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Da hänge ich mich lieber auf

1840

Als sie im Frühjahr 1840 im Prenzlauer Gymnasium Schillers Räuber durchnahmen und auch auf den Dichter selbst zu sprechen kamen, fragte der Klassenbeste, der sich das erlauben durfte, ob Friedrich Schiller eigentlich Friedrich Schiller geworden wäre, wenn er schon als Jüngling sicher gewusst hätte, dass er einmal Schiller werden würde.

Bei jedem anderen hätte ihr Professor losgepoltert, bei seinem Lieblingsschüler aber lächelte er milde und suchte nach einer tiefschürfenden Antwort.

„Nun … vielleicht hätte es ihn befeuert, Großes in noch jüngeren Jahren zu Papier zu bringen, möglicherweise aber auch gehemmt, weil man eine schwere Last zu tragen hat, wenn man berühmt ist und nur noch Erlesenes von sich geben darf, also kein leichtes und bequemes Leben hat, sogar in Gefahr geraten kann, zu viel von sich selbst zu verlangen und daran zu zerbrechen. Auch ist nicht auszuschließen, dass er bequem geworden wäre, weil er in der Gewissheit gelebt hätte, dass ja alles von alleine kommt. Kurzum, ich möchte die These wagen, dass Schiller nicht der Schiller geworden wäre, wie er heute auf dem Dichterolymp zu sehen ist, wenn das schon auf seinem Taufzeugnis gestanden hätte.“

Nun, Ernst Schering hatte als Sechzehnjähriger nicht die Spur einer Vorahnung, dass er einmal ein weltberühmter Pharmaunternehmer werden würde, sein großer Traum war es weiterhin, Oberförster in heimischen Gefilden zu werden. Sein Vater fand das allerdings keineswegs erstrebenswert. „Unser Ernst“, hörte man ihn immer wieder sagen, „soll es einmal zu einer gewissen Berühmtheit bringen und den August noch übertreffen.“ Der war immerhin auf dem Wege zum Oberjustizrath, was in Preußen schon eine Menge war. Und um seinen Jüngsten hungrig zu machen, hungrig auf Ruhm und Ehre, hängte er in seiner Gaststube Photographien der Söhne Prenzlaus auf, die es schon zu etwas gebracht hatte. Ernst Schering lief Tag für Tag mehrmals an dieser Galerie vorbei und hatte die Stimme seines Vaters im Ohr: „Da nimm dir mal ein Beispiel dran. Was die können, kannst du schon lange.“ Vier Männer waren es, die da hingen:

Karl Gottlieb Richter, geboren 1777 in Prenzlau, hatte das dortige Gymnasium besucht, dann in Halle Theologie, Rechtswissenschaften und Cameralia studiert, um eine Justizkarriere zu beginnen. In Berlin, Posen, Potsdam, Halberstadt und Breslau hatte er hohe Ämter innegehabt, jetzt war er Regierungspräsident in Minden.

Albert von Schlippenbach, 1800 in Prenzlau auf die Welt gekommen, hatte ebenfalls Jura studiert, dann aber keine Karriere in der preußischen Justizverwaltung gemacht, sondern das verschuldete Gut seines Vaters in Schönermark übernommen und wieder saniert. Berühmt geworden war er als Liederdichter. Ein Heller und ein Batzen, die waren beide mein und Nun leb´ wohl, du kleine Gasse, vertont von Franz Theodor Kugler beziehungsweise Friedrich Silcher, waren buchstäblich in aller Munde.

Wilhelm Grabow, geboren 1802 in Prenzlau, war ebenfalls Schüler jenes Gymnasiums, dessen Bänke auch von Ernst Schering gedrückt wurden, und Jurist wie Richter und Schlippenbach, hatte in Berlin Jurisprudenz studiert und war dort Referendar am Kammergericht gewesen, ehe er als Richter in Spandau, Perleberg und am Berliner Stadtgericht gewirkt hatte, um 1836 Hofgerichtsrat und Universitätsrichter in Greifswald zu werden. Vor zwei Jahren war er als Bürgermeister nach Prenzlau heimgekehrt.

