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Rückblende auf die Zeitenwende: Geschichtliche Entwicklungen und Vorreiter für unsere Überzeugungen

Dass diese Idee des kollektiven Lebens, der Selbstbestimmung, gerade Mitte des 20. Jahrhunderts nach der 1968er-Revolte entstand, lässt sich auf vielerlei politische, wirtschaftliche, soziale Entwicklungen dieser Zeit zurückführen. Ohne hier einen Geschichtsunterricht veranstalten zu wollen – nicht zuletzt, weil wir natürlich nur einen kurzen Ausschnitt darstellen können –, möchten wir ein wenig versuchen, diese Entwicklungen nachzuzeichnen und nachzuspüren, warum dieser Gedanke so wichtig geworden ist. Wir beziehen uns auf internationale Phänomene, können dabei aber leider nicht verhindern, dass wir einen westlich geprägten Blick darauf werfen. Viele der Rechte, Werte, Annehmlichkeiten, die im Zuge der hier genannten geschichtlichen Entwicklungen eingefordert und umgesetzt werden und wurden, können nur sehr wenige Menschen weltweit für sich beanspruchen – und das verurteilen wir zutiefst.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte oder: Die Gesellschaft im Wandel

Ganz eng mit den gesellschaftlichen Entwicklungen vor allem der letzten zwei Jahrhunderte verknüpft ist das Konzept der Freiheit. Das stellt für die Menschen eines der höchsten Güter dar und war doch für den Großteil der Menschheitsgeschichte nur ein Privileg von wenigen. Ganz allgemein waren unsere Vorfahren mehrheitlich und für lange Zeit in autoritären Herrschaftssystemen, Formen von Unterdrückung und Ausbeutung gefangen.

Für die Länder des Globalen Nordens begann sich das im Übergang in die Neuzeit zu ändern. Im Zuge der Aufklärung wurde gefordert, dass die Menschen sich aus ihrer Unmündigkeit befreien (nicht zuletzt durch Bildung). Als Meilensteine in dieser Entwicklung lassen sich die Entstehung des Bürgertums, die Trennung von Staat und Kirche sowie als bekannte und weitreichende Aufstände die Französische Revolution und die Arbeiterbewegung im Übergang zum 20. Jahrhundert nennen, außerdem nicht zuletzt die Hinwendung zu auf Demokratie basierenden politischen Systemen. Heute ist die persönliche Freiheit als Grundrecht in der Verfassung vieler Nationen (so auch in Österreich, Deutschland und der Schweiz) verankert.

Ein ewiger Streit: Gemeinwohl und Marktfreiheit

Dabei kollidieren die Vorstellungen von Freiheit in Bezug auf den Menschen und Freiheit in Bezug auf das Wirtschaftssystem. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert stehen sich zwei Rivalen auf der Weltbühne gegenüber: einerseits der Sozialismus, die Idee des Gemeinwohls, der Demokratie, auf der anderen Seite der Wirtschaftsliberalismus, der einen freien Wettbewerb fordert und davon überzeugt ist, dass die Marktwirtschaft keinen Beschränkungen unterliegen soll.

Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts halten sich die beiden in der Waage; mal überwiegt das eine, dann das andere, das Muster läuft immer ungefähr so ab: Nach einer Krise wird die Wirtschaft staatlich unterstützt, bis sie sich wieder erholt hat, es folgt eine Zeitspanne des Wohlstands, bevor die Freiheiten des Marktes sich wieder ins Negative umkehren und die nächste Krise ansteht. Dieses Wechselspiel können wir bis heute beobachten. Es bleibt die große Herausforderung von Politik und Wirtschaft, die zwei so gegensätzlichen Konzepte zusammenzuführen. Das lässt sich alleine aufgrund ihrer Wesensarten schon schwerlich umsetzen. Umso wichtiger, dass wir uns um alternative Formen einer gerechteren Politik und Wirtschaft (schau auf Seite 38) bemühen.

