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Alea iacta est

1841

Einerseits hatte Schering den Tag seiner Abschlussprüfung herbeigesehnt, andererseits aber gehofft, der würde erst in ferner Zukunft kommen, vielleicht auch nie. Sicher, Schule war kein Zuckerschlecken, aber er hatte sich im Prenzlauer Gymnasium trefflich eingerichtet und wollte es eben sowenig verlassen wie sein Elternhaus, denn Nestwärme war ein hohes Gut. Doch er konnte nicht ewig Pennäler sein und sich von seinem Vater anhören: „Solange du die Füße unter meinen Tisch steckst, wird gemacht, was ich sage.“ Auch hätte er gern eine Braut gehabt, eine Frau besessen. Dennoch: Es überwog bei ihm das Gefühl, dass doch bitte die Zeit stehen bleiben möge und er nie ein anderes Leben führen müsste als das eines Oberprimaners. Doch unaufhaltsam kam alles auf ihn zu.

„Ernst, aufstehen! dass du mir nicht zur mündlichen Prüfung zu spät kommst!“

„Ja-a ...“

Es war soweit. Er kam sich vor wie eine Kugel, die soeben die Hand des Kegelbruders verlassen hatte – nun rollte sie und rollte … Und ob sie wirklich ein paar Kegel umwarf oder ins Leere ging und alle „Ratte!“ riefen, das war noch völlig offen.

Er wusch sich, zog seine besten Sachen an und eilte nach unten in die Küche, wo ihm die Mutter schon ein kräftiges Bauernfrühstück zubereitet hatte.

„Damit du Kraft hasr, alles durchzustehen“, sagte sie und strich ihm über die Haare

„Und trink einen großen Topf Kaffee“, fügte sein Vater hinzu. „Richtig wach muss man sein. Wenn ich damals bei Großbeeren vorher keinen Kaffee getrunken hätte, wäre ich nicht lebend vom Schlachtfeld runter gekommen.“

Das Bild einer bevorstehenden Schlacht fand Schering gar nicht einmal schlecht, denn seit dem Streich mit dem Böller damals war der Lehrer Kuhz immer darauf aus, ihn abzuschießen, und woanders gab sich die Gelegenheit zu einem Fangschuss als bei der Abschlussprüfung.

„Feuer frei!“, rief er denn auch.

„Na ja, nun ...“ Die Mutter suchte ihn zu besänftigen. „Es geht ja schließlich nicht um Leben und Tod.“

„Nein, aber darum, ob ich Förster werden kann ...“

„ … oder Apotheker!“, rief der Vater dazwischen.

„Mach doch den Jungen nicht kirre!“, mahnte die Mutter.

Der Vater ließ nicht locker. „Irgendwann müssen die Würfel doch mal fallen.“

Schering lächelte: „Alea iacta est.“

„Wie?“

„Das ist Lateinisch. Auf Deutsch: 'Der Würfel ist gefallen!' Cäsar soll das ausgerufen haben, als er am 10. Januar 49 vor Christus den Rubikon überschritten hat. Andere sagen, dass er als gebildeter Mensch griechisch gesprochen hat. Aber Griechisch hatten wir nie.“

Die Eltern klatschten in die Hände. „Bravo! Du wirst es schon schaffen, Ernst!“ Der Vater drückte ihm die Hand, die Mutter küsste ihn auf Stirn und Wange, die Geschwister wünschten ihm Glück. Dann packte er seine Sache und zog los.

„Auf in den Kampf!“, rief ihm der Vater noch nach.

Wie in Schlafwandler lief er durch Prenzlau und war richtiggehend erstaunt, als er plötzlich im Lehrerzimmer saß, wo sich das ganze Collegium und zwei höhere Beamte der Provinzialschulverwaltung versammelt hatten, um sich jeden Schüler einzeln vorzunehmen. Anfangs ging es um die Fächer Deutsch und Mathematik, und da hatte er keinerlei Schwierigkeiten. Die kamen erst, als Latein an der Reihe war.

