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Das Majorat

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Hubert richtete sich in den Zimmern, die ihm in den Seitenflügeln des Schlosses angewiesen worden, zu des Freiherrn Verdruß auf recht langes Bleiben ein. Man bemerkte, daß er oft und lange mit dem Hausverwalter sprach, ja daß dieser sogar zuweilen mit ihm auf die Wolfsjagd zog. Sonst ließ er sich wenig sehen und mied es ganz, mit dem Bruder allein zusammenzukommen, welches diesem eben ganz recht war. V. fühlte das Drückende dieses Verhältnisses, ja er mußte sich es selbst gestehen, daß die ganz besondere unheimliche Manier Huberts in allem, was er sprach und tat, alle Lust recht geflissentlich zerstörend, eingriff. Jener Schreck des Freiherrn, als er den Bruder eintreten sah, war ihm nun ganz erklärlich.

V. saß allein in der Gerichtsstube unter den Akten, als Hubert eintrat, ernster, gelassener als sonst, und mit beinahe wehmütiger Stimme sprach: „Ich nehme auch die letzten Vorschläge des Bruders an, bewirken Sie, daß ich die zweitausend Friedrichsdor noch heute erhalte, in der Nacht will ich fort – zu Pferde – ganz allein!” – „Mit dem Geld?” frug V. – „Sie haben recht”, erwiderte Hubert, „ich weiß, was Sie sagen wollen – die Last! – Stellen Sie es in Wechsel auf Isak Lazarus in K.! – Noch in dieser Nacht will ich hin nach K. Es treibt mich von hier fort, der Alte hat seine bösen Geister hier hineingehext!” – „Sprechen Sie von Ihrem Vater, Herr Baron?” frug V. sehr ernst. Huberts Lippen bebten, er hielt sich an dem Stuhl fest, um nicht umzusinken, dann aber, sich plötzlich ermannend, rief er: „Also noch heute, Herr Justitiarius”, und wankte, nicht ohne Anstrengung, zur Tür hinaus. „Er sieht jetzt ein, daß keine Täuschungen mehr möglich sind, daß er nichts vermag gegen meinen festen Willen”, sprach der Freiherr, indem er den Wechsel auf Isak Lazarus in K. ausstellte. Eine Last wurde seiner Brust entnommen durch die Abreise des feindlichen Bruders, lange war er nicht so froh gewesen als bei der Abendtafel. Hubert hatte sich entschuldigen lassen, alle vermißten ihn recht gern.

V. wohnte in einem etwas abgelegenen Zimmer, dessen Fenster nach dem Schloßhofe herausgingen. In der Nacht fuhr er plötzlich auf aus dem Schlafe, und es war ihm, als habe ein fernes, klägliches Wimmern ihn aus dem Schlafe geweckt. Mochte er aber auch horchen, wie er wollte, es blieb alles totenstill, und so mußte er jenen Ton, der ihm in die Ohren geklungen, für die Täuschung eines Traums halten. Ein ganz besonderes Gefühl von Grauen und Angst bemächtigte sich seiner aber so ganz und gar, daß er nicht im Bette bleiben konnte. Er stand auf und trat ans Fenster. Nicht lange dauerte es, so wurde das Schloßtor geöffnet, und eine Gestalt, mit einer brennenden Kerze in der Hand, trat heraus und schritt über den Schloßhof. V. erkannte in der Gestalt den alten Daniel und sah, wie er die Stalltür öffnete, in den Stall hineinging und bald darauf ein gesatteltes Pferd herausbrachte. Nun trat aus der Finsternis eine zweite Gestalt hervor, wohl eingehüllt in einen Pelz, eine Fuchsmütze auf dem Kopf. V. erkannte Hubert, der mit Daniel einige Minuten hindurch heftig sprach, dann aber sich zurückzog. Daniel führte das Pferd wieder in den Stall, verschloß diesen und ebenso die Tür des Schlosses, nachdem er über den Hof, wie er gekommen, zurückgekehrt. – Hubert hatte wegreisen wollen und sich in dem Augenblick eines andern besonnen, das war nun klar. Ebenso aber auch, daß Hubert gewiß mit dem alten Hausverwalter in irgendeinem gefährlichen Bündnisse stand. V. konnte kaum den Morgen erwarten, um den Freiherrn von den Ereignissen der Nacht zu unterrichten. Es galt nun wirklich, sich gegen Anschläge des bösartigen Hubert zu waffnen, die sich, wie V. jetzt überzeugt war, schon gestern in seinem verstörten Wesen kundgetan.