Der fortschreitende Kapitalismus und seine Auswirkungen

Dabei kam es in der fortschreitenden Liberalisierung der Marktwirtschaft zu einem paradoxen Phänomen. Der Bildungsstand, die Mobilität, der Zugang zu Konsumgütern wurden allgemein erhöht, traditionelle Klassenzugehörigkeiten lösten sich auf – das führte allerdings nicht zu dem wünschenswerten Effekt, dass es allen gleich gut geht. Im Gegenteil: Mit erhöhtem Bildungszugang wird Bildung abgewertet (weil es mehr Konkurrenz gibt), mit dem allgemein gestiegenen Wohlstand bleiben die Ungleichheiten in der Gesellschaft doch bestehen1. Was sich wiederum auf die ureigenste Eigenschaft des neuen Herrschers, des Geldes, zurückführen lässt: Es ist objektiv, allem gegenüber indifferent, und sorgt gerade so dafür, dass qualitative Unterschiede zwischen viel und wenig erst recht wirksam werden2. Die Folge: Gesellschaftliche Missstände werden als persönliches Versagen individualisiert. Was früher Klassenschicksal war und wogegen die Massen aufbegehrten, passiert nunmehr im Stillen, Privaten. Das ist auch heute so: Systemische Probleme werden dem*der Einzelnen aufoktroyiert. Sprich: Wer arbeitslos ist, ist selber schuld. Wer obdachlos ist, ist selber schuld. Kommt dir diese Argumentation irgendwie bekannt vor? Genau: Höchste Zeit, dass sich auch an unserer Denkweise etwas gravierend ändert.

Peace, Love, Happiness? Die 1968er-Bewegung und ihre Nachwirkungen

Mit diesen Hintergründen im Blick kann mensch auch die Ereignisse Mitte des 20. Jahrhunderts rund um die Gegenkulturen bewerten. Nach ihrer kurzen Blütezeit im Nachkriegs-Wiederaufbau beginnt die Wirtschaft wieder zu kriseln. Mit der Bildungsexpansion erlangen viel mehr Menschen eine höhere Ausbildung. Die Dekolonisation schreitet voran, der allgemeine Blick für Diskriminierung wird geschärft. Die beginnende Wirtschaftskrise, die vielen globalen Kriege und Auseinandersetzungen, die gesellschaftliche Ungleichheit fordern ihren Tribut und gipfeln in den heute grob als 1968er-Bewegung zusammengefassten weltweiten Protesten, die später in die sogenannten „Neuen Alternativbewegungen“ münden.

Die Ausrichtungen einzelner Initiativen und Gruppierungen unterscheiden sich dabei mal mehr, mal weniger stark. Manche richten sich primär gegen die Diskriminierung von marginalisierten Gruppen, andere wollen Aufmerksamkeit für ökologische Probleme und Umweltschutz schaffen und demonstrieren beispielsweise gegen die Atomenergie. Pazifistische Bewegungen wollen Kriegen und Gewalt eine Absage erteilen. Die von den USA ausgehende Hippiebewegung mit ihrer Antikriegs-, Antiautoritäts- und Antirassismus-Haltung leistete der Sexuellen Revolution Vorschub und beeinflusste nicht zuletzt die Mainstreamkultur sehr stark. Das Wohnen, steigende Mietpreise, Wohnungsnot, Leerstand und Spekulation wurden ebenfalls thematisiert; am bekanntesten wohl in der Hausbesetzer-Bewegung. Auch die gegenwärtige LGBTQ-Bewegung findet ihre Wurzeln in dieser Zeit. Auf nationaler Ebene lassen sich die Nachwirkungen der Öko-, Frauen- und Friedensbewegungen anhand von neuen Parteibildungen fernab der etablierten konservativen/christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien feststellen; so entstanden in den 1980er-Jahren in ganz Europa die neuen „grünen“ Parteien.

All diesen Bewegungen gemeinsam ist der Gedanke, das starre, konservative und als destruktiv empfundene Wirtschafts-, Werte- und Sozialsystem zu revolutionieren. Sie sind überzeugt, dass die wirtschaftliche Wachstumslogik nicht von Dauer sein kann, richten sich gegen die Ausbeutung unseres Planeten und gegen Unterdrückungen jeglicher Art. Dementsprechend können auch heutige Initiativen, die ökologisch motiviert sind oder die sich für Gleichheit und Gleichberechtigung einsetzen, oft noch auf diese Ursprungsbewegungen zurückgeführt werden.


– was heißt das eigentlich?


Unter dem Begriff „Kollektiv“ können gemeinhin verschiedene Gruppierungen von Menschen subsumiert werden. Seiner reinen Bedeutung nach kann es also in einem ersten Schritt schon einmal als Gegenentwurf zum „Individuum“ aufgefasst werden. Das ist auch insofern wichtig, als im Kollektiv nicht die individuellen, sondern die gemeinsamen Interessen im Vordergrund stehen.

