Die Überquerung der Feuerzangenbowle

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Türkisches FRIntermezzo [4]

Diese Episode steht substituierend für zahlreiche köstliche Begebenheiten während unserer Törns. Wahrscheinlich klappt es so reibungslos mit uns, weil jeder seine Aufgaben von Anfang an ohne Absprache gesucht und gefunden hat. Bernd, als selbsternannter Gourmet, Marathonläufer und Frühaufsteher, geht gerne morgens Brot einkaufen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Allerdings darf man ihm nur abgezähltes Geld mit geben. Frühmorgens einzukaufen ist für mich ein Gräuel. Stattdessen spüle ich lieber oder reinige die Bordtoilette. Auf deren Reparatur sich wiederum Klaus-Willi und Bernd dermaßen spezialisiert haben, dass sie sich auch gerne „Fäka-Team“ nennen. Während der Fahrt ist Bernd der Smutje für die Zwischensnacks, denn dank drei Kindern beherrscht er perfekt die hohe Kunst des leckeren Butterbrote schmieren. Abends nimmt mein Ehemann oft den Rang des Schiffkochs ein. Manchmal kochen wir auch zusammen- mit geringeren Reibereien als zu Hause. Paul ist unser Skipper, navigiert, hört Wetterberichte, trägt die Verantwortung für alle, ist sich aber auch für niedrige Arbeiten wie Kaffee kochen oder Müll wegbringen nicht zu schade. Deshalb nenne ich ihn an Bord ohne Ironie immer Käpt´n, da er die von mir gnadenlos anerkannte übergeordnete Instanz ist. Die ersten, um eine Woche selbstverlängerten, von Frau Frenken abgesegneten Ferien meines neuen Schülerdaseins lagen vor mir. Der langersehnte Türkeitörn mit Klaus-Willi, Paul und Bernd. Wir wollten nur in Buchten ankern, von denen die meisten nur eine Feuerstelle oder im günstigsten Fall eine Strandbude besaßen, deren verwegen aussehende Besitzer sich mit einem winzigen Boot näherten, um uns beim Ankern zu helfen. Wenn das nicht unbedingt nötig war, machten sie sich nützlich, indem sie uns einen schönen Ankerplatz zuwiesen, den wir uns bereits längst selbst ausgesucht hatten. So ganz en passant wurde dabei auch nach der abendlichen Essensplanung gefragt. Es war immer wieder das gleiche Ritual:

„Kommen heute Abend an Ufer essen? Isch holen ab.“

Nicht direkt laut jubeln, nur interessiert gucken, dann erst antworten:

„Was gibt es denn zu essen?“

„Isch machen schön Fisch, Hühn, Lamm von Grill.“

„Auch Salat?“

„Schön ßßalladd.“

Eingehende Beratung der Crew im Flüsterton unter Berücksichtigung der Sympathiepunkte des Wirtes in Verbindung mit seinem essenstechnischen Angebot. Dann zögernd:

„Okay, gut, wir kommen essen.“

„Wann kommen?“

Eingehende Beratung der Crew unter Berücksichtigung eines ausgedehnten Anlegers, einer Runde Schwimmen, sowie eines plötzlich danach einsetzenden Schwächeanfalls. Dann zögernd:

„Acht Uhr.“

„Isch kommen.“

Und so war es. Pünktlich, man konnte die Uhr danach stellen, wurden wir abgeholt. Nach wunderbaren Mahlzeiten, bei denen ich mich jedes Mal wunderte, mit welch einfachen Mitteln derart köstliche Gerichte zubereitet wurden, brachte uns der Wirt mit seinem Bötchen wieder zurück. Die sternenklaren Nächte an Bord erschienen mir durch die hochgeistigen Getränke während des Essens noch funkelnder. Oft schlief ich, wohlig in meinen Schlafsack gemummelt, mitten im Satz ein. Tagsüber war aus zwei Gründen Action angesagt: Der erste Grund war der starke Wind, der zweite Grund war das männliche Geschlecht. Die Herren wollten nämlich unter keinen Umständen mit dem unter Seglern verpönten „Sunny Sailing“ in Verbindung gebracht werden. Sie liebten „die Stürme, die brausenden Wogen, der eiskalten Winde raues Gesicht“. Aber ehrlich, bis auf die eiskalten Winde liebte ich auch die etwas härteren Törns, wenn, ja wenn man als Frau nicht so oft bei starker Schräglage auf die Bordtoilette müsste.