Andern Morgens zur Stunde, wenn der Freiherr aufzustehen pflegte, vernahm V. ein Hinundherrennen, Türauf–, Türzuschlagen, ein verwirrtes Durcheinander und Schreien. Er trat hinaus und stieß überall auf Bediente, die, ohne auf ihn zu achten, mit leichenblassen Gesichtern ihm vorbei – treppauf – treppab – hinaus – hinein durch die Zimmer rannten. Endlich erfuhr er, daß der Freiherr vermißt und schon stundenlang vergebens gesucht werde. – In Gegenwart des Jägers hatte er sich ins Bette gelegt, er mußte dann aufgestanden sein und sich im Schlafrock und Pantoffeln, mit dem Armleuchter in der Hand, entfernt haben, denn ebendiese Stücke wurden vermißt. V. lief, von düsterer Ahnung getrieben, in den verhängnisvollen Saal, dessen Seitenkabinett, gleich dem Vater, Wolfgang zu seinem Schlafgemach gewählt hatte. Die Pforte zum Turm stand weit offen, tief entsetzt schrie V. laut auf: „Dort in der Tiefe liegt er zerschmettert!” – Es war dem so. Schnee war gefallen, so daß man von oben herab nur den zwischen den Steinen hervorragenden starren Arm des Unglücklichen deutlich wahrnehmen konnte. Viele Stunden gingen hin, ehe es den Arbeitern gelang, mit Lebensgefahr, auf zusammengebundenen Leitern, herabzusteigen und dann den Leichnam an Stricken heraufzuziehen. Im Krampf der Todesangst hatte der Baron den silbernen Armleuchter fest gepackt, die Hand, die ihn noch festhielt, war der einzige unversehrte Teil des ganzen Körpers, der sonst durch das Anprallen an die spitzen Steine auf das gräßlichste zerschellt worden.

Alle Furien der Verzweiflung im Antlitz, stürzte Hubert herbei, als die Leiche eben hinaufgeborgen und in dem Saal, gerade an der Stelle auf einen breiten Tisch gelegt worden, wo vor wenigen Wochen der alte Roderich lag. Niedergeschmettert von dem gräßlichen Anblick, heulte er: „Bruder – o mein armer Bruder – nein, das hab' ich nicht erfleht von den Teufeln, die über mir waren!” – V. erbebte vor dieser verfänglichen Rede, es war ihm so, als müsse er zufahren auf Hubert, als den Mörder seines Bruders. – Hubert lag, von Sinnen, auf dem Fußboden, man brachte ihn ins Bette, und er erholte sich, nachdem er stärkende Mittel gebraucht, ziemlich bald. Sehr bleich, düstern Gram im halb erloschnen Auge, trat er dann bei V. ins Zimmer und sprach, indem er vor Mattigkeit, nicht fähig zu stehen, sich langsam in einen Lehnstuhl niederließ: „Ich habe meines Bruders Tod gewünscht, weil der Vater ihm den besten Teil des Erbes zugewandt durch eine törichte Stiftung – jetzt hat er seinen Tod gefunden auf schreckliche Weise – ich bin Majoratsherr, aber mein Herz ist zermalmt, ich kann, ich werde niemals glücklich sein. Ich bestätige Sie im Amte, Sie erhalten die ausgedehntesten Vollmachten rücksichts der Verwaltung des Majorats, auf dem ich nicht zu hausen vermag!” – Hubert verließ das Zimmer und war in ein paar Stunden schon auf dem Wege nach K. Es schien, daß der unglückliche Wolfgang in der Nacht aufgestanden war und sich vielleicht in das andere Kabinett, wo eine Bibliothek aufgestellt, begeben wollen. In der Schlaftrunkenheit verfehlte er die Tür, öffnete statt derselben die Pforte, schritt vor und stürzte hinab. Diese Erklärung enthielt indessen immer viel Erzwungenes. Konnte der Baron nicht schlafen, wollte er sich noch ein Buch aus der Bibliothek holen, um zu lesen, so schloß dieses alle Schlaftrunkenheit aus, aber nur so war es möglich, die Tür des Kabinetts zu verfehlen und statt dieser die Pforte zu öffnen. Überdem war diese fest verschlossen und mußte erst mit vieler Mühe aufgeschlossen werden. „Ach”, fing endlich, als V. diese Unwahrscheinlichkeit vor versammelter Dienerschaft entwickelte, des Freiherrn Jäger, Franz geheißen, an, „ach, lieber Herr Justitiarius, so hat es wohl sich nicht zugetragen!” – „Wie denn anders?” fuhr ihn V. an. Franz, ein