„Schering, übersetzen Sie bitte: Ave Caesar, morituri te salutant.“

„Sei gegrüßt, Kaiser ...“ Das ging noch, dann aber war er blockiert. „Die Verweilenden salutieren.“

Der Lateinprofessor konnte es nicht fassen. „Wie? Wie kommen Sie auf die Verweilenden?“

„Ja … morari, morarior, moriatus sum … sich aufhalten, zögern.“

„Nicht morari, Sie sind ja völlig durcheinander, sondern morituri … Das leitet sich her von …?“

„Na, von mora, morae Aufenthalt, Verzögerung, Hindernis … sine mora unverzüglich.“

Der Lehrer rang die Hände. „Nein, das kommt von mori, morior, mortuus sum, moriturus … Dann sind also die morituri …?“

„Die … die Absterbenden.“

„Mein Gott, nein! Der Satz, den Sie übersetzen sollen, stammt von Sueton, dem Schriftsteller und Geheimsekretär des Kaisers Hadrian, und es handelt sich dabei um die Grußworte der Gladiatoren, die sie bei ihrem Einzug in die Arena zurufen … Also …?“

Schering versuchte es abermals, und seine Stimme wurde im dünner. „Sei gegrüßt, Kaiser, die Absterbenden salutieren vor dir.“

„Die morituri übersetzen wir besser mit: die Totgeweihten oder: die dem Tod Geweihten.“

Schering atmete auf und rief: „Sei gegrüßt, Kaiser, die dem Tod Geweihten salutieren vor dir.“

„Wieder falsch, sie salutieren nicht, sondern … salutare …?“

„Besuchen.“

Der Lateinprofessor verdrehte die Augen. „Ja, salutare heißt zwar auch besuchen, aber die Kämpfer sind doch nicht beim Kaiser zu Hause, sondern in der Arena. Sie grüßen ihn nur. Also rufen Sie …?“

Endlich hatte er es. „Sei gegrüßt, Caesar, die dem Tod Geweihten grüßen dich!“

Der Lehrer war am Ende. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah zu Ludwig Kuhz hinüber. „Herr Kollege würden Sie bitte übernehmen.“

Schering zuckte zusammen, denn ihm war hinterbracht worden, dass Kuhz im privaten Kreise gesagt habe, er sei zu dumm, um auf die Menschheit losgelassen zu werden und am besten hinterm Tresen seines Vaters verbliebe, denn „Wer nichts wird, wird Wirt.“

„Ich habe gehört, Schering, dass Sie Förster werden wollen?“, begann Kuhz, der die Fächer Geschichte und Biologie vertrat. „Oder Apotheker.“

„Ja-a ...“. Schering war noch eine Spur verwirrter, weil er nicht gedacht hätte, dass sich der Konflikt mit seinen Eltern in Prenzlau schon herumgesprochen hatte. „Ja, Oberförster oder Apotheker.“

„Gut. Was ist Ihnen denn lieber, Schering, Fragen zu Flora oder zur Fauna?“

Warum war Kuhz so freundlich zu ihm, was führte er im Schilde? Schering war so durcheinander, dass er beides verwechselte. „Zu den Tieren bitte, zur Flora?“

„Ah, Sie meinen die Flora, die Hündin vom Commissarius Wimmer?“

„Entschuldigung: die Fauna.“

„Gut.“ Kuhz sah auf seine Notizen. „Mein Bruder ist Kammerjäger in Berlin, und da wir ja mal in der Klasse davon gesprochen hatten, dass er sehr viel mit Motten zu tun hat ...“

Der Teil der Lehrer, der schon einmal mit amourösen Absichten in der Residenz gereist war, dachte an die berühmten flotten Motten und grinste, was Schering ärgerte. Für ihn ging es um Sein oder Nichtsein – und die amüsierten sich.