Eines Abends gingen wir in einer romantischen Bucht vor Anker. Paul hatte uns schon viel von der dortigen Bude erzählt, denn der Besitzer spielte für seine Gäste Geige. Kaum rasselte unsere Ankerkette, näherte sich in Windeseile ein kleiner Kahn. Darin saß ein Junge, der alleine in etwa so schnell ruderte wie ein Doppelachter, weil zeitgleich mehrere Segelyachten in die Bucht einliefen. Selbstredend gingen wir auf das obligatorische Ritual ein, obwohl schon lange feststand, dass wir dem Geiger einen Besuch abstatten wollten. Wie sich herausstellte, war der Junge sein Sohn, der uns dann auch zur gewünschten Uhrzeit abholte. Im Restaurant, einer zum Meer hin offenen Holzbude mit einem beachtlichen alten Steinofen in der Mitte, an dessen Esse einige undefinierbare Raritäten hingen, hockten bereits einige Crews. Paul raunte uns zu:

„Die sind alle hier wegen Mary.“

Ich verstand nicht so recht. „Ist das die Köchin?“

Er lächelte verschmitzt und sagte nur: „Warte ab!“

Mittlerweile waren auch die Segler unserer Nachbaryacht eingetroffen. Ein australisches Paar. Schon älter, indes sehr auffällig und mit einer Lautstärke, die auf ein paar Anleger zuviel schließen ließ. Unser Gastronom begrüßte seine Gäste überschwänglich. Er sprach etwas in Englisch, das sich großzügig übersetzt anhörte wie: „Ihr seid prima Gäste, wenn ihr bitte viel bestellen zu essen, ihr können dann auch viel trinken. Wenn so ist, Musik machen, dann mit Boot zurückbringen.“ Dieser netten Aufforderung konnten wir nicht widerstehen. Als gut erzogene Rheinländer von der wahrscheinlich längsten Theke der Welt, aßen und tranken wir was das Zeug hielt. Und, wir wollten Musik! Die Stimmung stieg. Den Wirt, dessen mächtiges Kinn ein dunkler Stoppelbart zierte, beglückten wir damit außerordentlich, denn sein Lächeln wurde immer breiter und entblößte Zahnfragmente, deren Vorhandensein nur noch auf punktgenaue Nahrungsaufnahme schließen ließ. Endlich war es soweit: Er griff über den Ofen und angelte sich dort ein angekokeltes Instrument, das vielleicht früher mal eine Geige war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich es für einen verbrannten, halbantiken Blasebalg gehalten. Das australische Pärchen klatschte begeistert. Enthusiastisch fielen wir mit ein. Beflügelt von soviel Applaus begann das kleine Kammerkonzert. Seine riesigen, zentimeterdick mit Hornhaut bedeckten schwarzen Füße, klatschten zunächst den Takt auf den Holzboden. Dann strich der Maestro die Saiten seiner Fidel. Ich lachte, denn es hörte sich an wie „Oh Lady Mary“. Es war Oh Lady Mary! Alle Zweifel wurden beseitigt, als er anfing dieses Lied zu singen. Wie unüberbietbar schräg, in einer idyllischen, unbewohnten Bucht der türkischen Ägäis auf einen Oh Lady Mary singenden Strandbudenbesitzer zu treffen, der sich selbst auf einer vorsintflutlichen, halbverbrannten Geige begleitet. Unsere Contenance ließ uns völlig im Stich, vor allem, weil er seine Hymne wieder und wieder anstimmte. Sein Repertoire bestand aus einem einzigen Lied: Oh Lady Mary! Jetzt wusste ich auch was der Käpt´n meinte, und ich wusste auch, warum der Laden so gerammelt voll war. Da der Teufelsgeiger unser mittlerweile hemmungsloses Gelächter als selige Anerkennung seiner Kunst deutete, gab es für unseren Tisch die meisten Zugaben. Dankbar zahlten wir gut angesäuselt irgendwann für Essen und Entertainment bei seinem Sohn, der uns zur Yacht zurückruderte. Dort angekommen, ließen wir den Abend bei diversen Absackern noch einmal Revue passieren, was eher misslang, da wir vor Lachen kaum der Sprache mächtig waren. Plötzlich sprang Klaus-Willi auf: „Die Australier sind noch da, ich glaube die tanzen.“

Paul kletterte blitzschnell unter Deck und holte das Fernglas: „Ich werd´ verrückt, die Frau tanzt mit dem Geiger!“

Ich griff nach dem Fernglas: „Lass gucken! Stimmt! Und wie die tanzen! Ach ne…und Sohnemann spielt Geige.“

Bernd nuschelte: „Vielleicht kann der es ja besser.“

Klaus-Willi griff sich das Glas: „Leute schaut euch das an! Ihr Mann liegt mit dem Kopf auf dem Tisch.