ehrlicher treuer Kerl, der seinem Herrn hätte ins Grab folgen mögen, wollte aber nicht vor den andern mit der Sprache heraus, sondern behielt sich vor, das, was er davon zu sagen wisse, dem Justistiarius allein zu vertrauen. V. erfuhr nun, daß der Freiherr zu Franz sehr oft von den vielen Schätzen sprach, die da unten in dem Schutt begraben lägen, und daß er oft, wie vom bösen Geist getrieben, zur Nachtzeit noch die Pforte, zu der den Schlüssel ihm Daniel hatte geben müssen, öffnete und mit Sehnsucht hinabschaute in die Tiefe nach den vermeintlichen Reichtümern. Gewiß war es nun wohl also, daß in jener verhängnisvollen Nacht der Freiherr, nachdem ihn der Jäger schon verlassen, noch einen Gang nach dem Turm gemacht und ihn dort ein plötzlicher Schwindel erfaßt und herabgestürzt hatte. Daniel, der von dem entsetzlichen Tode des Freiherrn auch sehr erschüttert schien, meinte, daß es gut sein würde, die gefährliche Pforte fest vermauern zu lassen, welches denn auch gleich geschah. Freiherr Hubert von R., jetziger Majoratsbesitzer, ging, ohne sich wieder in R..sitten sehen zu lassen, nach Kurland zurück. V. erhielt alle Vollmachten, die zur unumschränkten Verwaltung des Majorats nötig waren. Der Bau des neuen Schlosses unterblieb, wogegen, so viel möglich, das alte Gebäude in guten Stand gesetzt wurde. Schon waren mehrere Jahre verflossen, als Hubert zum erstenmal zur späten Herbstzeit sich in R..sitten einfand und, nachdem er mehrere Tage mit V., in seinem Zimmer eingeschlossen, zugebracht, wieder nach Kurland zurückging. Bei seiner Durchreise durch K. hatte er bei der dortigen Landesregierung sein Testament niedergelegt.

Während seines Aufenthaltes in R..sitten sprach der Freiherr, der in seinem tiefsten Wesen ganz geändert schien, viel von Ahnungen eines nahen Todes. Diese gingen wirklich in Erfüllung; denn er starb schon das Jahr darauf. Sein Sohn, wie er Hubert geheißen, kam schnell herüber von Kurland, um das reiche Majorat in Besitz zu nehmen. Ihm folgten Mutter und Schwester. Der Jüngling schien alle bösen Eigenschaften der Vorfahren in sich zu vereinen; er bewies sich als stolz, hochfahrend, ungestüm, habsüchtig gleich in den ersten Augenblicken seines Aufenthalts in R..sitten. Er wollte auf der Stelle vieles ändern lassen, welches ihm nicht bequem, nicht gehörig schien; den Koch warf er zum Hause hinaus; den Kutscher versuchte er zu prügeln, welches aber nicht gelang, da der baumstarke Kerl die Frechheit hatte, es nicht leiden zu wollen; kurz, er war im besten Zuge, die Rolle des strengen Majoratsherrn zu beginnen, als V. ihm mit Ernst und Festigkeit entgegentrat, sehr bestimmt versichernd: kein Stuhl solle hier gerückt werden, keine Katze das Haus verlassen, wenn es ihr noch sonst darin gefalle, vor Eröffnung des Testaments. „Sie unterstehen sich hier, dem Majoratsherrn —” fing der Baron an. V. ließ den vor Wut schäumenden Jüngling jedoch nicht ausreden, sondern sprach, indem er ihn mit durchbohrenden Blicken maß: „Keine Übereilung, Herr Baron! – Durchaus dürfen Sie hier nicht regieren wollen vor Eröffnung des Testaments; jetzt bin ich, ich allein hier Herr und werde Gewalt mit Gewalt zu vertreiben wissen. – Erinnern Sie sich, daß ich kraft meiner Vollmacht als Vollzieher des väterlichen Testaments, kraft der getroffenen Verfügungen des Gerichts berechtigt bin, Ihnen den Aufenthalt hier in R..sitten zu versagen, und ich rate Ihnen, um das Unangenehme zu verhüten, sich ruhig nach K. zu begeben.” Der Ernst des Gerichtshalters, der entschiedene Ton, mit dem er sprach, gab seinen Worten gehörigen Nachdruck, und so kam es, daß der junge Baron, der mit gar zu spitzigen Hörnern anlaufen wollte wider den festen Bau, die Schwäche seiner Waffen fühlte und für gut fand, im Rückzuge seine Beschämung mit einem höhnischen Gelächter auszugleichen.