Adolf Stahr fiel ein wenig aus dem Rahmen, denn zwar war auch er ein echter Prenzlauer Junge, geboren 1805, und Besucher des vorgenannten Gymnasiums, doch er hatte sich nicht der Juristerei zugewandt, sondern hatte in Halle Philologie studiert und war Lehrer am Königlichen Pädagogium in Halle und Konrektor und Professor am Gymnasium in Oldenburg geworden, wo er sich als Förderer des dortigen Theaters wie als Theaterkritiker einen Namen gemacht hatte.

Immer wenn Ernst Schering in die Gesichter dieser Männer sah, empfand er nichts als Langeweile, denn die Ruhmessucht war ihm völlig fremd. War das vor einiger Zeit noch ganz anders gewesen, so dachte er jetzt: Was hatte man davon, wenn einen die Leute auf der Straße ehrfürchtig grüßten – man musste nur den Zylinder ziehen und brachte seine Haare durcheinander. Was hatte man davon, wenn man für die Journaille so interessant war, das sie von allem Kenntnis nahm, was man tat und unterließ – man hatte nur andauernd auf der Hut zu sein. Was hatte man davon, wenn man Regierungspräsident oder Bürgermeister war – man hatte nur vor seinem Vorgesetzten zu buckeln und in einem fort das zu tun, was einem contre cœur ging. Nein, nicht mit ihm. Er wollte nichts anderes als Förster werden und mit sich allein durch die Wälder streifen.

Ach ja, es gab in vielem keinen besseren Philosophen als den Volksmund, und bei dem hieß es: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Und so lenkte er am Sonntag, dem 14. Juni, den Apotheker Friedrich Appelius nach Prenzlau. Der war alter Märker, geboren am 11. August 1796 in Potsdam, und schon lange vor Fontane auf die Idee gekommen, durch Brandenburg zu wandern. In der Uckermark waren er und seine Freunde schon öfter gewesen, in Prenzlau aber noch nie. Sie hatten die Uckerseen umrundet und saßen nun im Schering´schen Biergarten, um auf ihr Essen zu warten. Da auch der Besitzer der „Grünen Apotheke“ in Prenzlau mit seiner Familie zu Gast war und man sich von einer Tagung her kannte, kam schnell ein munteres Gespräch in Gang, an dem sich auch der Wirt beteiligte. Ernst Schering, der das Bier und die Bestecke zu bringen hatte, machte große Ohren.

„Es ist eine große Freude für uns, Herr Hofapotheker, dass Sie uns mit Ihrem Besuch beehren“, sagte einer der Prenzlauer.

Appelius winkte ab. „Nein, Hofapotheker, das bin ich nicht, wäre es aber gerne, das gebe ich schon zu, denn dies hebt schon ungemein.“ Dann hielt er einen kleinen Vortrag über die Berliner Hofapotheke. „Die ist 1585 gegründet und im Apothekenflügel des Berliner Stadtschlosses eingerichtet worden. Eine besondere Förderung hat sie durch die Kurfürstin Katharina erhalten, zur Nummer eins unter den Hofapotheken hat sie aber erst Caspar Neumann gemacht. Ja, Berliner Hofapotheker, das wäre schon was …!“

„Als solcher wären Sie sicher auch beim Ableben Friedrich Wilhelm III. dabei gewesen“, sagte der Besitzer der „Grünen Apotheke“.

„Ja“, seufzte Appelius. „Der ist genau vor einer Woche von uns gegangen.“

Friedrich Wilhelm III. war für seine knappe Sprache berühmt gewesen, und Appelius ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, ihn zu parodieren. „Jeder Staatsdiener hat doppelte Pflicht: Gegen den Landesherrn und gegen das Land. Kann wohl vorkommen, dass die nicht vereinbar sind, dann aber ist die gegen das Land die höhere.“

„Bravo!“, Christian Schering klatschte in die Hände.

Der Lehrer Ludwig Kuhz, der mit dem Gastwirt längst seinen Frieden geschlossen hatte, das heißt, er hatte die Sache mit dem Böllerattentat nicht an die große Glocke gehängt, nachdem Schering ihn bis zu seiner Pensionierung einen kostenlosen Mittagstisch versprochen hatte, hielt einen kleinen Vortrag über die Vorzüge des verstorbenen Monarchen.

„Er hat Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer und Abtei im Eichwald geliebt und angekauft, und er war musikalisch hochgelobt, hat er doch auch einen wunderbaren Präsentiermarsch komponiert.“

„Und leid tun kann er einem auch wegen des frühen Todes seiner Luise“, fügte die Apothekerfrau aus Prenzlau hinzu.

