konfrontiert wurde: Auf der Toilette! Nach Möglichkeit vermied ich den Gang dorthin, denn das Abschließen war mir aus bereits erwähnten Gründen zu gefährlich. Daneben hatte ich anfänglich Schwierigkeiten jemand zum Aufpassen an der Türe zu bewegen. Aus diesem Grund benutzte ich wenn nötig, die große, aber stark frequentierte Toilettenanlage im Erdgeschoss. Beim Händewaschen erfolgte unvermeidlich der prüfende Blick in den Spiegel. Saubere Nase? Zahnzwischenräume? Frisur? Lippenstift nachlegen nötig? Selbst wenn alle Parameter zu meiner vollsten Zufriedenheit ausfielen, ging eine der Türen auf, ein weibliches Wesen diesseits der Fünfundzwanzig kam heraus, schaute flüchtig mit Vorgerecktem Kinn über meine Schulter in den gleichen Spiegel- und entschwand. Jener direkte Vergleich traf mich jedes Mal wie ein Keulenschlag. Auch der Gedanke, „dass die da auch mal hinkommt wo ich jetzt bin“, oder, „ob die in meinem Alter noch mit ihrem dicken Po durch ein Gartentor passt“, oder, „die Ärmste ist zwar schön, war aber bestimmt arbeitslos“, konnten mich in diesen Momenten nicht aufmuntern. Wenn mich zu diesem fatalen Zeitpunkt nicht gerade jeder anstarrte als hätte ich mich verlaufen, wurde ich völlig ignoriert. Wohlgemerkt, nicht mit Verachtung gestraft, dafür lag kein Grund vor, sondern schlimmer, mir wurde keinerlei Beachtung geschenkt. Ich war sozusagen nicht vorhanden- ich war älter als die Eltern- ich war schon scheintot. Und sosehr ich mich auch in diesen ersten Tagen und Wochen um Kommunikation bemühte, war es mir fast unmöglich auch nur die Spur einer sozialen Vernetzung aufzubauen. Ich rauchte sogar einige Selbstgedrehte in der Raucherecke, weil Raucher gerne alle zwischenmenschlichen Unterschiede durch ihr gemeinsames Hobby überbrücken. Leider mit dem Erfolg, dass ich ständig angeschnorrt, aber danach sofort wieder verlassen wurde. Ein wenig entsetzte mich, dass es unter meinen jungen Mitschülern Schleimer gab. Diese Spezies, an der Schule gerecht auf beide Geschlechter verteilt, grüßte honigsüß lächelnd und hielt mir die gleichen Türen auf, die sie mir einige Tage später vor der Nase zufallen ließen. Dann nämlich hatten diese Typen bemerkt, dass ich keineswegs Lehrerin wie angenommen, sondern eine Mitschülerin war.