Der kalte Engel

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»Bei Säge oder Beil«, fuhr Dr. Spengler fort, »müssten wir unregelmäßige Wundränder sowie Scharten an den Knochen und an den Gelenkknorpeln sehen. Und hier …«

Dr. Weimann unterbrach ihn, indem er sich mit der flachen Hand so heftig gegen die Stirn schlug, dass es ordentlich klatschte. »Warten Sie … da fällt mir noch etwas ein. Das muss vor vier Tagen gewesen sein, drüben im Ostsektor, im Leichenschauhaus an der Hannoverschen Straße. In einer Ruine am Stettiner Bahnhof, in der Borsigstraße, hatten Kinder einen grausigen Fund gemacht: einen vollständigen Arm, einen Oberschenkel und zwei Unterschenkel. Die Ost-Berliner Mordkommission hat uns das gebracht. Und genau wie hier: die Glieder fachkundig aus den Gelenken gelöst. Keinerlei Zersetzungserscheinungen. Nach Hautfarbe und Behaarung eindeutig ein Mann. Keine Verletzungen, keine besonderen Merkmale. Abgesehen von einem frisch operierten Hühnerauge an der rechten Fußsohle mit einem Pflaster darüber.« Dr. Weimann beugte sich wieder über den Seziertisch. »Wenn ich mir die Schnittflächen hier ansehe, zweifle ich keine Sekunde daran, dass die Gliedmaßen von drüben zu diesem Rumpf hier gehören.«

»Man müsste sie einfach mal ranhalten«, sagte Bacheran.

»Die Wiedervereinigung dürfte in diesem Falle genauso schwer sein wie die der beiden deutschen Staaten«, sagte Behrens.

Auch Bacheran wusste, dass kein Kriminalbeamter aus dem Westen in den Osten gehen durfte und die Ost-Leute ebenso wenig im Westen ermitteln konnten. Man verkehrte nur noch schriftlich, per Brief oder Fernschreiber, oder telefonierte miteinander. Bei den Justizbehörden war es nicht anders. Da war Dr. Weimann ihre einzige Hoffnung, denn weil in Ost-Berlin keine erfahrenen Gerichtsmediziner mehr aufzutreiben waren, die hatten sich alle in den Westen abgesetzt, arbeitete er mit seinen Leuten in beiden Teilen Berlins, sezierte also auch drüben im Osten und war dort als Gutachter tätig. Behrens und Bacheran baten ihn also, den Kontakt nach drüben aufzunehmen.

Doch Dr. Weimann zögerte noch. »Ich rufe erst mal Menzel an.« Das war der West-Berliner Kriminalkommissar, der aufklären sollte, wer den Torso in den Keller der Ruine Schillerstraße 3 geworfen hatte. Obwohl es Sonnabend war und die Leute langsam ans Wochenende dachten, zeigte sich Menzel höchst interessiert an der Sache.

»Aber sind Sie sich auch ganz sicher, Herr Obermedizinalrat?«

Dr. Weimann zögerte nun doch ein wenig. »Dazu müsste ich die Teile von drüben haben.«

Man sah direkt, wie Menzel am anderen Ende der Leitung abwinkte. »Die drüben geben uns doch nichts raus.«

»Dann gehe ich eben rüber«, sagte Dr. Weimann.

Nun wurde Menzel sehr energisch. »Aber nicht mit unserem Torso!«

Sichtlich genervt warf Dr. Weimann den Hörer auf die Gabel. »Was bleibt mir nun anderes übrig, als den Genossen Generalstaatsanwalt anzurufen?! Der ist zwar in der SED, aber vielleicht hat die reine Logik doch noch eine Chance und siegt.«

»Besonders wenn Sie ihm klarmachen, dass der Mörder wahrscheinlich aus dem Westen kommt und damit wieder einmal die Verderbtheit des Kapitalismus sichtbar wird«, riet ihm Bacheran.

»Wir wissen doch noch gar nicht, dass es ein West-Berliner ist«, wandte Behrens ein.

»Macht doch nichts, hilfreich ist es allemal.«

Und Dr. Weimann schaffte es aufgrund seines Rufes und seiner charismatischen Kraft, das Wunder zu vollbringen.