In dem Verständnis, wie wir es hier nutzen, fallen darunter vor allem organisierte und handlungsorientierte Gemeinschaften. Sie finden mit einem bestimmten Vorhaben, etwa einem sozial, politisch oder ökologisch motivierten oder gemeinwohlorientierten Ziel, zusammen. Dabei gibt es verschiedene Rechts- und Organisationsformen (abhängig natürlich auch von der jeweiligen Rechtsordnung). Nonprofit-Kollektive können etwa als Vereine oder NGOs organisiert sein. Daneben finden sich auch erwerbswirtschaftlich orientierte Kollektive, die als Genossenschaften oder Kooperativen organisiert sein können.

Es gibt Grundprinzipien, an denen sich viele bzw. die meisten Kollektive orientieren. (Näheres zu unseren Visionen und Prinzipien erfährst du ab Seite 54.) Für einen ersten Überblick fassen wir sie dir hier zusammen:

SELBSTVERWALTUNG / SELBSTORGANISATION:

Kollektive werden von ihren Mitgliedern geführt – die im Falle von Betrieben auch gleichzeitig ihre Eigentümer*innen sind.

 

HIERARCHIEFREIHEIT:

Es gibt kein Oberhaupt und keine Untergebenen, keine*n Geschäftsführer*in und keine Angestellten, alle sind Mitglieder auf der gleichen Ebene.

BASISDEMOKRATIE:

Alle haben das gleiche Stimmrecht und entscheiden direkt (im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie, wie sie in vielen Staaten verankert ist, wobei Repräsentant*innen vom Volk gewählt werden).

KONSENSPRINZIP:

Entscheidungen werden in vollständigem Einklang getroffen. Also: Es wird so lange konzipiert und diskutiert, bis eine passende Lösung für alle gefunden wird (im Gegensatz zum Mehrheitsprinzip, nach dem die meisten öffentlichen Wahlen funktionieren und bei dem immer eine Minderheit auf der Strecke bleibt).

KONSENTPRINZIP:

Alternative zum Konsensprinzip. Bei Entscheidungen gibt es keinen schwerwiegenden oder begründeten Einwand. Widersprüche und Einwände sind Teil der Lösung. Abstimmungen verlaufen effizienter und es werden qualitativ bessere Entscheidungen getroffen.

SOLIDARITÄT:

Kollektivmitglieder stehen füreinander ein, verfolgen Gemeinwohl-Ziele, Kollektive unterstützen sich gegenseitig.

GLEICHHEIT:

Jeder Mensch ist gleich viel wert und hat dieselben Rechte. Immer und überall.

Der Kollektivgedanke heute: Herausforderungen und Lösungsansätze in der Alternativen Ökonomie

Die gegenwärtige Wirtschaftslage rückt die Bedeutsamkeit und die Chancen von Kollektiven immer mehr in den Vordergrund. Wirtschaftskrisen, Korruption, Klimakrise, eine unermesslich wachsende Arm-Reich-Schere und zunehmende prekäre Arbeitsverhältnisse lassen den Wunsch nach gerechteren, umweltschonenden Produktions- und Arbeitsverhältnissen, nach einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft wachsen.

Abseits von Profitgier und Konkurrenzkampf: Solidarische Ökonomie und Kollektivbetriebe

Und genau da kann der Kollektivgedanke, in einem größeren Umfang, als wir ihn uns bisher vorgestellt haben, greifen. Und zwar dann, wenn Kollektive als Organisationsformen verstanden werden, die das Potenzial haben, die Wirtschaft und das Arbeitsleben zu demokratisieren. Es gibt heute bereits vielerorts selbstorganisierte Kollektivbetriebe, die nach den Prinzipien der Hierarchiefreiheit, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit wirtschaften.

Ein wichtiger theoretischer Hintergrund in dieser Hinsicht ist die Idee einer „Alternativen Ökonomie“ bzw. „Solidarischen Ökonomie“. Im Gegensatz zum vorherrschenden privatwirtschaftlich-industriellen Wirtschaftsmodell, das auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, befürworten Kollektive kleiner strukturierte, selbstorganisierte Unternehmensformen, die auf gemeinsamem Eigentum und einem egalitären Gehaltssystem basieren. Damit verbunden sind z. B. die Stärkung lokaler Wirtschaftskreisläufe und eines regionalen Absatzmarktes sowie teilweise auch ein Fokus auf umweltfreundliche Produktionsweisen.

Wenn ein Unternehmen statt einem*einer Eigentümer*in allen gehört, wenn alle die Gewinne teilen und die Risiken gemeinsam tragen, wenn Entscheidungsprozesse gleichberechtigt und im Konsens erfolgen – das hat enormes Potenzial.