Appelius lachte. „Wir haben da in Berlin so eine Type, die Madame Du Titre. Als Luise gestorben ist und sie den König trifft, ist sie voller Mitleid mit ihm und sagt: 'Ja, Majestätken, et is schlimm for Ihnen. Wer nimmt ooch jern een Witwer mit sieben Kinderkens'. Apropos: Tod. Als ihr Mann im Sterbezimmer liegt, macht sie die Tür auf und ruft dem zu: „Jott Vater, wat soll denn det! Du weest doch, ick kann keene Dodten nich sehen!“

Der Prenzlauer Apotheker hatte eine Menge an Friedrich Wilhelm III. auszusetzen.

„Anfangs hat es ja bei uns eine Menge Reformen gegeben, ich meine, nachdem Napoleon hinweggefegt worden war, dann aber ging es los mit der Zensur und der Verfolgung von Leuten, die es wagten, den Mund aufzumachen.“

„Pssst!“, machte einer der Berliner.

„Mit dem neuen König wird alles besser werden!“, riefen mehrere. „Es lebe Friedrich Wilhelm IV. Hurra!“

Der Besuch von Friedrich Appelius hatte bei Christian und Marie Schering einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass sie sich schon bald auf ihren Sohn zugingen.

„Du, Erich, wir müssen einmal in aller Ruhe mit dir reden.“

Als er das hörte, zuckte er unwillkürlich zusammen, denn das konnte nichts Gutes bedeuten. Und so war sein langgezogenes „Jaaa ...“ auch mehr ein Stöhnen als eine Antwort. Aber was blieb ihm übrig, als sich zu ihnen an den Küchentisch zu setzen.

„Es geht um deine Zukunft“, begann sein Vater.

Ernst Schering winkte ab. „Bis ich mit dem Gymnasium fertig bin, da vergeht noch ein Jahr.“

„Man muss rechtzeitig wissen, was man will“, sagte seine Mutter.

Wieder bemühte er sich, einen leichten Ton anzuschlagen. „Kommt Zeit, kommt Rat.“

Sein Vater liebte keine langen Vorspiele und wollte schnell zur Sache kommen. „Ja, aber die Zeit ist gestern schon gekommen und der Rat auch – und der sieht so aus, dass deine Mutter und ich beschlossen haben, dass du Apotheker werden sollst.“

Ernst Schering glaubte sich verhört zu haben. „Was soll ich werden?“

„Apotheker!“ Und der Vater buchstabierte es auch noch. „Ich habe schon einmal vorgefühlt; in der Apotheke von Witzin würden sie dich als Lehrling nehmen.“

 

Ernst Schering war blass geworden. „Nein, niemals“, stammelte er. „Auf´m Dorf sind die Apotheken doch nur Krämerläden.“

Sein Vater fixierte ihn. „Es ist ein ehrbarer Beruf, und du zählst zu den Honoratioren Prenzlaus, wenn du später einmal die 'Grüne Apotheke' kaufst.“

Jetzt war es bei Ernst Schering mit jeder Contenance vorbei. „Ich hasse alles, was mit Chemie zu tun hat!“, schrie er. „Habt ihr vergessen, was mit Gottfried Nickholz passiert ist!?“

Seine Mutter winkte ab. „Das war ein Unfall, wie er in jedem Gewerbe passieren kann.“

„Und was ist mit Friedrich Krumbeck von der Holtz´schen Apotheke!?“, rief Ernst Schering. „Wie der sich mit seinem Quecksilber vergiftet hat?“

Der Vater lachte. „Das war ein Alchemist und kein Apotheker, der zählt nicht.“

Ernst Schering versuchte es andersherum. „Keiner wird mich nehmen wollen, weil er weiß, dass ich eine Abneigung gegen alles habe, was mit Chemie zu tun hat.“

„Doch“, konterte der Vater. „Ich habe mit beiden Apothekern gesprochen: Sie würden dich jederzeit als Lehrling nehmen. Aber Witzin hat Vorrang.“

Ernst Schering sprang auf. „Ich will aber kein Apotheker werden, ich will Förster und Jäger werden!“

„Du wirst das, was deine Familie will!“, riefen seine Eltern wie aus einem Munde.

