Auf leisen Sohlen

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Otto nickte. «Natürlich. Aber was, wenn nun einer sagt: ‹Erst geht er mit der Frau ins Bett und dann bringt er sie um›?»



«Dann ist das Sache deiner Mordkommission.»



Gertrud unterbrach die beiden. «Genug mit euren Albereien! Wir gehen jetzt in den Zoo.»



Seit der Spaltung Berlins besaßen beide Stadthälften ihren eigenen Zoo: West-Berlin den Zoologischen Garten, eröffnet 1844, und Ost-Berlin seit 1955 den Tierpark am Schloss Friedrichsfelde.



Der Zoo West hatte seinen Haupteingang am Hardenbergplatz, und dort trafen sich zur abgesprochenen Zeit fünf Mitglieder der Familie Kappe: Otto mit seiner Frau Gertrud und ihrem Sohn Peter und Hermann mit seiner Frau Klara. Deren drei Kinder waren nicht dabei. Margarete war gerade verreist, Hartmut lebte in Ost-Berlin, und Karl-Heinz, das schwarze Schaf der Familie, war irgendwo untergetaucht. Dann gab es da noch Hermann Kappes Bruder Oskar mit seiner Frau und seine Schwester Pauline mit den Ihren. Da den Überblick zu behalten fand Peter enorm schwierig.



Sonderlich spannend fanden die fünf den Zoo nicht, aber ihn zu besuchen war ebenso ein Berliner Ritual wie die alljährliche Dampferfahrt.



Hermann erinnerte sich an einen Zoobesuch mit seinem Sohn Hartmut, als der noch klein gewesen war. Heute war Hartmut mit einem Kontaktverbot belegt, weil er in Ost-Berlin bei der MUK arbeitete, der Morduntersuchungskommission. «Hartmut hat damals gefragt: ‹Papa, kaufst du mir einen Elefanten?› Und als ich nachgefragt habe, wo wir das viele Futter für das Tier hernehmen sollten, hat Hartmut geantwortet: ‹Kein Problem, da steht doch

Füttern verboten

.›»



Otto seufzte. «Schade, dass der Journalist vom

Telegraf

 nicht mit ihm sprechen konnte. Das hätte so schön zur Überschrift gepasst:

Die Verbrecherjagd liegt den Kappes im Blut



Siegfried Heideblick verfluchte alle Montage. Der Rhythmuswechsel lag ihm gar nicht. Jeden Sonntag schlief er bis in die Puppen, und dann musste er montags um sechs Uhr aufstehen. Denn seitdem sein Vater Möbel-Heideblick gegründet hatte, hieß es: Der Chef hat als Erster im Geschäft zu sein. Dieses Prinzip hatte zur Folge, dass er sich auch nicht von Olaf Nonnenfürst, seinem Handelsvertreter und Fahrer, abholen lassen konnte. Ute musste noch eher in der Schule sein als er in seiner Firma, und so stand sie schon abmarschbereit im Flur, als er sich an den Frühstückstisch setzen wollte. Er küsste und umarmte sie. «Einen schönen Tag wünsche ich dir!»



Als Ute gegangen war, schmierte er sich sein Paech-Brot. Er beneidete den Hersteller um die wunderbaren Werbesprüche, von denen er die meisten auswendig kannte. Besonders angetan hatte es ihm dieser:





Schinken nützt nichts, Wurst und Ei,







fehlt das Paech-Brot dir dabei.







Moral: Dem Fleisch verfallen oder nicht







auf Paech-Brot leiste nie Verzicht.





Warum nur brachte ihm die Reklame für seine Möbel nicht auch so einen Erfolg ein? Er stellte sich vor, in der Hochbahn zu stehen und dort über den Sitzen statt der Sprüche von Paech die seiner Firma zu lesen. Er brauchte unbedingt einen Werbefachmann! Aber den konnte er nicht bezahlen.