„Motten, ja …“, Schering suchte sich zu erinnern. „Motten sind eigentlich Schmetterlinge.“

„Gut. Und der wissenschaftliche Name?“

Schering knete seine Hände. „Da muss ich leider passen.“

„Lepidoptera. Aber egal. Zu welcher Klasse gehören die Schmetterlinge?“

„Sie haben Flügel, sie können fliegen!“

„Ausgezeichnet!“, rief Kuhz. „Die langen Jahre auf unserem Gymnasium haben sich doch gelohnt. Schmetterlinge gehören also zur Unterklasse der Fluginsekten, in der Fachsprache: Pterygota. Aber das muss ein zukünftiger Förster ja nicht unbedingt wissen. Und zu welchem Unterstamm?“

Schering wusste es nicht, er wusste nur, dass Kuhz ihn fertigmachen wollte. Er konnte nur versuchen, zu retten, was noch zu retten war, und da fiel ihm der Ratschlag seines Bruders ein, einfach das zu erzählen, wovon man eine Ahnung hatte, auch wenn die Frage ganz anders gelautet hatte, denn die meisten Lehrer hätten die schnell wieder vergessen.

„Ja, aber über Motten weiß ich eine Menge, wir haben nämlich Lebensmittelmotten bei uns in der Küche.“

„Mein Gott!“, entfuhr es da dem Rektor. „Ich esse nie wieder bei Scherings.“

Schering war das furchtbar peinlich, aber da nun alle lachten, löste sich auch seine Verkrampfung und auch die Lehrer und die Herren von der Schulaufsicht guckten nicht mehr ganz so streng.

Kuhz nahm wieder das Wort. „Gut, reden wir aber nicht über die Mehl- oder die Dörrobstmotte, um uns nicht den Appetit zu verderben, sondern über die Kleidermotte. Was wissen Sie denn über die, Schering?“

„Die Kleidermotten leben in Textilstoffen, in Wollen, in Pelzen und in Fellen.“

Kuhz nickte. „Und was fressen sie da? Na, das …?“

„Das Fett?“

„Nein, die sogenannten Proteine, Eiweiße. Gott, das hatte ich Ihnen doch gerade beizubringen versucht! Berzelius hat den Namen vorgeschlagen, vom griechischen Wort proteios her. Davon werden die Motten also angezogen – und was stößt sie ab?“

„Na, wenn man Stoffsäckchen mit Lavendel in den Schrank hängt.“

„Gut, gehen Sie also in Ihren Garten raus und pflücken sich einen Strauß Lavendel. Und nun zu den Eiern, die ein Mottenweibchen legt.“

Schering hatte sich jetzt etwas gefangen und wagte es, dem Lehrer ins Wort zu fallen. „Nein, echter Lavendel wächst nicht bei uns im Garten, den gibt es nur am Mittelmeer.“

„Na, da spricht ja unser Apotheker. Was haben wir denn alles an berühmten Apothekern in Deutschland?“

„Carl Spitzweg!“, rief Schering.

„Der ist ja wohl mehr Maler. Und sonst?“

Schering überlegte krampfhaft, und zu seinem Glück fielen ihm noch rechtzeitig die beiden Männer ein, von denen sein Bruder unten am See gesprochen hatte.

„Na, zum Beispiel Otto Unverdorben aus Dahme und Gottlieb Ferdinand Runge in Oranienburg. Der untersucht den Steinkohlenteer, ob in ihm Stoffe stecken, die sich irgendwie verwenden lassen, und Unverdorben hat das Anilin entdeckt, jetzt brauchen wir bald kein Indigo mehr aus Indien einzuführen, sondern können unsere blaue Farbe selbst herstellen.“

 

Das beeindruckte das Collegium, und der Rektor bedankte sich beim Kollegen Kuhz.

„Ja, wir können uns nun ein Bild von Ihnen machen, Schering, was die Naturwissenschaften betrifft, und wir können uns nun den Fächern Geschichte und Englisch zuwenden.“

Auch da glänzte Schering nicht unbedingt, gehörte aber zum guten Mittelfeld, und nach einer weiteren Stunde hatte er die Prüfung bestanden. Der Rektor drückte ihm die Hand.