 

Drei Monate waren verflossen und der Tag gekommen, an dem, nach dem Willen des Verstorbenen, das Testament in K., wo es niedergelegt worden, eröffnet werden sollte. Außer den Gerichtspersonen, dem Baron und V. befand sich noch ein junger Mensch von edlem Ansehn in dem Gerichtssaal, den V. mitgebracht und den man, da ihm ein eingeknöpftes Aktenstück aus dem Busen hervorragte, für V.s Schreiber hielt. Der Baron sah ihn, wie er es beinahe mit allen übrigen machte, über die Achsel an und verlangte stürmisch, daß man die langweilige überflüssige Zeremonie nur schnell und ohne viele Worte und Schreiberei abmachen solle. Er begreife nicht, wie es überhaupt in dieser Erbangelegenheit, wenigstens hinsichts des Majorats, auf ein Testament ankommen könne, und werde, insofern hier irgend etwas verfügt sein solle, es lediglich von seinem Willen abhängen, das zu beachten oder nicht. Hand und Siegel des verstorbenen Vaters erkannte der Baron an, nachdem er einen flüchtigen mürrischen Blick darauf geworfen, dann, indem der Gerichtsschreiber sich zum lauten Ablesen des Testaments anschickte, schaute er gleichgültig nach dem Fenster hin, den rechten Arm nachlässig über die Stuhllehne geworfen, den linken Arm gelehnt auf den Gerichtstisch und auf dessen grüner Decke mit den Fingern trommelnd. Nach einem kurzen Eingange erklärte der verstorbene Freiherr Hubert v. R., daß er das Majorat niemals als wirklicher Majoratsherr besessen, sondern dasselbe nur namens des einzigen Sohnes des verstorbenen Freiherrn Wolfgang von R., nach seinem Großvater Roderich geheißen, verwaltet habe; dieser sei derjenige, dem nach der Familiensukzession durch seines Vaters Tod das Majorat zugefallen. Die genauesten Rechnungen über Einnahme und Ausgabe, über den vorzufindenden Bestand und so weiter würde man in seinem Nachlaß finden. Wolfgang von R., so erzählte Hubert in dem Testament, lernte auf seinen Reisen in Genf das Fräulein Julie von St. Val kennen und faßte eine solche heftige Neigung zu ihr, daß er sich nie mehr von ihr zu trennen beschloß. Sie war sehr arm, und ihre Familie, unerachtet von gutem Adel, gehörte eben nicht zu den glänzendsten. Schon deshalb durfte er auf die Einwilligung des alten Roderich, dessen ganzes Streben dahin ging, das Majoratshaus auf alle nur mögliche Weise zu erheben, nicht hoffen. Er wagte es dennoch, von Paris aus dem Vater seine Neigung zu entdecken; was aber vorauszusehen, geschah wirklich, indem der Alte bestimmt erklärte, daß er schon selbst die Braut für den Majoratsherrn erkoren und von einer andern niemals die Rede sein könne. Wolfgang, statt, wie er sollte, nach England hinüberzuschiffen, kehrte unter dem Namen Born nach Genf zurück und vermählte sich mit Julien, die ihm nach Verlauf eines Jahres den Sohn gebar, der mit dem Tode Wolfgangs Majoratsherr wurde. Darüber, daß Hubert, von der ganzen Sache unterrichtet, so lange schwieg und sich selbst als Majoratsherr gerierte, waren verschiedene Ursachen angeführt, die sich auf frühere Verabredungen mit Wolfgang bezogen, indessen unzureichend und aus der Luft gegriffen schienen.

Wie vom Donner gerührt, starrte der Baron den Gerichtsschreiber an, der mit eintöniger schnarrender Stimme alles Unheil verkündete. Als er geendet, stand V. auf, nahm den jungen Menschen, den er mitgebracht, bei der Hand und sprach, indem er sich gegen die Anwesenden verbeugte: „Hier, meine Herren, habe ich die Ehre, Ihnen den Freiherrn Roderich von R., Majoratsherrn von R..sitten, vorzustellen!” Baron Hubert blickte den Jüngling, der, wie vom Himmel gefallen, ihn um das reiche Majorat, um die Hälfte des freien Vermögens in Kurland brachte, verhaltenen Grimm im glühenden Auge, an, drohte dann mit geballter Faust und rannte, ohne ein Wort hervorbringen zu können, zum Gerichtssaal hinaus. Von den Gerichtspersonen dazu aufgefordert, holte jetzt Baron Roderich die Urkunden hervor, die ihn als die Person, für die er sich ausgab, legitimieren sollten. Er überreichte den beglaubigten Auszug aus den Registern der Kirche, wo sein Vater sich trauen lassen, worin bezeugt wurde, daß an dem und dem Tage der Kaufmann Wolfgang Born, gebürtig aus K., mit dem Fräulein Julie von St. Val in Gegenwart der genannten Personen durch priesterliche Einsegnung getraut worden. Ebenso hatte er seinen Taufschein (er war in Genf als von dem Kaufmann Born mit seiner Gemahlin Julie, gebornen von St. Val, in gültiger Ehe erzeugtes Kind getauft worden), verschiedene Briefe seines Vaters an seine schon längst verstorbene Mutter, die aber alle nur mit W. unterzeichnet waren.