Heideblick stand auf, knallte die Wohnungstür hinter sich zu, schloss ab und lief zur Hobrechtstraße hinunter. Das Schild mit dem Namen

Lenaustraße

 ärgerte ihn. Das war doch idiotisch, eine Straße in Neukölln, wo niemand Gedichte las, nach einem Dichter zu benennen, dazu noch nach einem österreichischen! Ringsum hießen die Straßen nach Berliner und Rixdorfer Kommunalpolitikern, etwa Hobrecht, Bürkner, Schinke, Pflüger und Sander. Warum dann ausgerechnet Lenau? In Gedanken hörte er Ute rufen: «Worüber du dich alles aufregen kannst!»



Er überquerte die Sonnenallee und musste einen Straßenbahnzug vorbeilassen. Die 95 fuhr noch, während die 3, die in der Hobrechtstraße zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee einen Halt gehabt hatte, schon eingestellt worden war. In einer Nische der Karl-Marx-Straße lag die Albert-Schweitzer-Schule, gehalten in den Farben des Grauen Klosters. Wie gern hätte er hier sein Abitur gemacht! Doch sein Vater hatte das nicht zugelassen. «Du wirst Tischler, sonst kannst du Möbel-Heideblick nicht richtig führen!», hatte der bestimmt. Die Karl-Marx-Straße … Dass die Neuköllner ihre gute alte Berliner Straße und die Bergstraße nach diesem Kommunisten benannt hatten, empörte Siegfried Heideblick Tag für Tag. Ohne Karl Marx keine DDR – und ohne DDR keine Mauer. Also musste sie seiner Meinung nach unbedingt rückbenannt werden.



Heideblick ging die Karl-Marx-Straße in Richtung Rathaus Neukölln hinauf. Seine Firma lag zwischen der Reuter- und der Weichselstraße. Ein blassgelber Straßenbahnzug der Linie 47 kam ihm entgegen. Er betrat sein Geschäft durch den Eingang im Hausflur und nahm erst einmal hinter seinem Schreibtisch Platz. Wenn seine Angestellten nun nacheinander eintrudelten, sollten sie glauben, er hätte die ganz Nacht hier gesessen und gearbeitet.



Als Erster erschien Olaf Nonnenfürst, ein rundlicher Typ, der wie ein Krapfen aussah.



«Guten Morgen, Chef!», rief er beim Eintreten. «Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?»



«Nein. Wieso?»



«Dann halten Sie sich mal fest!» Nonnenfürst warf ihm eine

Morgenpost

 auf den Schreibtisch. «Ihr Onkel ist gestern in seiner Firma niedergestochen worden.»



Heideblick war etwas verwirrt. «Welcher Onkel? Ich habe mehrere.»



«Na, der Pillendreher, dieser Ludwig Wittenbeck.»



Heideblick sprang auf. «Was?» Er nahm die Zeitung zur Hand, aber den drei Zeilen war nicht viel zu entnehmen. Also griff er nach seinem Telefonbuch, riss den Hörer von der Gabel und rief in Kladow an, dann versuchte er es in der Kaubstraße. «Da hebt keiner ab.»



«Na, wenn er im Krankenhaus liegt oder vielleicht schon …» Nonnenfürst brach erschrocken ab.



«… tot ist …», vollendete Heideblick den Halbsatz. «Mein Gott! Wir rufen jetzt mal bei allen Krankenhäusern ringsum an, in Kreuzberg, Schöneberg und Neukölln, und fragen nach ihm.»



Sie brauchten keine fünf Minuten, dann hatten sie herausgefunden, dass Ludwig Wittenbeck im Urban-Krankenhaus lag.



«Los, Nonnenfürst, holen Sie den Wagen, und fahren Sie mich hin! Bitte!»



Über die Sonnenallee und die Urbanstraße waren sie in zehn Minuten am Ziel. Das Krankenhaus Am Urban war in offener Pavillonbauweise errichtet und 1890 eingeweiht worden. Ein zentraler Neubau war schon geplant, aber noch musste sich Heideblick mühsam durchfragen, ehe er seinen Onkel in einem der gelben Backsteinbauten gefunden hatte. «574 Betten ham wa hier, Meesta, und ick kann ma unmöjlich alle merken, die se bei uns einliefan tun.»