„So, Schering, herzlichen Glückwunsch! Sie können sich jetzt auf einer unserer Universitäten einschreiben – oder wollen Sie doch lieber erst in die Lehre gehen, in der Apotheke oder im Wald.“

„Wohl in die Lehre – und zwar in Berlin. Aber … “

Sein Bruder hatte inzwischen in der Appelius´schen Apotheke vorgesprochen, die in Berlin zu den prominentesten gehörte, und die Zusage bekommen, dass sie seinen Bruder als Lehrling aufnehmen würde, auch sollte er zur Entlastung seiner finanziell schwachen Eltern bei seinem Bruder und dessen Familie wohnen können. Zum Lehrgeld wollte August einen Anteil besteuern, und dennoch schrieb Ernst Schering am 8. Februar 1841 einen langen Brief nach Berlin, in dem es unter anderem hieß:

Wir haben uns zwar schon früher nach einer Elevenstelle eifrig erkundigt, es boten sich uns auch mehrere an; allein die meisten wollten zu viel Lehrgeld haben (z.B. 200 Reichsthaler Lehrgeld und 2 Lehrjahre) und dies sind die Eltern nicht im Stande zu verschaffen; noch dazu, weil dabei noch genug Nebenkosten sind. Wenn ich nun keine Stelle bis Ostern bekommen habe, nun so bleibe ich bis Michaelis hier, und in dieser Zeit wird sich gewiß eine finden. Es thut mir dahei leid, dem Herrn Appelius abzusagen, und, lieber Bruder, wenn Du wolltest so gut sein, thue ihm dies kund. – Für Deine Bemühungen sage ich den allerbesten Dank, und noch mehr für Dein Angebot, daß du nämlich den Eltern die Summe des Lehrgeldes verringern wolltest. Ich sehe nämlich daraus, daß Du Deinen Bruder noch immer innigst liebst, und daß Du Dich bemühst, mich wo anzubringen. Wenn Du jedoch bei diesem Lehrgeld auch etwas beitragen wolltest, so würde mir weit lieber sein.

Mit „diesem Lehrgeld“ war das für eine Lehre als Förster und Jäger gemeint. Aber dann fiel der besagte Würfel doch, denn die Eltern und sein älterer Bruder sprachen ein Machtwort: „Du gehst nach Berlin und wirst Apotheker!“

Kapitel Zwei

Amalia – nicht die aus den „Räubern“

1841

Ferdinand Schmidt litt unter dem Gleichmaß seiner Tage ebenso wie er sie genoss. Hörte er die Alten von den Schlachten berichten, die sie in den Befreiungskriegen geschlagen hatten, bei Möckern und Großgörschen, bei Dennewitz und Leipzig, bei Bar-sur-Aube und bei Waterloo, dann wurde er ganz neidisch, denn auch er dürstete heimlich nach Größe und nach Heldentaten, andererseits schauderte ihn beim Gedanken, dass die Lanze eines Ulanen seine Brust durchbohrte oder ihm die Kugel eines Infanteristen das Hirn zerfetzte. Da lag er doch lieber im warmen Bett oder stand vor seiner Klasse und ließ sie ein Diktat schreiben. So wie heute. Da hieß das Thema „Wir fahren mit der Eisenbahn“.

„Legt eure Schiefertafeln auf das Pult, wischt sie noch einmal sauber – und dann los: Wir … fahren … mit … der … Eisenbahn ...“ Immer schön langsam, damit auch die mitkamen, denen der Herr nicht gerade ein Übermaß an geistigen Gaben mit auf den Lebensweg gegeben hatte. Die Eisenbahn war etwas, das die Kinder begeisterte und – neben dem König und den Siegen über Napoleon – am ehesten dazu brachte, bei der Sache zu sein.

„Wir … tre-ten … am … Pots-da-mer Platz … in … die … große Bahn-hofs-halle … Wir … tre-ten … am … Pots-da-mer Platz … in … die … große Bahn-hofs-halle ...“

Obwohl er den ersten Satz noch dreimal wiederholte, kamen nicht alle mit und resignierten schon ganz am Anfang. Wie schrieb man Potsdam und wie Bahnhofshalle?

Ferdinand Schmidt, gerade 25 Jahre alt geworden, unterrichtete jetzt in der 55. Gemeindeschule, die auf dem Grundstück Choriner Straße 74 gelegen war. Von seiner bescheidenen kleinen Wohnung in der Gipsstraße bis dorthin war es kein allzu langer Weg. Eine Gemeindeschule war keine Armenschule, aber auch hier im neu entstehenden Stadtteil nördlich der Torstraße lebten nicht gerade Adel und Großbürgertum.