„Aufgeschlagen und ohnmächtig? Oder nur eingeschlafen“, fragte der Käpt´n.

Wir grölten. Das Fernrohr kreiste weiter, so wie das türkisch-australische Tanzpaar, dessen weiblicher Teil sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber sie hatte ja einen starken Partner. Beide schienen sich köstlich zu amüsieren, denn der Wind wehte das Gelächter zu uns an Bord. Und wir fielen mit ein. Völlig unerwartet sprang der vormals Bewusstlose vom Tisch auf und gab das Zeichen zum Aufbruch. Wir rissen uns um das Fernglas. „Wie will die denn so voll ins Boot kommen, und die Stufen zum Steg runter? Schafft die nie“, fachsimpelte Bernd.

„Oh, sie aber wird von drei Männern gestützt“, stellte ich fest.

„Davon ist aber zumindest einer sternhagelvoll“, kommentierte Klaus-Willi.

Der Sternhagelvolle kümmerte sich beim Einstieg um sich selbst. Er rutschte zwar gefährlich an der Kante ab, traf dann aber zielsicher die Planken des schwankenden Kahns. Es folgte der Sprössling, um der Dame die Hand zu reichen, die sie nach ihm ausstreckte. Paul war der Glückliche der zu diesem Zeitpunkt das Fernglas hatte: „Auweia, die greift immer daneben. Jetzt schiebt der Alte sie von hinten an. Neeiin, nein! Achtung- die fällt! Die fällt mitten ins Boot!“ Er prustete los: „Wie eine Bahnschranke, aber wenigstens nicht ins Wasser.“ Aber auch wir anderen konnten den pfeilgeraden Fall sehen, da sich die Silhouette des weißen Kleides ausgezeichnet gegen den dunkelblauen Nachthimmel abhob. Unser Gelächter wich allmählich regelrechten Lachkrämpfen. Ich bekam keine Luft mehr, mein Bauch tat weh und mein Gesicht war tränenüberströmt.

Oh Lady Mary!

Wir konnten nicht mehr sehen, wie die Australier an Bord ihres eigenen Schiffes gelangten, da sich unsere Boote sanft um die eigenen Ankerketten drehten. Am nächsten morgen wunderte ich mich, als ich in meinem Schlafsack aufwachte und noch die Klamotten vom Vorabend trug. Nebenbei tat mir auch der rechte Knöchel weh. Ich kletterte an Deck. Unsere Australier waren bereits weg. Ein hartes Volk, dachte ich anerkennend, da möchte ich auch mal hin. Die Jungs waren auch schon aktiv und auf meine Frage, wann ich denn in die Koje gegangen sei, schauten sich alle drei grinsend an.

 

„Wieso gegangen“, Klaus-Willi schubste mich an, „du musstest getragen werden!“

„Warum?“ Ich war entsetzt.

„Weil du an Deck ausgerutscht bist.“ Er machte eine genüssliche Pause: „Du konntest nicht mehr gehen.“

„Waas?“

„Tja, was soll ich sagen, Lady? Du hattest einen mittelschweren Filmriss, weshalb wir dich in voller Montur zu dritt ins Bett schleppen mussten, alleine hätte ich das nie geschafft.“

Oh Lady Mary!

Zweite Etappe

Du schaust am besten mal wo du noch ein Blatt herbekommst“, sagte die schöne Derya als sie sich unsere gemeinsame Vorlage in die Tasche steckte, „ich muss jetzt sofort weg.“ Immer wieder stolperte ich über ihre Unverfrorenheit, die mich in die Sprachlosigkeit trieb. Während des Physikunterrichtes hatte Dr. Kivelitz klausurrelevante Niederschriften verteilt, zerstreut wie er war, reichten die Blätter natürlich nicht für alle. Daher sollten sich die Banknachbarn einigen und Kopien machen. Meine Banknachbarin hatte das offensichtlich anders verstanden. Nach den Ferien schien also noch alles beim alten zu sein. Für mich war der soziale Knoten endgültig geplatzt: Ich war integriert. Es war wie früher. Freundschaften, Feindschaften, Cliquen und Liebschaften entstanden, festigten sich oder lösten sich wieder auf. Da waren die „Stillen“, Diana, Olga und Maren, die sich nur untereinander verständigten. Sie sprachen weder mit uns, noch leisteten sie irgendeinen mündlichen Beitrag zum Unterricht. Ebenso merkwürdig war ein stets in schwarz gekleidetes Pärchen, das nur miteinander wisperte. Sie hielten sich so dicht aneinander, dass der Eindruck entstand, sie seien am Arm zusammengewachsen. Wir wussten noch nicht einmal ihre Vornamen. Das Mädchen brachte Herrn Trepkow im Englischunterricht zur Verzweiflung, weil sie seiner Meinung nach, das „Th“ nicht in den Griff bekam. „Drehen sie doch ihre Zunge mal nach hinten, hinter die Zähne, tho etwa“, demonstrierte er mit offenem Mund und zeigte seine gerollte Zunge, „tho itht eth richtig!“ Die Ärmste musste diese Übung wieder und wieder nachmachen, bis unser Papa T., wie wir ihn mittlerweile nannten, zufrieden war. Er hatte sehr lange in Oxford gelebt.