«Gott, du Armer!», rief Heideblick, als er endlich auf dem Bettrand seines Onkels saß. Freie Stühle gab es nicht mehr, denn alle drei Zimmernachbarn Wittenbecks hatten ebenfalls Besuch. «Wo hat dich denn dieser Kerl getroffen?»



Wittenbeck hob seine Bettdecke ein wenig an. «Zum Glück nur hier an der rechten Seite in den Bauch. Galle und Leber sind aber nicht verletzt. Es sah anfangs schlimmer aus, als es tatsächlich ist. Ich habe wirklich gedacht, dass ich sterben werde.»



Heideblick strich ihm über die Hand. «Das ist ja schrecklich.»



«Nein, das ist gar nicht schrecklich. Ich wäre gern gestorben.»



«Du kannst doch Tante Gisela nicht allein lassen!», rief Heideblick.



Der Onkel hatte plötzlich Tränen in den Augen. «Die hat mich doch verlassen und ist auf und davon. Darum wäre ich ja am liebsten tot. Die Einsamkeit da draußen in Kladow, und in der Kaubstraße ist es auch noch so leer – das alles ertrage ich nicht. Schade, dass der Kerl mich nicht richtig getroffen hat, dann wäre ich wenigstens von allem erlöst.»



Uwe Dreetz hatte den Tresor der Pulmo Sanitatem Berlin in den Höfen am Südstern ohne große Mühe und ohne Schneidbrenner knacken können und neben einem Bündel grüner Banknoten auch einige Schmuckstücke erbeutet – Ringe, Armbänder, Broschen. Offenbar hatte dieser Wittenbeck geglaubt, sie seien in seiner Firma sicherer als bei ihm in Kladow oder in seinem neuen Haus in der Kaubstraße.



Beim ersten Rendezvous war es Dreetz gelungen, Gisela Wittenbeck ein paar Schlüssel zu entwenden, um Nachschlüssel anfertigen zu lassen. Darunter waren die für die Firma ihres Mannes und für die Villen in Kladow und in der Kaubstraße. Wo genau sich diese dort befand, wusste er noch nicht, aber das ließ sich sicher irgendwie herausfinden. Noch würde Wittenbeck ja einige Zeit im Krankenhaus verbringen müssen. Dreetz verfluchte sich, weil er ihn niedergestochen hatte. Das war im reinen Affekt geschehen. Er war in Panik geraten, weil er sich in Gedanken schon wieder im Knast gesehen hatte. Er hatte nicht vorgehabt, Wittenbeck zu attackieren oder gar zu ermorden. Denn er wusste, dass die Aufklärungsquote bei Morden bei nahezu hundert Prozent lag, und er wollte den Rest seines Lebens nicht in der JVA Tegel verbringen.



Dreetz nahm sich eine Taxe, um zu seinem Hehler zu fahren. Der Schmuck musste verhökert werden. Wahrscheinlich gehörte er Gisela Wittenbeck. Er überlegte, ob es klug war, sie heute Abend wiederzusehen. Oder sollte er besser untertauchen?







DREI





OBERKOMMISSAR OTTO KAPPE kam es manchmal so vor, als wäre er ein Feuerwehrmann. Dieser Beruf hatte mit dem seinen nicht nur die Angst um andere Menschen, das Riskieren des eigenen Lebens, sondern auch das Warten auf den nächsten Einsatz gemeinsam. Und was machte man in dieser Zeit, in der man auf einen Einsatz wartete? Die Feuerwehrleute übten den Einsatz mit Löschfahrzeugen, den richtigen Umgang mit Motorsägen und Schneidewerkzeugen. Aber was taten Kriminalbeamte? Die besuchten Fortbildungsveranstaltungen, gingen auf den Schießstand und arbeiteten ungelöste Fälle auf. Manchmal aber langweilte sich Otto Kappe auch. Dann spazierte er durch die anderen Abteilungen in der Gothaer Straße, um Kollegen zu treffen und ein wenig mit ihnen zu plaudern. Mitte September lief ihm auch der Kollege Friedhelm Dörner vom Dezernat 22 des LKA 2, sonstige Vermögens- und Fälschungsdelikte über den Weg. Man kannte sich vom Faustball her. Dörner war in Begleitung eines Mannes etwa seines Alters, der Kappe irgendwie bekannt vorkam. Wahrscheinlich hatte er dessen Foto schon einmal in der Zeitung gesehen.