»In einer halben Stunde sind unsere Leute drüben«, hieß es schließlich aus dem Osten.

Im Leichenkeller des Robert-Koch-Krankenhauses hatte man bis dahin noch eine Menge zu tun. Zuerst wurde der Rumpf vermessen. »92 Zentimeter«, las Dr. Spengler und erklärte den beiden Laien im Raum, dass das auf eine mittlere Statur schließen ließe. »Grob geschätzt muss der Mann so um die Vierzig gewesen sein. Genaueres kann man erst sagen, wenn man Haut und Knochen unterm Mikroskop beziehungsweise am Röntgenschirm betrachtet hat. Und noch etwas: Die Zerstückelung muss kurze Zeit nach der Tötung erfolgt sein, so dass das Blut aus dem Körper abfließen konnte. Dadurch gibt es keine oder nur sehr blasse Totenflecke – wie hier in unserem Falle.«

»Wann könnte der Mann denn ermordet worden sein?«, fragte Amtsrichter Behrens.

»Nun …« Dr. Weimann brauchte nicht lange nachzudenken. »So kühl wie es derzeit ist … sechs Tage etwa.«

Bacheran rechnete: zehn weniger sieben. Am 3. Dezember also. Doch Dr. Spengler und die Sekretärin blickten da etwas skeptisch und sagten, Dr. Weimann habe ihnen äußerste Vorsicht angeraten, wenn der Tod länger als zwei Tage zurückläge.

Dr. Weimann schmunzelte. »Ich gehe hundertprozentig davon aus, dass dieser Rumpf hier aus dem Westen zu den Gliedmaßen aus dem Osten gehört, die wir vor vier Tagen drüben in der Hannoverschen Straße untersucht haben – und da konnten wir mit Sicherheit erkennen, dass der Tod vor sechsunddreißig Stunden eingetreten war.«

Nachdem das Wann des Todes geklärt war, konnte man sich der Frage des Wo zuwenden: wo die fremde Gewalt angesetzt hatte. Quadratzentimeter für Quadratzentimeter wurde der Rumpf unter die Lupe genommen. »Keine Schlagspur, keine Schusswunde, keine Stiche. Keine Spuren von Injektionsnadeln.« Hatte er dies eher gelangweilt zu Protokoll gegeben, so zeigte sich Weimann plötzlich fast aufgeregt. »Aber hier, was ist denn das? Dicht unterhalb der Abtrennungsebene ist eine horizontale streifige Hauteintrocknung erkennbar. Auf der fahlen Haut zeichnet sich ein schmaler bräunlicher Streifen ab.«

»Das sieht ganz nach einer Strangmarke aus«, fügte Dr. Spengler hinzu.

Bacheran musste heftig schlucken und litt ein wenig unter Atemnot, denn ihm war so, als würde ihm jemand den Hals zudrücken. »Ist er also erwürgt worden?«

»Nein: erdrosselt. Mit einem dünnen Strick oder Ähnlichem, denn nirgends auf der Haut sind Kratzer oder Druckstellen zu erkennen. Aber solange wir den Hals nicht haben …«

Sie machten sich an die Obduktion, und abermals war Bernhard Bacheran nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Obwohl … Es ging wirklich nicht viel anders zu als beim Onkel auf dem Bauernhof. Wie ein Schlachtergeselle nahm Dr. Spengler das größte Seziermesser vom Instrumententisch und spaltete mit einem langen Schnitt die Haut und Muskelschicht des Torsos. Dann griff er sich die Knochenschere, setzte alle Kraft seiner Armmuskeln ein und öffnete den Brustkorb. Wie Vater es Weihnachten bei der gebratenen Gans machte, schoss es Bacheran durch den Kopf. Das lenkte ab, und doch wurde der Ekel so stark, dass er sein Taschentuch herausreißen musste, als die beiden Lungen offen dalagen. Bräunlich bis rot marmoriert die Oberfläche. Der Brechreiz ließ sich nicht mehr unterdrücken, Bacheran würgte grünlichen Schleim hervor.