„Und bei aller Liebe zu den Armen, wünschte ich mir doch manchmal, Lehrer an einem Gymnasium zu sein“, sagte er eines Abends zu seinem Freund Albrecht Strzelczyn. „Wo der eigene Geist ein wenig gefördert wird.“

„Such dir eine Frau, die dir in dieser Hinsicht etwas abverlangt.“

Ferdinand Schmidt lachte. „Bettina von Arnim ist wohl etwas zu alt für mich und außerdem schon lange vergeben.“

„Wenn du jeden Abend allein zu Hause sitzt und Bücher liest, wirst du nie eine finden“, stellte Strzelczyn fest.

„Weiß man´s? Wenn der Herr es will, lässt er einen Witwer mit einer wunderschönen Tochter in meine Nachbarwohnung einziehen, und bei denen brennt es dann und ich rette sie aus den Flammen.“

„Schreibst du jetzt Liebesromane?“

„Nein, ich sitze immer noch an der Preußischen Vaterlandskunde für Schule und Haus, und über Friedrich Schiller will ich auch noch etwas schreiben, ein Lebensbild für Jung und Alt, so der Arbeitstitel.“

Strzelczyn prustete los. „Na, dann widme dich mal ganz besonders der Amalia aus den Räubern, damit die Kinder früh begreifen, was eine Geliebte ist. Apropos, Amalia: Kennst du eigentlich den Hollmann?“

„Wer kennt den Hollmann nicht?“ Karl Friedrich August Hollmann war ein Tuch- und Seidenkaufmann und ehrenamtlicher Stadtrat dazu, der es als sein Lebenswerk betrachtete, mit seinem Vermögen den Armen zu helfen. „Wieso, was ist mit dem?“

„Seine Wilhelminen-Amalien-Stiftung eröffnet heute in der Linienstraße ein Haus für bedürftige Beamtenwitwen und -töchter. Ich bin dazu eingeladen worden – kommst du mit?“

„Ich soll mir da wohl 'ne noch gut erhaltene Beamtenwitwe angeln, wie?“

Strzelczyn grinste. „Nee, aber vielleicht 'ne Tochter.“

Ferdinand Schmidt winkte ab. „Was ich brauche, ist die Tochter eines steinreichen Mannes – damit ich dann, wenn die mal erbt, mit ihrem Geld eine eigene Stiftung ins Leben rufen kann.“

„Am besten wäre eine Bankierstochter. Hat Joseph Mendelssohn eine?“

„Weiß ich nicht, aber die Juden werden keinen Goi in der Familie haben wollen.“

Der Freund wurde langsam ungeduldig. „Kommst du nun mit zur Wilhelminen-Amalien-Stiftung?“

„Ja, aber nur, wenn du mir garantierst, dass ich eine Wilhelmine oder Amalie kennenlerne.“

„Gut, du hast mein Wort.“

So zogen sie gemeinsam zur Linienstraße, wo sich im Erweiterungsbau des Stiftungshauses schon alles versammelt hatte, was in der Armenfürsorge Rang und Namen hatte und engagiert war. Es gab eine Reihe von Reden, von denen die Karl Hollmanns noch die kürzeste war. Als Letzte betrat die Posthilfsschaffnerswitwe Minna Liesegang das Podium, um sich im Namen aller derer zu bedanken, die künftig in der Linienstraße zu Hause sein durften.

„Meine Tochter Amalia und ich danken dem edlen Spender von ganzem Herzen, und wir wünschen uns, dass der Herr seine Großzügigkeit und Güte belohnen werde.“

Für diese Worte bekam sie von allen Seiten herzlichen Beifall, und eine junge Frau, offenbar ihre Tochter, trat vor, um sie zu umarmen und ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.