 



«Otto, darf ich dir Werner Brink vorstellen?»



«Ah!», rief Kappe, um sofort hinzuzufügen: «

Es geschah in Berlin

.» Das war der Name der legendären Krimireihe, die der RIAS seit dem Februar 1951 ausstrahlte und für die Werner Brink jede Folge schrieb, Monat für Monat. «Ich habe gerade die Sendung gehört, in der ein Gauner durch Berliner Gaststätten zieht, naiven Zeitgenossen angeblich todsichere Tipps für Pferderennen auf der Trabrennbahn Mariendorf andreht, die einzig und allein seiner Fantasie entspringen, und ihnen auch gleich das Geld für die Wette abnimmt. Sehr schön! Auch, dass unser fiktiver Kollege Kommissar Zett dem Kerl auf die Schliche kommt.»



Werner Brink bedankte sich für das Lob. «Das sind ja alles reale Fälle, es heißt ja im Abspann auch: ‹In Zusammenarbeit mit der Berliner Kriminalpolizei.›»



«Teilweise sind die Fälle so aktuell», fügte Dörner hinzu, «dass die Hörer durch den Ansager dazu aufgefordert werden, der Polizei nach Möglichkeit bei der Aufklärung von noch unklaren Sachverhalten zu helfen.»



«Und jede Folge ist ein Straßenfeger. Nur …», Kappe seufzte hörbar, «… kommt unsere Mordkommission leider nie zu Ehren.»



«Tut mir leid, dass in unseren Geschichten niemals eine Leiche vorkommt», sagte Werner Brink. «Aber mir geht es um die alltägliche Kriminalität und das Berliner Milieu. Wie agieren die kleinen Ganoven, was treibt sie an? Wenn Sie das große Krimi-Ballyhoo wollen, dann müssen Sie sich

77 Sunset Strip, Auf der Flucht

 mit Richard Kimble oder

Mit Schirm, Charme und Melone

 ansehen.»



Der Kollege Dörner und Werner Brink zogen weiter, und Kappe fragte sich, wie er die Zeit bis zum Feierabend totschlagen sollte. Er blieb am Fenster stehen und sah auf die Straße hinunter, bevor er an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte.



Bald darauf traf Hans-Gert Galgenberg ein. Er kam etwas zu spät, denn er war gerade umgezogen und wohnte nun weit draußen in Steinstücken. Dort gab es günstig kleine Häuser zu kaufen, denn Steinstücken war eine West-Berliner Exklave in der DDR. Seit dem 13. August 1961 durften die Einwohner nicht mehr in die sie umgebenden Ortsteile Neubabelsberg, Babelsberg und Potsdam. West-Berlin war nun nur noch über einen Waldweg nach Kohlhasenbrück zu erreichen, wobei man aber zwei Grenzübergänge passieren musste. Nachdem es eine Reihe von Fluchtversuchen aus der DDR gegeben hatte, war Steinstücken noch stärker mit Mauer und Stacheldraht abgesichert worden als das übrige West-Berlin. Wer wollte hier schon wohnen?



Galgenberg pflegte nun zu sagen: «Im Jahre 2061 werden wir die Wiedervereinigung Deutschlands feiern, und meine Ururenkel werden mir ein Denkmal dafür setzen, dass ich ihnen ein so schönes Stück Land vererbt habe.»



«Und bis dahin halten dich die Grenzkontrollen so lange auf, dass du nicht pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen kannst», scherzte Kappe.