Ungerührt, aber mit einem strafenden Blick diktierte Dr. Weimann der Lehmann weiter in die Maschine: »Mehrere inselförmige Ansammlungen dunkler Flecke auf der Oberfläche. Typische Blutungen, wie sie nur bei Erstickenden auftreten.«

Vorsichtig, Schicht für Schicht legte Dr. Weimann nun den Kehlkopf frei. »In der Haut und in der Muskulatur deutliche Quetschungen und ergossenes Blut. Eindeutig Gewalteinwirkung gegen den Hals. Der Adamsapfel selbst unverletzt, aber Verletzungen der Schildknorpelträger. Unterblutet.«

»Was heißt das?«, fragte Bacheran.

»Dass sie zu Lebzeiten entstanden sind. Blutergüsse, wie sie nur entstehen können, wenn der Blutkreislauf noch funktioniert, der Mensch also noch am Leben ist.«

Die Tür ging auf, und alle fuhren herum. Bacheran dachte: Jetzt kommt der Tote herein, wieder vollständig beisammen.

Ein Horrorbild wie im Traum, wie im Film. Es war aber lediglich Norbert Menzel, der West-Berliner Kommissar von der Mordkommission M I/3. Dr. Weimann informierte ihn so lakonisch, wie es seine Art war: »Erdrosselung, klassischer Befund.«

Bacheran, der Menzel flüchtig kannte, wagte es zu lästern.

»Was machen Sie denn nun mit ›Ihrem‹ Torso, damit er nicht in den Osten entführt wird? Nehmen Sie ihn selber mit nach Hause und packen ihn in den Eisschrank?«

»Ich dachte eher, wir deponieren ihn bei Ihnen auf dem Balkon.«

»Kinder!« Hildegard Lehmann mochte es nicht, wenn man im Beisein eines Toten solche Reden führte. »Etwas Pietät darf man angesichts eines Mordopfers wohl erwarten.«

So schwiegen sie und sahen zu, wie Dr. Spengler den Kehlkopfknorpel und die ihn umgebende Halsmuskulatur herauspräparierte, um sie ins Labor bringen zu lassen. »Bitte konservieren und mikroskopische Schnitte davon anfertigen lassen.« Kaum war der Institutsdiener wieder gegangen, gab es draußen auf dem Gang polternde Schritte. Jemand klopfte. Bacheran ging zur Tür und zog sie auf. Draußen standen drei Männer. Einer trug eine schwarze Kiste. Das war sicherlich der Leichendiener. Die anderen beiden sahen wie Vopos aus. In Zivil natürlich. Der eine stellte sich vor: »Steffen. Wir bringen Ihnen das Gewünschte, Herr Obermedizinalrat.« Der Leichendiener stellte sein Behältnis auf einen der freien Tische.

Dr. Weimann bedankte sich. Man bildete einen Halbkreis um die schwarze Kiste. Die Spannung wuchs, als sich Dr. Spengler nun daran machte, sie zu öffnen. Bacheran fühlte sich an eine Verlosung erinnert. Der Gerichtsmediziner klappte den Deckel auf, griff sozusagen blind hinein und fischte einen Arm heraus. »Bitte sehr, Herr Kollege. Frisch aus dem Kühlraum.«

Dr. Weimann nahm den Arm, betrachtete ihn kurz und ging dann zum Seziertisch Nr. 6, um ihn an den Torso aus der Schillerstraße zu halten. »Die Hautfarbe? Nicht der geringste Unterschied.« Dann hielt er den Arm an die Schulter. »Passt.« In der Tat: Die Schnittflächen fügten sich glatt aneinander. Bei den Beinen war es nicht anders.

 

Bacheran ahnte die politische Dimension des Ganzen: Aus dem einen Leichenfund im Osten und dem anderen im Westen war nun ein Fall geworden.

»Schon eine Ahnung, wer der Mann ist?«, fragte Dr. Weimann die beiden Polizisten aus dem Osten.

»Keinen blassen Schimmer, Herr Obermedizinalrat.« Bacheran sah ihnen aber deutlich an, dass sie logen. Sicher nicht aus freien Stücken, sondern weil ihnen Pohl, der Volkspolizeirat, oder eine andere Kaderkraft eine entsprechende Weisung erteilt hatte.