Im Soziologie Unterricht bei Herrn Dr. Moldenhauer, 68er wie Frau Frenken, nun ergraut und auf den Posten des Schulleiters hoffend, saß ich inmitten der südamerikanischen Abteilung. Elvira und Teresa sprachen portugiesisch und spanisch, denn sie stammten nicht aus dem gleichen Land. Demokratisch einigten sie sich auf Spanisch. Und wie es sich für temperamentvolle Latinas gehört, erfolgte die spanische Konversation in überaus kräftiger Lautstärke. Selbstverständlich wurde ihr launiger Gedankenaustausch immer und auf jeden Fall während der Soziologiestunde gepflegt. Ein absolutes „Muss“ war dabei die musikalische Untermalung durch die Mobiltelefone, deren Benutzung im Unterricht verboten war. Viva La Fiesta! Obwohl ich musikalisch bin, litt meine Konzentration. Aber als Älteste andauernd um Ruhe zu bitten, war einerseits problematisch, andererseits schien der geräuschvolle Trubel den Rest nicht zu stören. Dr. Moldenhauer schon. Ihm war bereits mehrmals das Kragenknöpfchen geplatzt, ehe er eines Tages Elvira vor die Tür setzte. Sie wurde bei der Erklärung einer Statistik über die Homosexuellenrate plötzlich fanatisch: „ßwule ßinde krrank, alle muße weg weg weg! ßinde ßo ekelafft!“

„Verhalten sie sich bitte ruhig“, ermahnte sie der Lehrer.

„Waaaß? Iß ßagen mein Meinung! Pfui, weg, alle!“ Sie schrie und ihre Stimme schnappte über.

„Hier kann jeder seine Meinung in einer entsprechenden Weise formulieren, aber wir sprechen gerade über soziologische Erhebungen. Ihre persönliche Meinung, die zudem mehr als fragwürdig ist und die niemand hier teilt, halten sie bitte für sich!“

„ßie, waße errlaubben ßie, iß rredde, ßagen Meinnung!“ Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Elvira war nun völlig hysterisch.

„Wenn sie nicht augenblicklich ruhig sind, verlassen sie den Raum!“ Die Abgeklärtheit von Dr. Moldenhauer bröckelte nun so schnell ab, wie alter Putz unter einem gewaltigen Wasserwerfer.

„ßie unverßämt, wenn iß ßagge, ßwule ßinde ßweine, dann“, ….in diesem Moment klingelte auch noch ihr Handy. Und sie ging tatsächlich ran: „Hola…“, doch weiter kam sie nicht.

„Rauuuuus, sofort! Verlassen sie auf der Stelle den Raum!“ Gestik, Mimik und Lautstärke des Lehrers ließen im anderen Falle Schreckliches ahnen.

Elvira verzog sich mit provozierend langsam schwingenden Hüften, aber schnellen Schrittes. Sie kam auch nie mehr wieder. Wir saßen noch eine Weile peinlich geschockt auf unseren Plätzen. Von Teresa erfuhr ich später, dass Elvira, so jung sie war, bereits drei Kinder hatte. Die Ärmsten. Ich stellte mir vor, was passieren würde, wenn sie schwul wären. Lieber nicht. Teresa entwickelte sich als ausgesprochen nette Banknachbarin. Sie war mit einem Deutschen verheiratet und hatte mit ihm längere Zeit in Holland gelebt. Vor dem Unterricht unterhielten wir uns deshalb oft in dieser Sprache. Ich eher schlecht als recht, in den Erinnerungen einiger Holländischkurse kramend, sie mit einem ausgeprägten spanischen Akzent. Es war sehr lustig, in erster Linie für unsere Mithörer. Meistens tauschten wir Kochrezepte aus. Aber auch sie verließ die Schule, da ihr Mann versetzt wurde. Zum Abschied lag ein indonesisches Kochbuch auf meinem Platz.