Galgenberg schüttelte den Kopf. «Nein, ich habe noch eine Weile an der Bahnstrecke nach Potsdam gestanden und auf einen Postzug gewartet. Anders können doch arme Beamte wie wir nicht zu ein bisschen Geld kommen.» Er spielte damit auf den spektakulären Überfall auf einen Postzug an der Strecke Glasgow—London an, der sich vor gut einem Monat, am 8. August 1961 ereignet hatte. «Ein paar Millionen D-Mark könnte ich auch ganz gut gebrauchen.»



Kappe lachte. «Wenn du mir ein bisschen davon abgibst, verpfeife ich dich auch nicht.»



Ihre Witzeleien wurden unterbrochen, denn die Kollegen Gerhard Piossek und Günter Kynast betraten das Büro. Jürgen Rückert war momentan krank und deshalb nicht im Dienst. Galgenberg winkte ihnen nur kurz zu und verschwand dann in Richtung Kantine.



Otto Kappe wandte sich den beiden Kollegen zu. «Was verschafft mir die Ehre?»



«Bist du nicht gerade alte Fälle durchgegangen?», fragte Piossek. «Ist dir ein Fall mit einen Einbrecher in Erinnerung geblieben, der Menschen niedersticht, die ihn auf frischer Tat ertappen?»



«Es geht um den Wittenbeck, den Pharmafabrikanten, der einen Einbrecher überrascht hat und von dem mit einem Messer attackiert wurde», ergänzte Kynast. «Wir sollen uns um den Fall kümmern.»



Kappe dachte nach. «Nein, mir ist kein ähnlicher Fall untergekommen, der noch ungeklärt ist. Allerdings scheint es mir für einen Einbrecher eher untypisch, dass er jemanden niedersticht. Normalerweise suchen die doch das Weite, wenn sie bei einem Einbruch überrascht werden. Schließlich wissen solche Kerle, dass sie für einen Einbruchdiebstahl maximal ein Jahr bekommen, für Totschlag aber leicht zehn Jahre.»



«Vermutlich ist er in Panik geraten und hat deshalb zugestochen», merkte Piossek an.



«Und wenn nun jemand, aus welchem Grund auch immer, diesen Wittenbeck ins Jenseits schicken wollte und dabei einen Einbruch nur vorgetäuscht hat?», fragte Kynast.



«Gibt es denn irgendwelche Spuren?», erkundigte sich Kappe.



Piossek zuckte mit den Schultern. «Keine verwertbaren Fingerabdrücke. Und auch keine aufgehebelten Fenster oder Türen. Der Kerl scheint Schlüssel gehabt zu haben.»



«Was für meine These sprechen könnte!», rief Kynast.



«Hm …» Otto Kappe überlegte einen Moment. «Gut, forschen wir weiter nach.»



Gisela Wittenbeck war gelernte Medizinisch-technische Radiologieassistentin, hatte aber nach der Heirat ihren Beruf aufgegeben, weil ihr Mann Angst gehabt hatte, die Nähe zu derart gefährlichen Strahlen könnte sie auf Dauer schädigen.



Für den heutigen Tag hatte sie sich eigentlich vorgenommen, sich in den Krankenhäusern und radiologischen Praxen in der Nähe ihrer Pension umzuhören, ob es dort eine freie Stelle gab. Doch von Minute zu Minute wurde sie unsicherer, ob das eine gute Idee war. Denn sie konnte sich schon vorstellen, mit was für einer Antwort sie rechnen musste: «Liebe Frau Wittenbeck, Sie waren fünfzehn Jahre lang nicht mehr in Ihrem Beruf tätig, und in dieser Zeit haben sich die Röntgendiagnostik, die Strahlentherapie und die Nuklearmedizin stark weiterentwickelt. Wir haben deshalb leider keine Verwendung für Sie

.

»



Gisela Wittenbeck konnte nichts aufmuntern, und sie lag am 18. September den ganzen Vormittag über nur auf dem Bett und starrte gegen die Decke. Im Radio berichteten sie unaufhörlich von der Hochzeit des Jahres. Der griechische König Konstantin II. und Prinzessin Anne-Marie von Dänemark heirateten in Athen. Sich das vorzustellen war Gift für ihre Seele, da sie selbst doch so unglücklich war.