Kapitel 11

Bernhard Bacheran ließ sich treiben. Quer durch Moabit, zwischen Ringbahn und Spree, zwischen Poststadion und Beusselstraße. Irgendwo würde er schon einen S-Bahnhof finden, irgendwann, irgendwie. Nach den beiden Stunden im Leichenkeller musste er dringend an die frische Luft und sich ein wenig die Beine vertreten. Wieder zu sich kommen. Eigentlich hätte er ja noch ins Büro gemusst, denn am Sonnabend war bis mittags zu arbeiten, aber in der Staatsanwaltschaft vermisste ihn keiner, wenn er nicht mehr erschien. Wochenend und Sonnenschein … Alle freuten sich darauf, nur er nicht. Am Nachmittag Kaffeetrinken mit seiner Mutter und Tante Erna. Am Abend ins Kino mit seiner Mutter und Tante Erna. Am Sonntagvormittag Ausflug mit seiner Mutter und Tante Erna nach Treptow, Spaziergang durch den Park und an der Spree entlang, Mittagessen mit seiner Mutter und Tante Erna zu Hause in der Fuldastraße, bis zum Abend Kartenspielen mit seiner Mutter und Tante Erna. Das übliche Programm. Was sollte er machen? Seine Freunde waren alle schon in den heiligen Stand der Ehe getreten und mit sich und ihren Kindern beschäftigt. Wurde er da eingeladen, kam er sich als Fremdkörper vor. Alle hatten sie ihr »kleines Frauchen«, so seine Mutter und ihre Schwester, besagte Tante Erna, nur er nicht. Dafür gab es keinen einsehbaren Grund. Er konnte machen, was er wollte, immer ging es schief. »Mit Gewalt lässt sich kein Bulle melken«, so sein Onkel Waldemar. Der, der immer selber schlachtete. Wobei seine Gedanken wieder beim Seziertisch Nr. 6 und dem Torso angekommen waren. Es war schon hirnrissig. Im Osten wussten sie, wer der Tote war, und behielten es für sich, damit sie den Mörder fangen und sich die Federn an den Hut heften konnten. Seht her: Was sind das doch für Dummköpfe im Westen! Oder besser noch, sie unterstellten der West-Berliner Polizei und den westlichen Alliierten, dass sie den Mörder deckten, weil das in Wahrheit irgendein Geheimdienstler war, der nach Berlin gekommen war, um in der DDR Sabotageakte zu begehen. Vielleicht auch ein hohes Tier mit abartigen Neigungen. Man konnte ja nie wissen. Bei der sprichwörtlichen Verderbtheit des Kapitalismus war alles möglich.

Bacheran erschrak. Diesen Hauseingang kannte er doch. Die Wilsnacker Straße Nr. 6. Klar, das Kriminalkommissariat Tiergarten. Er beschloss hineinzugehen, sich ein wenig aufzuwärmen und zu hoffen, eine Tasse Kaffee angeboten zu bekommen. Diese Hoffnung sollte sich auch erfüllen, denn die Kolleginnen und Kollegen saßen schon zusammen und feierten den dritten Advent. Man kannte sich zumindest flüchtig, und Bacheran brauchte sich nicht lange vorzustellen. Eine der Kriminalassistentinnen bot ihm ein Hackepeterbrötchen an.

»Nein, danke. Die Lust auf rohes Fleisch ist mir für den Rest des Jahres vergangen.« Und er erzählte von seinen Erlebnissen im Leichenkeller. Alle fanden es empörend, dass der Osten derart mauerte, und schworen Rache, wenn man bei einem der zukünftigen grenzüberschreitenden Fälle mal selber alle Trümpfe in der Hand halten sollte. »Aber vielleicht kommt der Mörder auch aus Ost-Berlin«, sagte einer. »Und dann haben wir Oberwasser. Wer zuletzt lacht …«