„Dann wollt bitte, dass ich Förster und Jäger werde!“

„Nein, du wirst Apotheker!“

„Ich lasse mich nicht zwingen!“

„Wir zwingen dich nur zu deinem Glück.“

So ging es noch eine Weile hin und her, und keiner war bereit, irgendwie nachzugeben. In den nächsten Tagen lief Ernst Schering wie in Trance umher. Er, der so gar keine poetischen Anwandlungen hatte, formulierte in Gedanken sogar den Satz: Sie haben mir meine Seele gemordet. Immer hatte er sich als Förster und Jäger gesehen – und nun wollte man ihn dahin bringen, als Mann nicht mit einem wunderschönen grünen Rock, sondern mit einem schäbigen weißen Kittel herumzulaufen. Aus der Traum … Nein und abermals nein! Und um sich selbst zu vergewissern, wie schrecklich ein Leben als Apotheker sein würde, besuchte er in den nächsten Tagen die beiden Apotheken, von denen sein Vater gesprochen hatte.

In der „Grünen Apotheke“ sah er die Gehilfen im Laboratorium stehen, wie sie das an Pulvern und Essenzen mischten, was ihnen die Ärzten auf ihren Rezepten vorgegeben hatten. Schrecklich! Als Förster war er sein eigener Herr, hier aber nur Erfüllungsgehilfe der Ärzte und Quacksalber. Und statt gesunder Waldluft, hatte er den ganzen Tag über giftige Stäube einzuatmen. Als der Besitzer der „Grünen Apotheke“ auf ihn zukam, um ihn zu fragen, ob er sich schon darauf freue, vielleicht doch bei ihm als Lehrling anzufangen, ergriff er die Flucht.

In das Innere der Holtz´schen Apotheke kam er gar nicht erst, weil er auf dem Gehsteig davor über den kleinen Julius stolperte, den Sohn des Besitzers, der mit seinem Steckenpferd vor dem Eingang hin und her ritt.

„Willst du was abholen bei uns?“, fragte der Junge.

„Nein, nur mal gucken.“

„Mein Vater ist der Apotheker“, verriet ihm Julius voller Stolz. „Ich will auch mal Apotheker werden. Und du?“

„Nein“, murmelte Ernst Schering. „Da hänge ich mich lieber auf.“

Ein Fünkchen Hoffnung

1840

Wilhelmine Meier aus Velten lebte, seit ihre Mutter an den Folgen der Cholera gestorben und ihr Vater im Irrenhaus gelandet war, mit ihrer Großmutter zusammen im Armenhaus für Frauen in der Berliner Auguststraße. Ein Stückchen weiter nordwärts, und zwar in der Gartenstraße hinter dem Hamburger Tor, war ihre Freundin Luise zu Hause, sofern man deren elende Unterkunft als Zuhause bezeichnen konnte. Wenn sie nicht gerade irgendwelche Hilfsarbeiten zu verrichten hatten oder zum Hackschen Markt geschickt wurden, Zündhölzer zu verkaufen, trafen sich die beiden Achtjährigen am Koppeschen Armenfriedhof, der an der Einmündung der Großen Hamburger in die Linienstraße gelegen war und nach seiner Auflassung Teil des Koppenplatzes werden sollte, benannt nach dem Berliner Stadthauptmann und Ratsherrn Christian Koppe.

„Wollen wir wat spielen?“, fragte Wilhelmine.

Luise guckte irritiert. „Wat denn? Und zum Spielen sind wa doch schon ville zu jroß.“

„Dann warten wa, bis ´n Nasenquetscher von der Charité kommen tut und zum Thürmchen fährt.“

Nasenquetscher hießen die polternden Holzkarren, auf denen die Leichen von mittellos Verstorbenen, Selbstmördern und Unfallopfern zum Leichenschau- und Obduktionshaus gebracht wurden, das an der Linienstraße gelegen war und auf seinem Dach einen kleinen Turm trug, was ihm den Spitznamen das Thürmchen eingebracht hatte.

„Bevor et dunkel wird, kommt doch keen Karren“, sagte Luise. „Und solange darf ick nich' von zu Hause wegbleiben.“

So blieb ihnen nichts, als über den Armenfriedhof zu schlendern und zu gucken, ob da gerade wieder einer verbuddelt worden war, der sich vergiftet, erhängt oder ersäuft hatte. Nein, es war nichts los, nur eine offene Grube konnten sie entdecken.