Ein erfolgreiches Beispiel für die Umsetzung von Solidarischer Ökonomie stellt beispielsweise Brasilien dar. Als Staatssekretär für Solidarische Ökonomie half der Ökonom Paul Singer3 dabei, diese umzusetzen. Nach einer massiven Wirtschaftskrise in den 1980er-Jahren drohten viele privat geführte Unternehmen in Konkurs zu gehen. Indem sie in kollektiv verwaltete Genossenschaften, in denen die Mitarbeiter*innen gleichzeitig Eigentümer*innen sind, überführt wurden, hatten sie eine Chance, zu überleben.

Diese Praxis der Umwandlung von Betrieben in Genossenschaften gibt es nach wie vor, und sie wird von staatlicher und gewerkschaftlicher Seite unterstützt. Dabei stehen die einzelnen Genossenschaften nicht in Konkurrenz, sondern kooperieren miteinander. Zusätzlich wurden zahlreiche Gemeindebanken gegründet, die genauso im Besitz der Einwohner*innen stehen. Mithilfe eigener Währungen wird versucht, das Geld in regionalen Wirtschaftskreisläufen zu halten. Das Beispiel von Brasilien zeigt, dass eine solche Herangehensweise eine große Chance zur Bekämpfung von Armut bietet.

Teilen, verschenken, weitergeben – statt verschwenden: die Sharing Economy

Im Allgemeinen steigt die Zahl von solidarisch motivierten Projekten und Initiativen der sogenannten „Sharing Economy“ in den letzten Jahren erfreulicherweise enorm an. Tauschbörsen und sogenannte „Umsonstläden“ ermöglichen es, fernab eines Gedankens der Profitmaximierung, dass Menschen ihre nicht mehr benötigten Gegenstände abgeben und andere darin wiederum Nützliches für sich entdecken können. Das hat den zusätzlichen Effekt, dass einem Überkonsum und einer Verschwendung entgegengewirkt werden kann.

Auf einem ähnlichen Prinzip beruht das „Foodsharing“, bei dem nicht mehr gebrauchte Lebensmittel getauscht und weitergegeben werden. Einen Kooperationsgedanken verfolgen auch Projekte der „Solidarischen Landwirtschaft“, in denen sich Abnehmer*innen schon im Vorhinein finanziell beteiligen, sodass der Unterhalt der Produzent*innen gesichert ist (auch wir haben das einmal probiert – schau auf Seite 123). In „FoodCoops“ werden kollektiv und selbstverwaltet Lebensmittel für eine größere Gemeinschaft beschafft, oft in Kooperation mit lokalen Landwirtschaftsbetrieben oder Gemeinschaftsgärten (eine solche haben wir auch bei uns zuhause initiiert – mehr dazu erfährst du auf Seite 252). Das sind allesamt enorm wichtige und zukunftsweisende Projekte. Wir laden alle dazu ein, in solche Kooperativen hineinzuschnuppern, sich an dem einen oder anderen Projekt zu beteiligen. Du wirst sehen: Es macht Spaß, sich mit anderen zu vernetzen, deine Wertschätzung gegenüber Lebensmitteln wird spürbar ansteigen. Und nicht zuletzt macht es auch glücklich, zu wissen, woher diese stammen, und einen Beitrag für die Umwelt geleistet zu haben.


› Gemeinsam geht alles besser.

Lass uns zusammenziehen: kollektives Wohnen

Eine besondere Form des Kollektivs möchten wir hier natürlich ebenfalls noch vorstellen: das kollektive Wohnen. Der Gedanke, unabhängig von familiären oder religiösen Banden gemeinsam zu wohnen, ist noch nicht so alt.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich die Biographien der Menschen signifikant verändert, vor allem, da sich die Ausbildungsphase zunehmend verlängerte. Und was macht mensch als erwachsener Mensch ohne festes Einkommen? Genau: Mensch macht sich auf die Suche nach einer (kostengünstigen) Wohngemeinschaft (WG). Während sich WGs vor allem im studentischen Milieu seit den 1960er- und 1970er-Jahren immer mehr etablierten, gibt es heute alle möglichen Formen des Zusammenlebens unter einem Dach. Menschen können sich aus unterschiedlichsten Gründen dazu entscheiden, gemeinsam zu wohnen. Als spezifische Formen können das Generationenwohnen, Senioren-WGs, betreutes Wohnen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder auch sozialpädagogische Wohngemeinschaften genannt werden.