An diesem Tage lachte man über die Witze, die der Chef zum Besten gab. »›Bei uns kommt kein Tropfen Alkohol auf den Tisch.‹ – ›Bei uns auch nicht – wenn wir vorsichtig eingießen.‹« Und auch hier im Kommissariat goss man sehr vorsichtig ein. Und dies unter einem Schild, das irgendwer bei der Reichsbahn abgeschraubt hatte: Sei nüchtern im Dienst! Bacheran, der Alkohol nicht sonderlich mochte, musste mittrinken, ob er wollte oder nicht. Sonst hatte er von vornherein schlechte Karten in der Berliner Verwaltung. Keine echte Gemeinschaft ohne ab und an mal ein kleines Besäufnis. Aber die Kollegialität war schon beeindruckend, das musste man den Leuten lassen. An der Wand hing ein Foto, auf dem sich alle am wärmenden Kanonenofen versammelt hatten. Der Amtsleiter neben dem Anwärter. Die Nachkriegswinter waren kalt, da musste man zusammenhalten. Alle hatten dieselben Sorgen. Jeder hatte etwas, und jedem fehlte etwas – der Tausch blühte. Damit waren im Alltag die Hierarchien verwischt. Andererseits waren die Vorgesetzten, fast ausschließlich Männer, noch immer halbe Götter, und auf Disziplin, Sauberkeit und Pünktlichkeit wurde größter Wert gelegt, auf die alten militärischen Tugenden. Das neue Deutschland, fand Bacheran, war auch nach der Entnazifizierung weithin das alte geblieben. Ein Anzug blieb ein Anzug, auch wenn man ihn umgefärbt hatte, von braun auf rot oder auf schwarz.

Jemand hatte italienischen Rotwein mitgebracht, und Bacheran wäre jede Wette eingegangen, dass man innerhalb der nächsten Viertelstunde die Capri-Fischer singen würde. Was man dann auch tat. Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt, zieh’n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus, und sie legen im weiten Bogen die Netze aus. Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament ihren Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt. Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt, hör von fern, wie es singt: Bella, bella, bella Mari, bleib mir treu, ich komm’ zurück morgen früh! Bella, bella, bella, Mari, vergiss mich nie!

Und tapfer sang Bacheran mit: »Bella, bella, bella Mari, vergiss mich nie!”

In diesem Augenblick klopfte es, und nach dem unwirschen »Herein!« des Chefs standen zwei Menschen in der Tür, die so ernsthaft und so dienstlich wirkten, dass keiner mehr ans Singen dachte. Auch war es den meisten der Anwesenden bei ihrem Anblick richtig peinlich, dass man hier saß und feierte. Der Chef sah sich dann auch veranlasst, so etwas wie eine Entschuldigung zu murmeln: »Saure Wochen, frohe Feste … Treten Sie ruhig näher, liebe Kollegen, der Klassenfeind hat die besten gefüllten Dominosteine. Wenn Sie denn dürfen …«

»Wir sind ja nicht dienstlich hier.«

»Noch schlimmer. Aber legen Sie erst mal ab.« Er kannte die beiden Ost-Berliner Kripoleute aus früheren gemeinsamen Zeiten und stellte sie den anderen vor: »Kommissar Steffen von der Mordkommission Ost, Kriminalassistentin Leupahn …«

Als Bacheran der Leupahn die Hand gab und ihr in die Augen sah, schönstes Vergissmeinnicht, da fand er sie nicht sonderlich sympathisch. Zu herb, zu östlich. Steffen dagegen gefiel ihm auf Anhieb. Ein kantiges Gesicht, ein wenig wie Nick Knatterton aus der Quick. Man setzte sich wieder und nahm die Ost-Berliner Kollegen in die Mitte.

»Sie sind also hergekommen, um Dominosteine und Schokoladenherzen zu essen«, sagte der Chef der Tiergartener.

»Guten Appetit. Und worüber plaudern wir jetzt ganz verschwiegen im Freundeskreise?«

»Über Hermann Seidelmann.«

»Wer ist Hermann Seidelmann?«

Steffen und die Leupahn waren erstaunt. »Das wissen Sie noch nicht?«

»Nein, woher?«

Da begann Bacheran etwas zu ahnen, und er wagte sich aus der Deckung heraus. Auch um den Kripo-Leuten zu zeigen, dass die Staatsanwaltschaft ihre oberste Dienstbehörde war und folglich immer mehr zu wissen hatte. »Hermann Seidelmann wird der Eigentümer jenes Rumpfes und jener Gliedmaßen sein, die wir vorhin auf dem Seziertisch im Robert-Koch-Krankenhaus bewundern durften. Mit Ausnahme seines Kopfes und eines Armes. Stimmt es – oder habe ich recht?«