Eine Klausur kann eine recht intime Angelegenheit zwischen Schüler und Lehrer sein, weil Lehrer durch Klassenarbeiten etwas über einen wissen. Man gibt ihnen sozusagen zu einem bestimmten Thema seine Gedanken preis, die man ansprechend zu formulieren versucht, unter Berücksichtigung des im Unterricht Erlernten. Man macht dabei gravierende, dumme, oder flüchtige Fehler. Bei Erfolg vielleicht auch mal gar keine. Man bekommt die Quittung in Form von Noten, die anhand verschiedener Kriterien von der Lehrerschaft festgelegt werden. Man hofft inständig, falls man sich blamiert hat, dass Lehrer nicht nachtragend sind. Bei Frau Frenken wussten wir unwiderruflich dass sie es nicht war. Ihre Devise zu diesem Thema lautete: „Neues Spiel, neues Glück, oder meinen sie, jedes mal wenn ich sie sehe denke ich, aha, da geht gerade die fünf in Deutsch über den Schulhof?“ Ich glaube die meisten Lehrer dachten ähnlich und waren ziemlich in Ordnung. Unglücklicherweise gab es Schulkollegen, die unfähig waren ihre eigene Leistung einzuschätzen. „Kannst du mir mal eben deine Klausur rübergeben“, fragte mich Erik, ein ewig verträumt lächelnder Jüngling mit einer rötlich feuchten Nase, nach der Rückgabe einer Englischklausur scheinheilig. „Klar“, antwortete ich naiv, „hier“, und reichte sie nach hinten. Wie blauäugig!

Erik, sowie zwei Mädchen, die ständig durch Abwesenheit glänzten, stürzten sich auf meine Arbeit. Diese wurde dann unter Gelächter kommentiert. Ich war bestürzt. Ich fühlte mich so, als würde ich nackt über unseren Wochenmarkt gejagt. Meine ureigensten Ideen wurden ungeniert der Lächerlichkeit preisgegeben, jeder Fehler laut durchgehechelt und mit den ihren verglichen. Meine eindringliche Aufforderung, die Arbeit sofort zurückzugeben, ignorierten sie. Ganz knapp bevor ich zum Mörder wurde, riss Papa T. der Geduldsfaden. Mit sonorer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, bat er mir die Klausur unverzüglich auszuhändigen. Und machte sich stark für mich: „Es scheint einige Schüler zu geben, die mit dem Ergebnis ihrer Klausur nicht ganz zufrieden sind“, stellte er fest, „dazu möchte ich grundsätzlich etwas klarstellen.“ Er betonte, dass er Flüchtigkeitsfehler bei Schülern, von deren Wissen er überzeugt sei (Kopf in meine Richtung), nicht so gravierend bewerte wie bei Schülern, die sowieso stets daneben griffen (Kopf in Richtung Erik & Co). Darüber hinaus bewerte er auch den Gedankenverlauf einer Klausur: „Eine blühende Phantasie ist dabei immer mehr von Vorteil (Kopf in meine Richtung), als einförmige Phrasendrescherei (Kopf in Richtung Erik).“

25 Jahre Ballett, du Arschloch! Danke, Papa T.!

„Mach dir nichts draus, die waren alle drei zugedröhnt“, tröstete mich Felix in der Pause, „ich habe denen eben noch mal gesagt, dass sie sich super asi verhalten haben, aber die peilen nichts mehr. Das sind doch Klappspaten!“ Felix kam seiner Aufgabe als Klassensprecher mit viel sozialem Engagement nach. „Erik kam heute Morgen auf dem Schulhof mit neuem Stoff an, wahrscheinlich war er hinterher sein bester Kunde.“

„Wie, dealt der“, fragte ich verdattert, „der sitzt doch in einigen Fächern sogar neben mir.“

„Frau B.“, fragte Felix mitleidig, „was meinst du denn, weshalb der überhaupt hier ist? Der will kein Abi machen, der macht hier Kundenbindung.“