„Wer da wohl rinkommt?“, fragte Wilhelmine.

„Na, bestimmt een Toter“, meinte Luise.

Auf dem noch nicht zur Beisetzung genutzten Teil des Friedhofs hing allerlei Wäsche, und auf dem von der Sonne verbrannten Rasen wurde Linnen gebleicht.

„Hier landen wir nu ooch mal“, sagte Luise.

Wilhelmine lachte. „Wer weeß. Vielleicht wird allet ma bessa.“

„Ja, wie bei dei´m Vata.“

Wilhelmine fasste sich an den Kopf. „Mensch, den muss ick ja heute besuchen! Kommste mit?“

Luise zögerte erst, ließ sich dann aber überreden, und so machten sich beide auf zur psychiatrischen Abteilung der Charité, der Irrenanstalt, wie man im Volke sagte. Bei einem Besuch dort fühlte sich Wilhelmine einerseits immer wie eine, die auszog das Gruseln zu lernen, andererseits aber war sie vom Elend der Kranken auch derart ergriffen, dass sie am liebsten im Krankenhaus geblieben wäre, um ihnen zu helfen. Der Pförtner kannte Wilhelmine und ließ die beiden Mädchen passieren. Auf dem Weg zum Besucherzimmer kamen sie an einer Reihe von Patienten vorbei, die an katatonen Symptomen litten, das heißt, in starren Posen verharrten. Ein Mann schnitt schreckliche Grimassen. Wilhelmines Vater war der Trunksucht verfallen und wegen heftiger epileptischer Anfälle eingeliefert worden. Als sie mit ihm sprach, machte er aber einen ganz normalen Eindruck.

Von der Charité war es nicht weit bis zur Gartenstraße. Hier in der Berliner Armenkolonie, dem sogenannten Vogtland, standen etliche „Familienhäuser“, und in einer der vielen kleinen abgeteilten Stuben des Quergebäudes Gartenstraße 92a lebte Luises Familie. Die Großmutter lag todkrank auf dem Stroh, das in der hinteren Ecke aufgeschichtet war. Die Mutter hockte neben ihr am Boden und nähte einige Lumpen zu einer Hose zusammen. Zwei kleine, halbnackte Kinder, Luises Geschwister, spielten mit einer leeren Branntweinflasche. Der Junge begann zu weinen, weil er Hunger hatte.

„Hier, bring die Hose zum Tischler Geliert“, sagte die Mutter zu Luise. „Das ist direkt über uns. Und wenn er dir das Geld dafür gibt, dann gehe und hole für sechs Pfennig Brot.“

Wilhelmine fand, dass es die Freundin noch immer um einiges besser hatte als sie, denn durch ihre Stube im Armenhaus für Frauen war kreuzweise ein Seil gespannt, und in jeder Ecke hauste eine vaterlose Familie. In der Mitte, wo sich die Seile kreuzten, stand ein Bett, in dem ein alte Marktfrau lag, die mit einmal mit Milch, Käse und Eiern gehandelt hatte. Sie war mit keinem verwandt, alle zusammen aber pflegten sie. Das war der Dank dafür, dass sie ihnen früher immer etwas zugesteckt hatte, damit sie nicht verhungerten.

„Ich habe frohe Kunde für dich“, sagte die Mutter, als Wilhelmine bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam.

„Ziehen wir wieder in eine richtige Wohnung?“

„Nein, das nicht, aber ich habe für dich einen Platz in der Armenschule bekommen.“

Wilhelmine jubelte und umarmte die Mutter. So jung sie noch war, sie hatte schon begriffen, dass man am ehesten aus dem Armenviertel herauskam, wenn man richtig lesen und schreiben konnte und gute Umgangsformen hatte. Neulich hatte sie mit ihrer Freundin durch das Schaufenster des Manufactur-Waaren-Geschäftes gespäht, das Rudolph Hertzog letztes Jahr in der Breiten Straße eröffnet hatte, und die vornehme Damenwelt bewundert.

„Vielleicht kommen die auch aus dem Vogtland und haben einen reichen Mann gefunden“, hatte Luise gesagt.