Steffen grinste. »Weiß ich nicht. Das ist ein streng gehütetes Dienstgeheimnis. Ich sage nichts. Nur so viel, dass Fräulein Leupahn Ihnen gleich einmal sagen wird, warum wir hier sind.«

»Ja, nun … Ich will einmal so anfangen …« Die Leupahn war ziemlich befangen und fahrig, und dass der Grund dafür Bernhard Bacheran hieß, ahnte niemand im Raum. »Ein gewisser Hannes Seidelmann aus der Wiclefstraße 19 in Berlin-Tiergarten … also … der ist vor drei Tagen bei uns gewesen und hat seinen Bruder infiziert …« Man lachte, was sie verständlicherweise noch nervöser werden ließ. »Wie? Infiziert, nein, natürlich: identifiziert. An einem Hühnerauge hat er seinen Bruder erkannt. Das war frisch operiert. Am linken Fuß. Seit dem 3. Dezember ist Hermann Seidelmann vermisst worden.«

»Was weiß man denn noch so?«, fragte der Chef des Tiergartener Kriminalkommissariats.

»Eine ganze Menge noch, aber …« Steffen machte eine Geste des Bedauerns. »Sie wissen doch, lieber Kollege, dass ich es für mich behalten muss.«

Der Westler grinste. »Natürlich. Aber gegen einen Tausch 1:1 wird ja keiner was haben.«

»Was für einen Tausch?«

»Kommen Sie: Sie sind doch hier, um mit Seidelmanns Bruder zu reden. Tun Sie es ohne oder gegen mich, lasse ich Sie festnehmen. Und schleichen Sie sich heimlich, still und leise zu Seidelmann, dann laufen Sie Gefahr, dass der dichtmacht und unsere Kollegen ruft. Die Stumm-Polizei.«

Steffen nickte. »Womit Sie nicht ganz unrecht haben dürften.«

»Danke. Und darum schlage ich Folgendes vor: Ihre junge Kollegin macht jetzt einmal ein kurzes Nickerchen bei uns und spricht im Schlaf, was man ja keinem verbieten kann, und Sie gehen nachher zu Hannes Seidelmann in die Wiclefstraße und reden mit ihm … begleitet von unserem Referendar hier, von Herrn Bacheran.«

Steffen nickte. »Gut. Es ist zwar empörend, wie Sie mich erpressen, aber solange der Sozialismus noch nicht überall gesiegt hat, muss man halt Kompromisse mit dem Klassenfeind machen. Dann schließen Sie mal die Augen und fangen an zu reden, Fräulein L.«

Bacheran schrieb mit, was die Leupahn nun zum Fall Seidelmann offen legte: Schausteller und ambulanter Händler aus Sachsen. Zur Beerdigung seiner alten Mutter im November nach Berlin gekommen. Unterkunft bei seinen Geschwistern. Neben Hannes gibt es noch eine Gerda Seidelmann. Hermann Seidelmann hatte 3200 Mark Ost mit nach Berlin gebracht, um sie gegen Westgeld einzutauschen, aber auch Ersatzteile zu kaufen. In der Nacht zum 3. Dezember war er nicht nach Hause gekommen. Auch am darauf folgenden Tage nicht, worauf die Geschwister dann zur Vermisstenstelle gegangen waren.

Kommissar Steffen stand nun auf. »Herzlichen Dank für die Gastfreundschaft, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Sie wissen von nichts, ich weiß von nichts, und wenn uns Herr Bacheran nun folgt, dann einzig und allein, weil er Fräulein Leupahns Liebreiz erlegen ist – und keineswegs aus dienstlichen Gründen.«

Die Kriminalassistentin aus Ost-Berlin lief rot an, und Bacheran staunte, wie hübsch sie plötzlich war. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg von der Wilsnacker zur Wiclefstraße. Einen Wagen hatten sie nicht, und die vielleicht vier Stationen mit der Straßenbahn zu fahren, lohnte sich nicht. Dienstfahrscheine für die Ost-Kollegen gab es nicht, und Spesen konnten sie keine geltend machen, da sie ja an sich gar nicht hier waren. Bacheran wollte sie zu einer Fahrt mit der 2 einladen, doch Fräulein Leupahn meinte, dass Laufen sehr gesund sei. Fußmärsche von zwei Kilometern waren zu dieser Zeit ein Klacks.