Nun ging mir auch ein Licht auf: Erst kürzlich reagierte er absolut panisch, als ihm ein voller Beutel mit Gebäck aus der Hand fiel. Die Plätzchen purzelten fröhlich die Stufen des Physiksaales hinunter und rollten bis vor die Füße von Herrn Dr. Kivelitz, der sie kopfschüttelnd betrachtete. Erik wurde lila im Gesicht, sogar sein Dauergrinsen verschwand. Nervös sprang er auf und sammelte vorsichtig jedes Stückchen wie ein „Goldnugget“ ein. Jetzt wurde mir klar, dass es fruchtige Haschischplätzchen waren. Als ich an diesem Tag nach Hause kam, war ein Quarkauflauf fällig, der große, mit viel Rosinen. Es blieb kein Krümel übrig. Erik blieb nicht mehr lange in der Schule. Er hatte bereits einige Ehrenrunden zuviel gedreht und musste sich woanders einen neuen Kundenstamm aufbauen.

Mittlerweile näherte sich der Winter mit Riesenschritten. In der Schule wurde die griechische Tragödie, „Der gefesselte Prometheus - Schicksalstragödie unter Göttern“, von der Theater AG aufgeführt. Ein Stück das dem Denker Aischylos zugeschrieben wird. Ich hatte enorme Probleme den Durchblick zu behalten, aber der Grund wurde mir erst viel später klar: Ich verfügte über keinerlei Kenntnisse der griechischen Dramenwelt. Bei dieser Premiere lernte ich auch Carolas Mutter kennen. Zusammen mit Klaus-Willi, der fleißig Sekt spendierte, verlebten wir einen schönen Abend, der auch dringend nötig war, denn es war Klausurzeit. Obwohl ich bisher gute Noten bekam, selbst in Physik, bedeutete das für mich Stress. Potenziert wurde er durch Umbauarbeiten zu Hause. Grundsätzlich bestand Grund zur Freude, denn wir leisteten uns eine neue Küche. Nur fielen die Vorarbeiten leider kontinuierlich mit meinen Klassenarbeiten zusammen, und so musste ich mich öfter vom Renovieren ausklinken. Aber das gute Stück wurde ja erst in zwei Monaten geliefert. „Na und“, lautete die Klaus-Willi Devise, „ich mache nichts auf den letzten Drücker.“

„Aber wenn du bis morgen wartest, kann ich dir helfen, dann habe ich wenigstens schon die Deutsch-Klausur von der Backe.“

„Nein, üb’ du nur, ich schaffe das gerade noch so ohne dich“, kam die herablassende Antwort indem er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. Eiskalt überließ er mich auf diese Weise meinem schlechten Gewissen. In dieser Art lief es mehrmals ab. Endlich wurden die Fliesen geliefert, auf die wir uns nach heftigen, wochenlangen Debatten geeinigt hatten. Fliesenlegen ist eine Liebhaberei von mir, deshalb verlegten wir die Platten gemeinsam am Wochenende.

„Und Mittwoch wird verfugt“, bestimmte Klaus-Willi.

„Ist ungünstig, am Donnerstag schreibe ich eine VWL-Klausur.“

„Dann verfuge ich eben alleine.“

„Warum können wir nicht Donnerstagabend verfugen, der eine Tag macht den Kohl nicht fett.“

„Mir läuft die Zeit davon, Mittwoch wird verfugt!“ Mein Ehemann schien unerbittlich. K.W. überlegt es sich bestimmt noch anders hoffte ich, denn er wusste genau, wie gerne ich verfuge. Wahrscheinlich, weil ich als Kind oft mit Matsch gespielt habe. Mittwochs wurde verfugt. Es war schon dunkel als Klaus-Willi begann. Er hasst Verfugen. Selbst Schuld dachte ich. Du konntest ja nicht bis morgen warten. Ich verzog mich an meinen Schreibtisch. Kaum saß ich, da hörte ich schon die ersten unangenehmen Töne aus der Küche. Aha, er kam nicht klar.

„Kommst du mal bitte, in diese Scheißecken kann man nicht ordentlich die Fugenmasse einbringen.“

„Das soll auch nicht ordentlich sein, darum sind die Fliesenränder samt der Ecken ja ausgefranst.“

„Wie soll das denn aussehen?“ Die Stimmung stieg.

„Super sieht das aus. Und außerdem warst du doch selbst dabei als der Fuzzy im Handel es uns erklärt hat“, konnte ich mir nicht verkneifen.