V. sah alle diese Papiere mit finsterm Gesichte durch und sprach, ziemlich bekümmert, als er sie wieder zusammenschlug: „Nun, Gott wird helfen!”

Schon andern Tages reichte der Freiherr Hubert von R. durch einen Advokaten, den er zu seinem Rechtsfreunde erkoren, bei der Landesregierung in K. eine Vorstellung ein, worin er auf nichts weniger antrug, als sofort die Übergabe des Majorats R..sitten an ihn zu veranlassen. Es verstehe sich von selbst, sagte der Advokat, daß weder testamentarisch noch auf irgendeine andere Weise der verstorbene Freiherr Hubert von R. habe über das Majorat verfügen können. Jenes Testament sei also nichts anderes als die aufgeschriebene und gerichtlich übergebene Aussage, nach welcher der Freiherr Wolfgang von R. das Majorat an einen Sohn vererbt haben solle, der noch lebe, die keine höhere Beweiskraft, als jede andere irgendeines Zeugen haben und also unmöglich die Legitimation des angeblichen Freiherrn Roderich von R. bewirken könne. Vielmehr sei es die Sache dieses Prätendenten, sein vorgebliches Erbrecht, dem hiermit ausdrücklich widersprochen werde, im Wege des Prozesses darzutun und das Majorat, welches jetzt nach dem Recht der Sukzession dem Baron Hubert von R. zugefallen, zu vindizieren. Durch den Tod des Vaters sei der Besitz unmittelbar auf den Sohn übergegangen; es habe keiner Erklärung über den Erbschaftsantritt bedurft, da der Majoratsfolge nicht entsagt werden könne, mithin dürfte der jetzige Majoratsherr in dem Besitz nicht durch ganz illiquide Ansprüche turbiert werden. Was der Verstorbene für Grund gehabt habe, einen andern Majoratsherrn aufzustellen, sei ganz gleichgültig, nur werde bemerkt, daß er selbst, wie aus den nachgelassenen Papieren erforderlichenfalls nachgewiesen werden könne, eine Liebschaft in der Schweiz gehabt habe, und so sei vielleicht der angebliche Bruderssohn der eigne, in einer verbotenen Liebe erzeugte, dem er in einem Anfall von Reue das reiche Majorat zuwenden wollen.

Sosehr auch die Wahrscheinlichkeit für die im Testament behaupteten Umstände sprach, sosehr auch die Richter hauptsächlich die letzte Wendung, in der der Sohn sich nicht scheute, den Verstorbenen eines Verbrechens anzuklagen, empörte, so blieb doch die Ansicht der Sache, wie sie aufgestellt worden, die richtige, und nur den rastlosen Bemühungen V.s, der bestimmten Versicherung, daß der die Legitimation des Freiherrn Roderich von R. bewirkende Beweis in kurzer Zeit auf das bündigste geführt werden solle, konnte es gelingen, daß die Übergabe des Majorats noch ausgesetzt und die Fortdauer der Administration bis nach entschiedener Sache verfügt wurde.