Plötzlich klopfte jemand an ihre Tür. Sie rang sich zu einem mehr gehauchten als hörbar gesprochenen «Ja bitte!» durch.



Es war Gerda Groß, die Pensionsbesitzerin, die mit ihr das «Resi» besucht hatte. «Frau Wittenbeck, ist etwas mit Ihnen nicht in Ordnung?»



«Was soll mit mir schon sein? Kommen Sie doch herein!» Sie schaffte es, sich wenigstens auf die Bettkante zu setzen.



Gerda Groß trat ein. «Sie sehen ziemlich blass aus, gehen Sie doch mal ein bisschen an die frische Luft. In ein paar Minuten sind Sie im Preußenpark. Waren Sie denn eigentlich schon bei der Polizei, um diesen Uwe Dreetz anzuzeigen? Der ist doch garantiert ein Hochstapler, ein Gigolo.»



Gisela Wittenbeck winkte ab. «Ach, und wenn schon! Das kann ihm doch sowieso keiner nachweisen.»



Die Pensionsbesitzerin lachte. «Na, obwohl er Sie hat sitzenlassen, haben Sie sich doch in den Kerl verguckt, was?»



Gisela Wittenbeck wandte sich ab. Frau Groß hatte recht, aber sie wollte sich das nicht recht eingestehen. «Immer habe ich Pech mit den Männern. Uwe ist ein Betrüger, und mein Mann hat mich auch betrogen – mit unserer neuen Putzfrau, der Anita.» Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. «Immer muss alles kaputtgehen!»



Gerda Groß setzte sich neben sie, umarmte sie und begann mit ihrer Marlene-Dietrich-Stimme zu singen: «

Wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht, /Wenn an der nächsten Ecke schon ein Anderer steht …

» Das schien erst einmal zu helfen. Die Pensionsinhaberin stand wieder auf und wandte sich zur Tür. «Ich muss jetzt noch schnell zu meiner Mutter ins Krankenhaus, und wenn ich wieder zurück bin, gehen wir zusammen ins Kino. In Ordnung?»



«Ja.»



«In der Küche steht noch etwas Schokoladenpudding, davon können Sie gerne essen.»



Gisela Wittenbeck wartete noch, bis Gerda Groß die Pension verlassen hatte, dann ging sie in die Küche, um nach dem Pudding zu sehen. Der stand noch auf dem Gasherd, der vier Kochfelder hatte. Wenn sie jetzt alle Hähne aufdrehte und kein Streichholz an die Brenner hielte, dann … Sie brauchte sich nur bequem auf den Stuhl setzen und warten, bis der Tod sie von allen Qualen erlöste.



Das Wintersemester 1964 / 65 hatte noch nicht begonnen, warf aber schon seine Schatten voraus. Peter Kappe hatte sich zu einem Vortrag über die

Geschichte und Praxis der Gerichtsmedizin

 angemeldet, obwohl ihn der Zusatz

mit Besuchen in der Pathologie

 eher abschreckte als anzog.



Es mussten die Gene seines Vaters und vielleicht auch die seines Großonkels Hermann sein, aber die Rechtspsychologie faszinierte ihn immer mehr. Sie zerfiel in zwei Bereiche: die forensische Psychologie, die sich beispielsweise mit Gutachten bei Gerichtsverfahren beschäftigte, und die eigentliche Kriminalpsychologie, bei der es um die Entstehung von Kriminalität, um deren Aufdeckung und die Prävention dagegen ging, aber auch um die Behandlung von Straftätern.



Um sein Wissen etwas zu erweitern, wollte sich Peter Kappe nun diesen Vortrag der Nachbardisziplin zur

Geschichte und Praxis der Gerichtsmedizin

 anhören. Wer daran teilnehmen wollte, musste sich auf eine kleine innerstädtische Reise einstellen. Der theoretische Teil begann in der Hittorfstraße 18 in Dahlem, in einer Villa, die man dem Lehrstuhl für gerichtliche und soziale Medizin der Freien Universität Berlin überlassen hatte.