„Nicht doch, Amalia!“, rief die Posthilfsschaffnerswitwe. „So in aller Öffentlichkeit.“

Strzelczyn stieß Ferdinand Schmidt den Ellenbogen in die Seite. „Mensch, das wäre eine für dich! Und auch noch eine Amalia, wenn auch nicht die aus den Räubern. Aber dafür hat sie vielleicht noch keinen Geliebten ...“

Ferdinand Schmidt stöhnte auf. „Du, ich bin nicht einer, der jetzt auf sie zugehen könnte und … Das wäre zu unschicklich.“

„Dann lass mich das machen.“ Strzelczyn wartete einen passenden Augenblick ab, trat dann mit einer leichten Verbeugung auf die Damen zu und stellte sich vor.

Minna Liesegang reagierte mit ostentativer Kühle. „Ick wüsste nich, det ick oder meene Tochter Ihnen jerufen hätten ...“

Ihrer Tochter war diese Abfuhr, die ihre Mutter dem jungen Mann erteilte, offenbar peinlich, denn sie lächelte ihm zu und erkundigte sich nach seinem Anliegen.

„Mein Freund Ferdinand Schmidt dort drüben, der zudem noch ein hervorragender Schriftsteller ist, und ich, wir sind Lehrer an Gemeinde- und Armenschulen und suchen ständig nach couragierten Frauen, die zu uns in die Klassen kommen, um den Mädchen zu zeigen, dass aus ihnen mehr werden kann als ein Dienstmädchen oder eine Hökerin auf dem Haak´schen Markt.“

„Amalia, dafür gibst du dich nicht her!“, rief Minna Liesegang. „Das haben wir nicht nötig.“

Als Apothekerlehrling in Berlin

1841

Ernst Schering hatte kapituliert, aber es war keine bedingungslose Kapitulation gewesen.

„Wenn ich schon Apotheker werde … werden muss, dann will ich aber nicht in Prenzlau in die Lehre gehen, sondern in Berlin – und zwar bei Friedrich Appelius.“

Und so war sein Bruder August in die Appelius´sche Apotheke geschickt worden, um inständig zu bitten, Ernst doch als Lehrling aufzunehmen, man hätte ihn ja beim letztjährigen Besuch in Prenzlau schon kennengelernt. Daran konnte sich Appelius nur noch vage erinnern, er war aber von Hause aus nicht nur Apotheker, sondern auch Kommunalpolitiker – und als solcher dachte er natürlich sofort daran, dass ja August Schering im Justizministerium beschäftigt war und vielleicht einmal groß Karriere machen könnte. Solche Leute musste man sich warmhalten, denn es konnte ja sein, dass er einmal in die Bredouille geriet und einen Fürsprecher „bei Preußens“ brauchte.

„Gut, schicken Sie mir Ihren Ernst nach Berlin.“

Der hatte, als er davon erfuhr, gemurmelt: „Schicke ich mich also in mein Schicksal.“

Nun war er also in Berlin angekommen, aber als er die Appelius´sche Apotheke in der Roßstraße 21 betreten hatte, nahm keiner Kenntnis von ihm, denn alles redete nur von Karl Friedrich Schinkel. Der war am 9. Oktober in Berlin verstorben.

„Im letzten Frühjahr ging es los bei ihm“, sagte einer derer, die auf die Einlösung ihres Rezeptes warteten. „Da ist er mit der Eisenbahn nach Potsdam gefahren und eine Lähmung der rechten Hand hat ihn befallen. Auch ist sein Geruchssinn immer schlechter geworden.“

„Ja, und als sie Friedrich Wilhelm IV. gekrönt haben, war Schinkel nicht da, und der König war mächtig gekränkt.“

„Richtig, Herr Niedergesäß. Dann hat er ein paar Schlaganfälle erlitten.“

„Wer: Schinkel oder der König?“

„Schinkel natürlich! Danach konnte er nicht mehr richtig sehen und sprechen und ist nur noch dahingesiecht.“

„Ja, man kann noch so berühmt sein: Der Tod macht vor keinem halt.“

„Begraben wird er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.“

„Unter dem geht’s ja nicht.“

„Ob er auch ein schönes Mausoleum für sich selbst entworfen hat?“

Ernst Schering hatte gebannt gelauscht. So waren also die Berliner. Schnoddrig und drastisch, und alle dachten sie: Mir kann keena.