V. sah nur zu gut ein, wie schwer es ihm werden würde, sein Versprechen zu halten. Er hatte alle Briefschaften des alten Roderich durchstöbert, ohne die Spur eines Briefes oder sonst eines Aufsatzes zu finden, der Bezug auf jenes Verhältnis Wolfgangs mit dem Fräulein von St. Val gehabt hätte. Gedankenvoll saß er in R..sitten in dem Schlafkabinett des alten Roderich, das er ganz durchsucht, und arbeitete an einem Aufsatze für den Notar in Genf, der ihm als ein scharfsinniger tätiger Mann empfohlen worden und der ihm einige Notizen schaffen sollte, die die Sache des jungen Freiherrn ins klare bringen konnten. – Es war Mitternacht worden, der Vollmond schien hell hinein in den anstoßenden Saal, dessen Tür offenstand. Da war es, als schritte jemand langsam und schwer die Treppe herauf und klirre und klappere mit Schlüsseln. V. wurde aufmerksam, er stand auf, ging in den Saal und vernahm nun deutlich, daß jemand sich durch den Flur der Türe des Saals nahte. Bald darauf wurde diese geöffnet, und ein Mensch mit leichenblassem entstellten Antlitz, in Nachtkleidern, in der einen Hand den Armleuchter mit brennenden Kerzen, in der andern den großen Schlüsselbund, trat langsam hinein. V. erkannte augenblicklich den Hausverwalter und war im Begriff, ihm zuzurufen, was er so spät in der Nacht wolle, als ihn in dem ganzen Wesen des Alten, in dem zum Tode erstarrten Antlitz etwas Unheimliches, Gespenstisches mit Eiskälte anhauchte. Er erkannte, daß er einen Nachtwandler vor sich habe. Der Alte ging mit gemessenen Schritten quer durch den Saal, gerade los auf die vermauerte Tür, die ehemals zum Turm führte. Dicht vor derselben blieb er stehen und stieß aus tiefer Brust einen heulenden Laut aus, der so entsetzlich in dem ganzen Saale widerhallte, daß V. erbebte vor Grausen. Dann, den Armleuchter auf den Fußboden gestellt, den Schlüsselbund an den Gürtel gehängt, fing Daniel an, mit beiden Händen an der Mauer zu kratzen, daß bald das Blut unter den Nägeln hervorquoll, und dabei stöhnte er und ächzte, wie gepeinigt von einer namenlosen Todesqual. Nun legte er das Ohr an die Mauer, als wolle er irgend etwas erlauschen, dann winkte er mit der Hand, wie jemanden beschwichtigend, bückte sich, den Armleuchter wieder vom Boden aufhebend, und schlich mit leisen gemessenen Schritten nach der Türe zurück. V. folgte ihm behutsam mit dem Leuchter in der Hand. Es ging die Treppe herab, der Alte schloß die große Haupttür des Schlosses auf, V. schlüpfte geschickt hindurch; nun begab er sich nach dem Stall, und nachdem er zu V.s tiefem Erstaunen den Armleuchter so geschickt hingestellt hatte, daß das ganze Gebäude genugsam erhellt wurde ohne irgendeine Gefahr, holte er Sattel und Zeug herbei und rüstete mit großer Sorglichkeit, den Gurt fest —, die Steigbügel hinaufschnallend, ein Pferd aus, das er losgebunden von der Krippe. Nachdem er noch ein Büschel Haare über den Stirnriemen weg durch die Hand gezogen, nahm er, mit der Zunge schnalzend und mit der einen Hand ihm den Hals klopfend, das Pferd beim Zügel und führte es heraus. Draußen im Hofe blieb er einige Sekunden stehen in der Stellung, als erhalte er Befehle, die er kopfnickend auszuführen versprach. Dann führte er das Pferd zurück in den Stall, sattelte es wieder ab und band es an die Krippe. Nun nahm er den Armleuchter, verschloß den Stall, kehrte in das Schloß zurück und verschwand endlich in sein Zimmer, das er sorgfältig verriegelte. V. fühlte sich von diesem Auftritt im Innersten ergriffen, die Ahnung einer entsetzlichen Tat erhob sich vor ihm wie ein schwarzes höllisches Gespenst, das ihn nicht mehr verließ. Ganz erfüllt von der bedrohlichen Lage seines Schützlings, glaubte er wenigstens das, was er gesehen, nützen zu müssen zu seinem Besten. Andern Tages, es wollte schon die Dämmerung einbrechen, kam Daniel in sein Zimmer, um irgendeine sich auf den Hausstand beziehende Anweisung einzuholen. Da faßte ihn V. bei beiden Armen und fing an, indem er ihn zutraulich auf den Sessel niederdrückte: „Höre, alter Freund Daniel! lange habe ich dich fragen wollen, was hältst du denn von