Ein Doktor Klein begrüßte die rund zwanzig Zuhörer. «Ich heiße Sie in unseren heiligen Hallen herzlich willkommen! Die Gerichtsmedizin hat in Berlin eine lange Tradition. Gerichtsärztliche Tätigkeiten können wir bereits für das 17. Jahrhundert nachweisen. Später wurde das sogenannte Stadtphysicat gegründet. Die ersten forensisch-medizinischen Vorlesungen fanden ab 1724 am Collegium medico-chirurgicum statt. Besonderes Interesse fanden damals Schusswunden. Für die Charité wurde 1811 das erste Berliner Leichenschauhaus errichtet. Ein Neubau an der Hannoverschen Straße 6 wurde dann 1886 fertiggestellt. Hier befanden sich nicht nur das Institut für Staatsarzneikunde, sondern auch das polizeiliche Leichenschauhaus und das Leichenkommissariat. Da die Hannoversche Straße heute in Ost-Berlin liegt, führen wir West-Berliner Gerichtsmediziner gerichtlich angeordnete Leichenöffnungen vorzugsweise in der Pathologie des Krankenhauses Moabit durch. Im nächsten Jahr bekommen wir aber ein neues Polizeiliches Leichenschauhaus in der Invalidenstraße. Ich bitte Sie also, mit dem eigenen Ableben noch ein wenig zu warten, damit Sie es bei der Obduktion auch wirklich feudal haben. Ehe wir uns nun an den Obduktionstisch in Moabit begeben, schnell noch etwas über den Unterschied zwischen einem Pathologen und einem Gerichtsmediziner. Verwechseln Sie die beiden bloß nicht! Ein Gerichtsmediziner wird Ihnen das nie verzeihen. Der Pathologe arbeitet in einem Teilgebiet der Medizin, die sich mit krankhaften und abnormen Vorgängen und Zuständen im Körper sowie mit deren Ursachen beschäftigt, der Gerichtsmediziner beurteilt, auf welche Weise der Tod eines Menschen eingetreten ist, und untersucht hierfür den Körper auf äußere Anzeichen von Gewalteinwirkungen, prüft Organe oder Gefäße auf Veränderungen und analysiert auch Blut-, Haar-, Speichel- und Organproben.»



Als Peter Kappe später den Sektionssaal im Krankenhaus Moabit betrat, wäre er um ein Haar umgekippt. Der Leichnam, der hier auf die Teilnehmer des Seminars wartete, war der eines Mannes von etwa sechzig Jahren. Der hatte schon einige Zeit in seiner Wohnung gelegen, bevor er gefunden worden war. Den Anblick des Toten hätte Peter Kappe noch ertragen können, so etwas kannte er ja aus Filmen – nicht aber den Geruch. Der war geradezu unerträglich. Peter Kappe lief zur Toilette, um sich zu übergeben. Als er sich wieder in die Nähe des Obduktionstisches wagte, war dem Gerichtsmediziner der Leichnam einer jüngeren Frau zur Untersuchung gebracht worden.

 



«Ich richte mein Augenmerk zuerst nach Befunden an der Leiche, die auf Unfall, Suizid, eine strafbare Handlung oder sonstige Gewalteinwirkung hindeuten», begann der Gerichtsmediziner. «Dazu gehören Verletzungszeichen, ungewöhnliche Injektionsmale, Erstickungszeichen, zum Beispiel punktförmige Blutungen in den Bindehäuten, Strommarken, Zeichen von Vergiftungen und die besondere Farbe, Form oder Lage der Totenflecke oder der Hautdruckstellen. Von alledem kann ich hier nichts finden. In unserem Fall haben wir es ganz offenbar mit einer selbst herbeigeführten Vergiftung durch Kohlenmonoxid zu tun. Kohlenmonoxid besetzt im Körper die Bindungsstellen für den lebenswichtigen Sauerstoff. Die Symptome der Kohlenstoffmonoxid-Vergiftung entstehen also im weiteren Sinne durch einen Sauerstoffmangel. Bei schwersten Vergiftungen kommt es zum Schock, zur Bewusstlosigkeit und zum Tod durch Überhitzung und Lähmung des Gehirns. Nur selten tritt eine kirschrote Verfärbung der Haut auf. Hellrote Totenflecke können aber auch vom Kältetod herrühren. Um das zu klären, mache ich einen Schnitt in den Oberschenkel der Toten. Ist die Muskulatur hellrot, handelt es sich um eine Kohlenstoffmonoxid-Vergiftung, ist sie dunkelrot, um einen Kältetod. Um ganz sicher zu sein, ob eine tödliche Gasvergiftung vorliegt, lassen wir im Labor die Konzentration des Kohlenmonoxid-Hämoglobins im Leichenblut bestimmen. Bei einer Kohlenmonoxid-Intoxikation ist der Anteil des Carboxyhämoglobins am gesamten Hämoglobin stark erhöht …»