»Als die 86 nach dem Krieg nicht gefahren ist, bin ich jeden Morgen vier Kilometer nach Grünau zur S-Bahn gelaufen.« Bacheran schaltete schnell. »Dann wohnen Sie also in Karolinenhof?«

»Gut kombiniert.«

»Dabei bin ich nicht mal bei einem Kombinat. Und – immer am Wasser entlang?«

»Nein, quer durch den Wald.«

»Wir sind früher oft am Langen See, an der Dahme entlang spazierengegangen. Von Grünau nach Schmöckwitz.« Bacheran konnte sich gut vorstellen, dies alsbald wieder zu tun – und zwar an ihrer Seite.

»›Wir‹ … Sind Sie verheiratet?«

Bacheran lachte. »Wenn dies ein Verhör ist – ohne meinen Anwalt sage ich nichts mehr. Aber, um Sie zu beruhigen: Nein, ich bin sonntags immer mit meinem lieben Mütterlein unterwegs. Was schon schwer genug zu ertragen ist. Aber dann kommt noch Tante Erna hinzu. Da haben Sie’s sicherlich besser … mit Ihrem Mann.«

»Der muss erst noch gebacken werden.«

»Womit er dann aber zwanzig Jahre jünger wäre als Sie. Und so lange wollen Sie wirklich warten?«

Steffen unterbrach sie, indem er sich an der Kreuzung Turm- und Stromstraße zwischen sie drängte und mit Bacheran über Fußball reden wollte. Der war als Neuköllner natürlich für Tasmania 1900, während der Ost-Berliner Kommissar für Hertha schwärmte. Tennis Borussia mochten sie beide nicht. Doch das Thema Fußball war schnell vergessen, als ein Fiat Topolino an ihnen vorüberrauschte.

 

»16,5 PS, 90 Stundenkilometer Spitze!« Steffen geriet ins Schwärmen.

»Was ich brauche, ist ein neues Fahrrad«, sagte Bacheran. Als sie sich umdrehten, war Fräulein Leupahn nicht mehr hinter ihnen. Sie war vor einem Schaufenster stehen geblieben. Wäsche und Miederwaren. Da rekelte sich eine Blondine ziemlich lasziv auf einem Polstermöbel, und Bacheran las: Schönere Figur durch Felina. Der Büstenhalter – aus bestem Atlas, Brust Spitzeneinsatz, sehr gute Passform, Träger verstellbar – kostete DM 6,50, der dazu passende Hüftgürtel – Rückenteil Gummi – DM 13,75.

»Na, suchen Sie sich aus, was Ihnen der Weihnachtsmann alles bringen soll?«, fragte Bacheran.

»Den Weihnachtsmann möchte ich mal sehen.«

»Drehen Sie sich ruhig nach mir um.«

»Sie gehen ja ran …«

»Eine reine Verzweiflungstat. Nur um meiner Mutter und Tante Erna zu entgehen.«

Sie wandte sich zum Weitergehen. »Danke für das Kompliment.«

Bacheran zögerte, ob er weiter auf Teufel komm raus mit ihr flirten sollte. Sie kam aus dem Osten, er aus dem Westen – das gab nur Komplikationen. Und … er hatte immer von einer Frau geträumt, die weich und anschmiegsam war, so der Typ Lilian Harvey, und Fräulein Leupahn war eher die strenge Gouvernante. Allerdings … wenn sie lächelte, hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Hildegard Knef. Nun … er kannte ja nicht einmal ihren Vornamen. Wahrscheinlich hieß sie Brunhilde.