 

„Ich wusste es, die albernen Dinger wollte ich sowieso nicht haben!“

„Na jetzt schlägt es dreizehn, das waren doch die einzigen auf die wir uns einigen konnten. Ich hätte sowieso viel lieber die Marokkanischen gehabt.“ Schnell ging ich zurück an meinen Schreibtisch. In der Küche wurde nicht nur die Musik lauter. Irgendwann ging ich rüber. Mein Mann war gerade mit seinem Werk fertig. Es sah grauenhaft aus. Er hatte den Fugenmörtel so dick aufgetragen, dass der eigentliche Charakter der Fliesen nicht mehr zu sehen war. Es war jetzt „ordentlich“. Mir entgleisten die Gesichtszüge, was wiederum Klaus-Willi empörte.

„Hier, mach´ es doch besser“, donnerte er mich an, dabei schleuderte er den Schwamm in den Wassereimer, dass die Brühe hoch aufspritzte.

„Jetzt muss ich mitten in der Nacht verfugen, nur weil du immer deinen Dickschädel durchsetzten musst“, brüllte ich zurück, während ich anfing mit dem Schwamm den überflüssigen Fliesenmörtel aus den Fugen förmlich herauszuklatschen. Ich arbeitete mich mehr und mehr in Rage:

„Morgen früh…klatsch…schreib´ ich…klatsch…direkt in der ersten Stunde…klatsch…eine Klausur“,…klaaaatsch…, haarscharf sauste der Mörtel an Klaus-Willis Ohr vorbei, „doch das interessiert dich einen Scheißdreck…klatsch…und das hier…klatsch…hätte auch noch einen Tag …klatsch…Zeit gehabt!“

Klatsch! Klatsch! Klatsch!

Heute bin ich davon überzeugt, dass ich das Profil der unebenen Platten ohne unseren Streit niemals so schön herausgearbeitet hätte. Als ich endlich ins Bett stolperte, schnorchelte der Gatte schon leise vor sich hin, während mein Herz bis zum Hals pochte. Wie kann man sich nach einem Streit hinlegen und schlafen? Am nächsten morgen würdigten wir uns keines Blickes. Noch schlimmer, Klaus-Willi würdigte das Ergebnis meiner unfreiwilligen Nachtschicht keines Blickes. Erneut stieg eine Wutwelle in mir hoch. Sie stieg wie ein Tsunami. Warte nur, blöde VWL-Klausur, du hast mir gerade noch gefehlt. Zuerst stellte ich fest, dass ich meine Blätter vergessen hatte und musste mir welche leihen. Dann gab der Kuli seinen Geist auf. Jetzt wurde mir langsam alles egal. Ich schrieb mit einem klecksenden Ding weiter und wie am Vorabend schaukelte ich mich immer höher. Ist mir doch egal, die Schmiererei hier, feuerte ich mich an, soll der doch sehen, wie er das entziffert. Was sind denn das überhaupt für blöde Fragen? Na dir werd´ ich jetzt mal was vom Mietspiegel erzählen. Das willst du doch wissen. Oder? Wenn nicht, kannst du mich mal. Unser VWL Lehrer Herr Peters, ein überaus lustiger und temperamentvoller Mensch mit einem weißen Bubikopf, nahm unsere Arbeiten entgegen. Wie immer bei Klausuren war ich die Letzte, die abgab. „Geht es ihnen heute nicht gut Frau B.“, fragte er fürsorglich. Fast hätte ich ihm eine geknallt. Auch Felix und Carola war mein moralisches Tief nicht entgangen. „Hab´ Krach mit Herrn B.“, klärte ich die beiden auf. „Mit dem Willi“, fragte Felix, „wie kann man denn mit dem Zoff kriegen?“ Ich erzählte ihnen die Gutenachtgeschichte- von da ab hieß Klaus-Willi nur noch „Mörtel-Willi“. Nach zwei Wochen bekamen wir die Klausuren zurück. Da Herr Peters auch Mathelehrer war, erging er sich zunächst in Statistik. Viele Lehrer machen das so. Beim Schüler steigt dann unangenehm das Spannungsbarometer. So auch bei der Rückgabe dieser Klausur. Mach´s kurz, dachte ich, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Er arbeitete sich von unten nach oben. „Diesmal gab es nur eine eins, nur diese Arbeit hat die volle Punktzahl erreicht.“ In seiner lebendigen Art fuhr er fort: „Und warum? Was fehlte bei den anderen? Worauf wollte ich in Frage zehn hinaus? Na? Natürlich auf den Mieeeetspieeeegellll!“ Der Mietspiegel, durchfuhr es mich noch, da tönte es enthusiastisch: „Und wer ist nun draufgekommen? Wer? Es war die Frau B.! Frau B.! Beste VWL-Arbeit!“

„Na also, geht doch“, kommentierte mein Mörtel-Willi lakonisch, „du veranstaltest aber auch immer ein Theater.“ Spontan wollte ich mich daraufhin für Sekundenbruchteile scheiden lassen.