dem verworrenen Kram, den uns Huberts sonderbares Testament über den Hals gebracht hat? – Glaubst du denn wohl, daß der junge Mensch wirklich Wolfgangs in rechtsgültiger Ehe erzeugter Sohn ist?” Der Alte, sich über die Lehne des Stuhls wegbeugend und V.s starr auf ihn gerichteten Blicken ausweichend, rief mürrisch: „Pah! – er kann es sein; er kann es auch nicht sein. Was schiert’s mich, mag nun hier Herr werden, wer da will.” – „Aber ich meine”, fuhr V. fort, indem er dem Alten näher rückte und die Hand auf seine Schulter legte, „aber ich meine, da du des alten Freiherrn ganzes Vertrauen hattest, so verschwieg er dir gewiß nicht die Verhältnisse seiner Söhne. Er erzählte dir von dem Bündnis, das Wolfgang wider seinen Willen geschlossen?” – „Ich kann mich auf dergleichen gar nicht besinnen”, erwiderte der Alte, indem er auf ungezogene Art laut gähnte. – „Du bist schläfrig, Alter”, sprach V., „hast du vielleicht eine unruhige Nacht gehabt?” – „Daß ich nicht wüßte”, entgegnete der Alte frostig, „aber ich will nun gehen und das Abendessen bestellen.” Hiermit erhob er sich schwerfällig vom Stuhl, indem er sich den gekrümmten Rücken rieb und abermals, und zwar noch lauter, gähnte als zuvor. „Bleibe doch noch, Alter”, rief V., indem er ihn bei der Hand ergriff und zum Sitzen nötigen wollte, der Alte blieb aber vor dem Arbeitstisch stehen, auf den er sich mit beiden Händen stemmte, den Leib übergebogen nach V. hin und mürrisch fragend: „Nun, was soll’s denn, was schiert mich das Testament, was schiert mich der Streit um das Majorat” – „Davon”, fiel ihm V. in die Rede, „wollen wir auch gar nicht mehr sprechen: von ganz etwas anderm, lieber Daniel! – Du bist mürrisch, du gähnst, das alles zeugt von besonderer Abspannung, und nun möcht ich beinahe glauben, daß du es wirklich gewesen bist in dieser Nacht.” – „Was bin ich gewesen in dieser Nacht?” frug der Alte, in seiner Stellung verharrend. „Als ich”, sprach V. weiter, „gestern mitternacht dort oben in dem Kabinett des alten Herrn neben dem großen Saal saß, kamst du zur Türe herein, ganz starr und bleich, schrittest auf die zugemauerte Tür los, kratztest mit beiden Händen an der Mauer und stöhntest, als wenn du große Qualen empfändest. Bist du denn ein Nachtwandler, Daniel?” Der Alte sank zurück in den Stuhl, den ihm V. schnell unterschob. Er gab keinen Laut von sich, die tiefe Dämmerung ließ sein Gesicht nicht erkennen, V. bemerkte nur, daß er kurz Atem holte und mit den Zähnen klapperte. – „Ja”, fuhr V. nach kurzem Schweigen fort, „ja, es ist ein eignes Ding mit den Nachtwandlern. Andern Tages wissen sie von diesem sonderbaren Zustande, von allem, was sie wie in vollem Wachen begonnen haben, nicht das allermindeste.” – Daniel blieb still. – „Ähnliches”, sprach V. weiter, „wie gestern mit dir, habe ich schon erlebt. Ich hatte einen Freund, der stellte so wie du, trat der Vollmond ein, regelmäßig nächtliche Wanderungen an. Ja, manchmal setzte er sich hin und schrieb Briefe. Am merkwürdigsten war es aber, daß, fing ich an, ihm ganz leise ins Ohr zu flüstern, es mir bald gelang, ihn zum Sprechen zu bringen. Er antwortete gehörig auf alle Fragen, und selbst das, was er im Wachen sorglich verschwiegen haben würde, floß nun unwillkürlich, als könne er der Kraft nicht widerstehen, die auf ihn einwirkte, von seinen Lippen. – Der Teufel! ich glaube, verschwiege ein Mondsüchtiger irgendeine begangene Untat noch so lange, man könnte sie ihm abfragen in dem seltsamen Zustande. – Wohl dem, der ein reines Gewissen hat, wie wir beide, guter Daniel, wir können schon immer Nachtwandler sein, uns wird man kein Verbrechen abfragen. – Aber höre, Daniel, gewiß willst du herauf in den astronomischen Turm, wenn du so abscheulich an der zugemauerten Türe kratzest? – Du willst gewiß laborieren wie der alte Roderich? – Nun, das werd' ich dir nächstens abfragen!” – Der Alte hatte, während V. dieses sprach, immer stärker und stärker gezittert, jetzt flog sein ganzer Körper, von heillosem Krampf hin– und hergeworfen, und er brach aus in ein gellendes, unverständiges Geplapper. V. schellte