Wilhelmine war da anderer Ansicht. „Ich will keinen reichen Mann finden, ich will das alleine schaffen! Ich will was lernen.“

So sah sie die Armenschule als ein Geschenk des Himmels an. Voller Vorfreunde lief sie am nächsten Morgen los, um ja als Erste da zu sein. Und es ließ sich auch alles wunderbar an, denn ihr Lehrer, ein schlanker junger Mann, hatte ein gewinnendes, intelligentes Gesicht und ein sanftes, bescheidenes Wesen.

Er begrüßte die Kinder mit herzlichen Worten und stellte sich vor.

„Mein Name ist Ferdinand Schmidt.“

Von der Theke zur Apotheke

1840

Ernst Schering verfügte schon als junger Mensch in hohem Maße über das, was man landläufig als ein „dickes Fell“ bezeichnete, er war also abgeklärt, gelassen, gleichmütig, psychisch robust und das Gegenteil eines Menschen, der sich wie ein Blatt vom Winde umherwirbeln ließ, und trotzdem nahm ihn der Kampf, der in ihm tobte, ganz gehörig mit: Sollte er dem Wunsche der Eltern nachgeben und Apotheker werden – oder sollte er der Stimme seines Herzens folgen und als Förster durchs Leben gehen? Jetzt war es Herbst geworden, und noch immer neigte sich die Waage eindeutig auf die Seite mit der Aufschrift FÖRSTER und JÄGER.

Seine Eltern spürten das und arbeiteten nach Kräften daran, ihn umzustimmen. So erzählte seine Mutter beim Frühstück am Sonntag von einem seltsamen Traum.

„Ich sehe dich bei uns in der Küche stehen und Asche aus dem Herd nehmen und in eine Schüssel tun. Dann kippst du Milch rein und rührst alles um – und als du fertig bist, hast du Goldklumpen in der Schüssel.“

Ernst Schering lachte. „Ja, Alchemist sein ist nichts Schlechtes, beim Johann Friedrich Böttcher ist immerhin Porzellan herausgekommen, als er aus Erde Gold machen wollte.“

Sein Vater blieb ernst. „Wenn du als Apotheker aus ein paar billigen Chemikalien ein Pulver mixt, das unsere Gebrechen heilt, die Schwindsucht oder die Gicht zum Beispiel, kannst du dir damit auch eine goldene Nase verdienen.“

Ernst Schering richtete die Augen gen Himmel. „Und wenn ich als Förster im Frühtau durch die Wälder streife, brauche ich der Morgenstunde nur das Gold aus dem Munde nehmen, dann habe ich auch welches.“

Sie kamen nicht weiter mit ihm. Zwingen wollten und konnten sie ihren Jüngsten nicht, sie mussten darauf setzen, ihm gut zuzureden. Und zur Verstärkung ließen sie noch ihren Ältesten nach Prenzlau kommen, den werdenden Oberjustizrath August Ferdinand, der immerhin schon Dreißig war und ein gestandener Mann. Er hatte in Berlin Jura studiert und dann als sogenannter Auskultator eine unbezahlte Ausbildungszeit auf den Justizämtern Gramzow, Löcknitz und Brüssow verbracht. Nach bestandenem Referendarsexamen war er nach Berlin ins Justizministerium gekommen und hatte sich auf allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten spezialisiert.

Ernst Schering hatte den Bruder, der immerhin 14 Jahre älter war als er, nie als gleichberechtigten Spielkameraden erlebt, sondern als eine Autorität, die noch vor den Eltern kam. Fast ehrfürchtig ging er nun, als August vorgeschlagen hatte, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, neben ihm her.

„Was macht eigentlich dein alter Freund Gottfried Nickholz?“, fragte August.

„Keine Ahnung ...“ Ernst Schering war die Frage peinlich, denn irgendwie fühlte er sich mitschuldig am traurigen Schicksal des anderen. Aber was sollte er machen. „Wir haben uns aus dem Augen verloren.“

„Sein Gesicht soll schrecklich aussehen ...“

„Ja … Er ist nach Schwedt gegangen, in eine Tischlerlehre.“ Ernst Schering war bemüht, schnell das Thema zu wechseln. „Weißt du eigentlich, was alles neu ist in Prenzlau?“

„Nein, in Berlin steht nicht alles in den Zeitungen, was in der Provinz passiert. Aber erzähle mal ...“

 

Ernst Schering holte aus. „Das Schauspielhaus und die neue Synagoge sind eingeweiht worden. Das Schwedter Tor ist umgebaut worden. Die Chaussee nach Pasewalk ist fertig geworden. Das 'Institut der Tierschau und des Pferderennens' haben sie gegründet, und Oberbürgermeister Busch ist gestorben. Jetzt haben wir Carl Friedrich Grabow als Bürgermeister.“

„Mensch!“, entfuhr es dem Neuberliner bei so viel an Sensation.