Stopp! An dieser Stelle muss ich einen essenziellen Exkurs einfügen. Eigentlich unverzeihlich, dass ich unsere Haushaltsvorsitzende bisher nicht erwähnt habe. Es ist eine Katze. Baghira, Baghsi, Bagghi, Miss Baghira, altes Luder, kleine Maus, süße Moppelmaus oder Mäuschen, ist ein immer klein gebliebenes, weißlatziges schwarzes Kätzchen, das uns als Teenie zulief, und uns regiert. Und das schon sehr lange. Sie degradiert mich zur Haushaltshilfe und meinen Mann zum Büchsenöffner. Abends schreitet sie über die Leiber ihrer Untertanen, nimmt Huldigungen in Form von Kuscheleinheiten entgegen, lässt sich dann mit lautem Hubschrauberlandeplatzschnurren auf Klaus-Willi fallen, weil sie in seinen zahlreich vorhandenen Brusthaaren zu wühlen gedenkt. Miss Baghira bezieht immer Stellung zu sämtlichen Familienangelegenheiten. Streitereien kann sie nicht ausstehen, sie weiß dann nämlich nicht, zu wem sie halten soll. Damit sie nicht so leidet, haben wir eine bei Eltern gängige Floskel abgewandelt: „Schschscht! Bitte nicht vor der Katze!“ Aber dieser Vorsatz lässt sich aus Temperamentgründen nicht immer einhalten.

Weihnachten rückte immer näher. Und damit nicht nur die letzten fünf Klausuren vor den Zeugnissen im Januar, sondern auch die Weihnachtsfeier in der Aula. Dafür wurden per Aushang freiwillige Helfer gesucht. Carola und ich kreierten eine Kuchenliste und warben in den Klassen für impulsive Unterstützung, damit ein Kuchenbuffet mit leckeren, selbstgebackenen Kuchen zustande kam. Ein anstrengendes Unternehmen. Zudem übernahm ich die Ausstattung der Aula, da ich in diesem Bereich einige Jahre professionell tätig war. Ich bekam den Deko-Job von Frau Piczynski übertragen, die ihn bis dahin ausübte, und die ihn für die Dauer meiner Schulzeit an mich abtrat. Auch heute noch, beim alljährlichen Schulfest der Ehemaligen fragt sie jedes Mal: „Na, was sagen sie denn zu meiner Tischdeko?“ Diese ist, wie es sich für eine Mathematiklehrerin gehört, sowohl farblich als auch thematisch gut durchdacht und immer streng linear. Streng linear konnte ich nicht. Ausgerüstet mit großartigem Equipment, bestehend aus Geodreieck, Zirkel und Lineal, gelangen mir selbst unter größten Anstrengungen die Skizzen im Matheunterricht nur mäßig. Es lag nicht am Rechnen. Obwohl ich gut malen kann, bin ich einfach nicht in der Lage, selbst eine gerade Linie mit dem Lineal zu zeichnen. Erst recht keinen Graph, der irgendeine Linie an irgendeinem Punkt schneiden soll. Vorgaben dieser Art finde ich kleinkariert. Sie determinieren meine Kreativität. Von Carola bekam ich Hilfestellung. Sie war in ihrem Element, denn schließlich wollte sie Architektur studieren und bediente sich professionell jeglicher Gräuelinstrumente. Auch Klaus-Willi sprang in Bresche, er ist der beste Zeichner den ich kenne.

Es war nicht leicht für den bevorstehenden Klausurhagel ein brauchbares Zeitmanagement zu finden, denn schließlich wurden zudem umfangreiche Hausaufgaben erwartet. Oft schlief ich für kurze Zeit mit dem Kopf auf dem rechten Arm liegend, an dem kleinen Schreibtisch ein, den mein Mann mir aus einem Nähmaschinengestell gewerkelt hatte. Minutenschlaf wirkte bei mir Wunder, danach konnte ich richtig aufdrehen. Und so blieb auch meiner Halswirbelsäule nichts anderes übrig, als sich in ihren Dauerschaden zu fügen.

„Wo gehen sie denn zum Friseur“, laut vernehmbar fragte mich Frau Frenken vor der Deutschstunde, den kritischen Blick auf meinen Kopf genagelt.

„Ich habe mal einen Neuen getestet. In der Altstadt. Dort arbeiten sie nur ohne Termin- das ist einigermaßen stressig, aber sie sind gut.“