Ludwig Wittenbeck sollte aus dem Krankenhaus entlassen werden. «Ruhen Sie sich aus, und genießen Sie die Natur!», hatte der Chefarzt bei der Verabschiedung gesagt, nachdem er in der Krankenakte gelesen hatte, dass sein Patient in Kladow wohnte.



«Aber ich werde Kladow in Kürze verlassen und in die Kaubstraße ziehen, sozusagen in die West-Berliner Innenstadt. Gekauft ist das Haus schon, es muss aber noch renoviert und neu eingerichtet werden. Bisher habe ich da nicht viel mehr als ein Sofa, einen Tisch und ein paar Stühle stehen, aber in die Selbitzer Straße will ich nicht mehr zurück.»



Eben noch hatte er den lebhaften Krankenhausalltag genossen, nun war er wieder mit einem monotonen Tagesablauf und dem Alleinsein konfrontiert. Er war müde. Plötzlich verspürte er unwillkürlich eine starke Sehnsucht nach seiner Ehefrau Gisela. Von seinem Neffen Siegfried hatte er inzwischen erfahren, dass sie in der Pension Groß in der Konstanzer Straße untergekommen war. Die Nummer fand er schnell im Telefonbuch. Ohne lange über das Für und Wider eines Anrufs nachzudenken, wählte er sie. Besetzt. Auch beim zweiten Mal hörte er nur das schnelle Tuten in der Leitung. Er fluchte. Der Drang, mit jemandem zu sprechen, war zu stark, als dass er den Hörer jetzt wieder aufgelegt hätte. So rief er bei seiner Firma an, denn die Nummer kannte er auswendig.



«Pulmo Sanitatem Berlin, Hövelhoff. Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?»



«Guten Tag, Frau Hövelhoff. Wittenbeck hier. Bitte verbinden Sie mich mit Herrn Suthfeld.»



«Schön, wieder von Ihnen zu hören, Chef. Haben Sie alles gut überstanden? Sind Sie wieder zu Hause?”



«Ja, danke, es geht mir gut, und ich werde auch bald wieder ins Büro kommen. Sie können mich jetzt in der Kaubstraße erreichen. Moment mal …» Die neue Nummer hatte er noch nicht im Kopf, und es dauerte ein Weilchen, bis er sie ihr durchgegeben hatte. «Wenn Sie mich dann bitte durchstellen könnten …» Wittenbeck hatte keine Lust zu einer längeren Plauderei mit einer Angestellten, die eine graue Maus war und so gar nicht seinem Beuteschema entsprach.



Endlich war sein Kompagnon in der Leitung, und auch der fragte ihn enervierenderweise nach seiner Gesundheit.



«Du hast dich zu früh gefreut, Thomas, ich bin schon wiederauferstanden aus meinen Ruinen und werde baldmöglichst wieder unter euch weilen. Wir müssen aber vorher noch abklären, ob wir die klinische Studie für unser neues Mittel, das das Natriumcromoglicat ersetzen soll, wirklich schon am 1. November beginnen oder erst noch ein wenig über einen besseren Trockenpulverinhalator nachdenken», sagte Wittenbeck.



Sie debattierten eine Zeit lang über die richtige Vorgehensweise, dan