Abgesehen von der unterschiedlichen Zusammensetzung der Bewohner*innen unterscheiden sich solche WGs ansonsten meist nicht von „klassischen“ Wohn- bzw. Mietverhältnissen. Soll heißen: Es gibt eine Wohnung oder ein Haus, das bestimmten Eigentümer*innen gehört, die den Wohnraum wiederum an die Bewohner*innen zur Miete oder zum Kauf stellen. Was aber wäre, wenn sich auch hier die Besitzverhältnisse ändern würden?

Wenig Platz, hohe Kosten: die Auswüchse des heutigen Immobilienmarktes

Wohnraum ist begrenzt, das Bevölkerungswachstum hält an. Wohnungsmieten und Baukosten steigen. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist erschreckend: auf der einen Seite tausendfach leerstehende Wohnungen, auf der anderen Seite kostspielige Immobilienprojekte (in die sich noch dazu häufig spekulative Investor*innen einbringen), durch die der Wohnraum immer weiter verknappt wird und die später zu unvorstellbaren Preisen feilgeboten werden. Wo bleibt das leistbare Wohnen, wo bleiben Einschränkungen seitens der Stadt- und Gemeindepolitik?

Daneben findet eine zunehmende Anonymisierung in den wachsenden (Groß-)Städten statt. Immer mehr Menschen leben (unfreiwillig) in Singlehaushalten, was psychische Erkrankungen und Vereinsamung begünstigen kann.

Für ein solidarisches und selbstbestimmtes Miteinander: gemeinschaftliche Wohnprojekte

Inmitten dieser Entwicklungen wird der Ruf nach alternativen und gemeinschaftlichen Wohnprojekten laut. Und solche entstehen in den letzten Jahren immer mehr. Dabei unterscheiden sich die Modelle je nach Finanzierung, Einbringung des*der Einzelnen in das Projekt sowie die grundsätzliche Ausrichtung.

Als Überbegriffe werden häufig „Gemeinschaftliches Wohnprojekt“ oder Cohousing verwendet. Im Vordergrund dabei steht die Idee, Wohnraum möglichst nachbarschaftlich zu gestalten, zahlreiche Orte der Begegnung zu schaffen und vor allem: ihn selbst zu verwalten. Dahinter steht eine Interessengruppe von Bewohner*innen, die meist schon vor dem Bezug der neu oder umzubauenden oder zu sanierenden Räumlichkeiten existiert und die gemeinsame Zielvorstellungen formuliert. Die Gruppe wirkt partizipativ in der Planung und Umsetzung mit, z. B. als Bauherrengemeinschaft (mehr dazu in den folgenden Absätzen) oder in Kooperation mit Bauträgern oder Genossenschaften.

Wir gestalten mit: partizipative Planung und Umsetzung

Wie genau das Wohnprojekt entsteht, hängt davon ab, ob sich die künftigen Bewohner*innen als Eigentümer*innen zusammenschließen oder ob das Projekt mithilfe einer Dachorganisation für solidarisches Wohnen, wie beispielsweise in Deutschland dem Mietshäusersyndikat oder in Österreich dem Kollektiv habiTAT, umgesetzt wird.

In ersterem Fall spricht mensch auch von einer „Bauherrengemeinschaft“ oder „Baugemeinschaft“, da die künftigen Bewohner*innen als Bauherren und -frauen die Gestaltung von Anfang an maßgeblich beeinflussen. Ihre Wünsche und Interessen fließen in die Planung, in den Bau oder die Sanierung des Gebäudes mit ein. So kann z. B. auch durch Initiative der Gemeinschaft eine nachhaltige Bauweise mit Stromquellen aus erneuerbarer Energie umgesetzt werden. Im Gegensatz dazu steht die übliche Praxis, nicht zuletzt vor allem bei Bauprojekten mit mehreren Parteien: Ein Bauträger kauft oder baut die Liegenschaften, bevor die einzelnen Einheiten weiterverkauft werden.

Andererseits kann, wie oben beschrieben, sich die Interessengruppe mit einer solidarischen Dachorganisation zusammenschließen, um gemeinsam das Wohnprojekt zu realisieren. Klingt spannend? Ist es auch. Diese Kollektive zeigen, wie Wohnen abseits von Profitgier und Spekulation funktionieren kann: solidarisch, gemeinschaftlich und vor allem mit leistbaren Mieten. Ein paar solcher Beispiele zeigen wir dir ab Seite 180.