die Diener herauf. Man brachte Lichter, der Alte ließ nicht nach, wie ein willkürlos bewegtes Automat hob man ihn auf und brachte ihn ins Bette. Nachdem beinahe eine Stunde dieser heillose Zustand gedauert, verfiel er in tiefer Ohnmacht ähnlichen Schlaf. Als er erwachte, verlangte er Wein zu trinken, und als man ihm diesen gereicht, trieb er den Diener, der bei ihm wachen wollte, fort und verschloß sich, wie gewöhnlich, in sein Zimmer. V. hatte wirklich beschlossen, den Versuch anzustellen, in dem Augenblick, als er davon gegen Daniel sprach, wiewohl er sich selbst gestehen mußte, einmal, daß Daniel, vielleicht erst jetzt von seiner Mondsucht unterrichtet, alles anwenden werde, ihm zu entgehen, dann aber, daß Geständnisse, in diesem Zustande abgelegt, eben nicht geeignet sein würden, darauf weiter fortzubauen. Demunerachtet begab er sich gegen Mitternacht in den Saal, hoffend, daß Daniel, wie es in dieser Krankheit geschieht, gezwungen werden würde, willkürlos zu handeln. Um Mitternacht erhob sich ein großer Lärm auf dem Hofe. V. hörte deutlich ein Fenster einschlagen, er eilte herab, und als er die Gänge durchschritt, wallte ihm ein stinkender Dampf entgegen, der, wie er bald gewahrte, aus dem geöffneten Zimmer des Hausverwalters herausquoll. Diesen brachte man eben todstarr herausgetragen, um ihn in einem andern Zimmer ins Bette zu legen. Um Mitternacht wurde ein Knecht, so erzählten die Diener, durch ein seltsames dumpfes Pochen geweckt, er glaubte, dem Alten sei etwas zugestoßen, und schickte sich an aufzustehen, um ihm zu Hülfe zu kommen, als der Wächter auf dem Hofe laut rief: „Feuer, Feuer! in der Stube des Herrn Verwalters brennt’s lichterloh!” – Auf dies Geschrei waren gleich mehrere Diener bei der Hand, aber alles Mühen, die Tür des Zimmers einzubrechen, blieb umsonst. Nun eilten sie heraus auf den Hof, aber der entschlossene Wächter hatte schon das Fenster des niedrigen, im Erdgeschosse befindlichen Zimmers eingeschlagen die brennenden Gardinen herabgerissen, worauf ein paar hineingegossene Eimer Wasser den Brand augenblicklich löschten. Den Hausverwalter fand man, mitten im Zimmer auf der Erde liegend, in tiefer Ohnmacht. Er hielt noch fest den Armleuchter in der Hand, dessen brennende Kerzen die Gardinen erfaßt und so das Feuer veranlaßt hatten. Brennende herabfallende Lappen hatten dem Alten die Augenbrauen und ein gut Teil Kopfhaare weggesengt. Bemerkte der Wächter nicht das Feuer, so hätte der Alte hülflos verbrennen müssen. Zu nicht geringer Verwunderung fanden die Diener, daß die Tür des Zimmers von innen durch zwei ganz neu angeschrobene Riegel, die noch den Abend vorher nicht dagewesen, verwahrt war. V. sah ein, daß der Alte sich hatte das Hinausschreiten aus dem Zimmer unmöglich machen wollen; widerstehen konnt er dem blinden Triebe nicht. Der Alte verfiel in eine ernste Krankheit; er sprach nicht, er nahm nur wenig Nahrung zu sich und starrte, wie festgeklammert von einem entsetzlichen Gedanken, mit Blicken, in denen sich der Tod malte, vor sich hin. V. glaubte, daß der Alte von dem Lager nicht erstehen werde. Alles, was sich für seinen Schützling tun ließ, hatte V. getan, er mußte ruhig den Erfolg abwarten und wollte deshalb nach K. zurück. Die Abreise war für den folgenden Morgen bestimmt. V. packte spätabends seine Skripturen zusammen, da fiel ihm ein kleines Paket in die Hände, welches ihm der Freiherr Hubert von R. versiegelt und mit der Aufschrift: „Nach Eröffnung meines Testaments zu lesen” zugestellt und das er unbegreiflicherweise noch nicht beobachtet hatte. Er war im Begriff, dieses Paket zu entsiegeln, als die Tür aufging und mit leisen gespenstischen Schritten Daniel hereintrat. Er legte eine schwarze Mappe, die er unter dem Arm trug, auf den Schreibtisch, dann mit einem tiefen Todesseufzer auf beide Knie sinkend, V.s Hände mit den seinen krampfhaft fassend, sprach er hohl und dumpf, wie aus tiefem Grabe: „Auf dem Schafott stürb' ich nicht gern! – der dort oben richtet!” – dann richtete er sich unter angstvollem Keuchen mühsam auf und verließ das Zimmer, wie er gekommen.