„Ja, und dann ist das Sabinenkloster abgerissen worden. Und was hatten wir noch? Die Scharren auf dem Markt sind verschwunden, und eine Likörfabrik haben sie aufgemacht.“

Der Bruder lächelte. „Aha, daher kommt es, dass du mich mit Reden besoffen machen willst – und nicht, weil ich das Thema Apotheke vergessen soll.“

Ernst Schering fühlte sich durchschaut. Sie kamen nämlich gerade an der „Grünen Apotheke“ vorbei. Er fasste sich aber schnell und flüchtete sich in denselben heiteren Ton, den sein Bruder angeschlagen hatte. „Wenn du meinst, dass ich die mal übernehmen kann, dann bist du auf dem Holzwege, denn die Witts haben inzwischen einen Thronfolger, den kleinen Karl Friedrich August.“

„Wie schön.“ Der Bruder wollte noch nicht zum eigentlichen Grund ihres kleinen Spazierganges zu sprechen kommen, sondern wartete erst noch mit einer kleinen Anekdote auf. „Apropos, Apotheker: Da hatte ich neulich im Amt wegen einer Grundstückssache im Dahmetal mit einem ganz berühmten Vertreter dieses Spezies zu tun … Weißt du mit wem?“

„Nein, woher?“

„Mit Otto Unverdorben.“

„Was für´n Name!“, rief Ernst Schering aus. „Und – war er´s wirklich: unverdorben?“

„Keine Ahnung. Er kommt aus Dahme, hat in Halle, Leipzig und Berlin Chemie studiert und lebt heute auf dem Rittergut Glienig. Was er entdeckt hat, ist das Anilin.“

Ernst Schering lachte. „Ich kenne nur Anni Lien-hard, das ist unsere alte Putzfrau.“

„Anilin“, wiederholte August Schering und buchstabierte es sogar. „Ich habe keine Ahnung davon, aber ein Freund von mir ist Chemiker, und der meint, dass es mal sehr wichtig für Preußen sein wird. In Oranienburg haben wir das 'Chemische Etablissement Dr. Hempel', und da arbeitet ein berühmter Mann, der auch einmal als Apotheker angefangen hat, der Friedlieb Ferdinand Runge. Der soll dieses Anilin aus Steinkohlenteer gewonnen haben.“

„Was du nicht sagst ...“

Ernst Scherings Begeisterung für alles Chemische und Pharmazeutische hielt sich weiterhin in Grenzen, und er war froh, dass sie nun am Ufer des Unteruckersees angekommen waren und sich sein Bruder erst einmal seinen Kindheitserinnerungen widmete. Doch schon wenige Minuten später kam er auf seine Mission zurück.

„Du kannst dir sicherlich denken, mein lieber Ernst, warum ich dir das alles erzähle …?“

„Nein, wirklich nicht ....“

„Mensch!“, August Schering lachte und umarmte den kleinen Bruder, „weil ich dir klarmachen will, dass die Pharmazie und die Chemie in Deutschland und in aller Welt eine große Zukunft haben.“

„Ich will Förster und nicht Apotheker oder Chemiker werden!“, rief Ernst Schering aus. „Vater will das, ich nicht! Niemals!“

Der Bruder lächelte. „Man soll niemals nie sagen. Und was unseren Vater betrifft – ich weiß: Von der Theke zur Apotheke, das war der große Traum seines Lebens, und den hat er sich nicht erfüllen können. Nun sollst du es für ihn tun.“

„Im Zweifelsfalle wäre mir die Theke lieber als die Apotheke.“

„Seine Theke kriegst du nicht, die kriegt ein anderer Bruder.“

Ernst Schering warf einen flachen Stein ins Wasser, der dreimal aufschlug und wieder aufstieg, ehe er versank. „Dann weiß ich auch nicht ...“