Über die Emdener Straße kamen sie zum Mietshaus Wiclefstraße Nr. 19 und stellten anhand des Stillen Portiers schnell fest, dass ein Seidelmann hier wirklich wohnte. Hinterhaus, zwei Treppen, Mitte links. Sie stiegen hinauf. Hoffentlich waren Hannes Seidelmann und seine Schwester schon zu Hause. Bacheran klingelte, und ohne langes Zögern wurde ihnen geöffnet. Offenbar waren sie schon erwartet worden. Man machte sich miteinander bekannt, dann wurden sie hereingebeten. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Dürfen wir Ihnen etwas anbieten?«

Bacheran dankte im Namen aller. »Nein, bitte nicht …«

»Sie kennen die traurige Wahrheit ja schon … dass ihr Bruder ermordet worden ist«, begann Bacheran. »Und wir dürfen Ihnen erst einmal unser herzliches Beileid aussprechen.«

Die Geschwister bedankten sich. »Es ist ja alles so schrecklich«, fügte Hannes Seidelmann hinzu. »Da überlebt er nun den Krieg … und wird dann hier in Deutschland er … ermordet.«

Bacheran stutzte. Wenn er richtig hingehört hatte, dann hatte Seidelmann statt ermordet erst etwas anderes sagen wollen. Erdrosselt vielleicht. Was er aber noch gar nicht wissen konnte. Oder interpretierte er da etwas hinein, was gar nicht Sache war? Hm … Dass ein Bruder den anderen tötete, war ja seit Kain und Abel nichts Unvorstellbares mehr. Vielleicht hasste er seinen Bruder seit Kindheitstagen, vielleicht hatte er eine Affäre mit seiner Schwägerin, vielleicht war er auf das Geld seines Bruders scharf gewesen. Dies alles ging ihm durch den Kopf, während Hannes und Gerda Seidelmann ihnen Auskunft über ihren Bruder gaben. Während er aufmerksam zuhörte, ruhte Bacherans Blick auf einem Prospekt, der auf dem Couchtisch lag. Vorn Möbelhaus Gregor Göltzsch Uhland-, Ecke Kantstraße. Die Werbung kannte er. Möbel von GG – eine Pfundsidee. Er sah sich verstohlen um. Seidelmanns Einrichtung schien noch aus Kaisers Zeiten zu stammen, da war dringend mal was Neues nötig. Insbesondere wenn er sich eine Frau ins Nest holen wollte. Aber was das kostete!

»… und wir sind ja dann mit dem Zettel ›Schöne Frau am Zoo‹ überall herumgezogen und haben nach ihm gefragt, aber ohne Ergebnis.«

»Hat er sich für fremde Frauen interessiert?«, fragte Steffen.

»Unser Bruder hat vier Kinder und war ein guter Familienvater.«

Als ob das eine das andere ausschlösse, dachte Bacheran, und starrte dabei auf die Hände von Hannes Seidelmann. Kräftig genug waren sie ja. Schließlich war er, wie er eben gerade erzählt hatte, von Hause aus Telegraphenbauhandwerker und hatte ein halbes Leben lang Kabel verlegt. Kabel und Leitungen. Strippen, wie man umgangssprachlich sagte. Und man brauchte nicht immer einen Strick oder eine Wäscheleine, um einen Menschen zu erdrosseln, eine Telefonschnur tat es auch.

In diesem Augenblick war sich Bacheran ziemlich sicher, dass Hannes Seidelmann der Täter war.

»Sie wollten gerade los, sich neue Möbel ansehen?«, fragte er beiläufig, als Steffen und die Leupahn fertig waren.

»Nein, nein«, versicherte Seidelmann. Für Bacheran etwas zu nachdrücklich. »Den hat sich mein Bruder mitgebracht.«

Kommissar Steffen erhob sich. »Ja, Herr Seidelmann, es sieht trübe aus …«

So ist es, dachte Bernhard Bacheran. Die Stadt zerstückelt, die Leiche zerstückelt. Das Ganze ein Ost-West-Puzzle.

Fräulein Leupahn ließ sich von der allgemeinen Melancholie nicht anstecken und blieb betont sachlich. »Halten wir fest: Vom Täter fehlt noch jede Spur, und auch im Hinblick auf den Tatort tappen wir völlig im Dunkeln. Zur Ergreifung des Täters wird aber eine Belohnung ausgesetzt werden.«

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