Ernst Schering wartete bis alle Kunden bedient worden waren, dann sprach er den ältesten der anwesenden Gehilfen an, einen gebeugten Mann mit kahlem Schädel, Herrn Niedergesäß, wie er eben gehört hatte, und stellte sich vor. „Ich bin der Neue aus Prenzlau.“

„Na, dann: herzlich willkommen!“, rief Niedergesäß und schüttelte ihm die Hand. „Soll ich Sie gleich mal bei der Stiftung anmelden?“

Ernst Schering war verwirrt. „Welcher Stiftung?“

„Na, der Buchholz-Gehlen-Trommsdorffschen Stiftung zur Unterstützung armer ausgedienter und würdiger Apothekergehülfen. Herr Appelius hat letztes Jahr immerhin drei Reichsthaler an milden Beiträgen gezahlt.“

„Ist das nicht ein bisschen früh?“

Niedergesäß lachte. „Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende! Nun gut, dann zeige ich Ihnen erst mal alles.“

Wie es in der Branche üblich war, wohnten die Gehilfen auch bei Friedrich Appelius im Haus, das heißt, im Dachgeschoss über der Apotheke. Zu dritt teilten sie sich eine Kammer unter dem Dach, und Ernst Schering als Jüngster bekam natürlich das Bett direkt unter der Schräge.

 

„Das ist sehr vorteilhaft“, erklärte ihm Niedergesäß. „Denn wenn wir alle hier schlafen, ist es immer mächtig heiß, und da haben Sie es dicht unter dem undichten Dach am besten, weil Sie bei Dauerregen die kühlenden Tropfen abkriegen. Aber Tropfen sind ja generell etwas, mit denen ein Apotheke ihr Geld verdient.“

Ernst Schering schafft es gerade noch zu murmeln, dass er begeistert sei. „Vielleicht schafft es der Dachdecker ja mal, das Loch zu finden.“

„Hoffen wir´s. Aber trösten Sie sich: Wenn ich das Zeitliche segne, bekommen Sie mein Bett.“

„Oh, verbindlichsten Dank!“

„Gut.“ Niedergesäß wandte sich zur Tür. „Dann steigen wir mal wieder hinab, damit ich Ihnen die heilige Stätte einer Apotheke zeigen kann: das Officin, ihr neues Reich.“

„Ich bin gespannt.“

„Officin kommt aus dem Lateinischen“, begann Niedergesäß, als sie an Ort und Stelle angekommen waren. „Officīna, die Werkstätte. Hier werden die von den Ärzten verschriebenen Arzneien nach der Verordnung her- und bereitgestellt, und hier finden sie alles, was schon fertig ist und von den Kunden verlangt wird. Trocken, hell und kühl soll es hier sein, Sonnenstrahlen sind unerwünscht. Sie finden hier die gängigen Arzneien in kleineren Standgefäßen, jeweils in Quantitäten, die dem normalen Bedürfnis angemessenen sind. Alles nach Rubriken und alphabetisch geordnet. Daneben haben wir die Tinkturen, ätherischen Öl und destillierten Wasser in weißen, mit deutlichen Aufschriften versehenen Gläsern stehen. Die Stöpsel müssen gut schließen, damit nichts verdunstet.“

„Ja, ich verstehe.“ Ernst Schering fühlte sich an eine Stelle aus dem Faust erinnert: Mir wird von alledem so dumm, / Als ging, mir ein Mühlrad im Kopf herum.

„Hier in den porzellanen oder steingutenen und mit Deckeln versehenen bauchigen Gefäßen mit speziellen Ausgüssen bewahren wir Sirupe, fette Öle und andere dickflüssige Substanzen auf.“ Niedergesäß leierte weiter das herunter, was er seit Jahrzehnten jedem Lehrling zu erzählen hatte. „Extrakte, Salben und desgleichen, metallische, trockene Präparate bewahren wir in zylindrischen Gefäßen auf, gröbere, metallische, erdige, vegetabilische und animalische Substanzen aber, die sich durch den Einfluss von Luft verändern könnten, kommen in hölzerne Büchsen, welche mit einem eingesalzten Deckel verschlossen werden. Kräuter, Wurzeln, Hölzer, zum Teil auch Blumen, mehrere Früchte et cetera stecken hier in den Schiebekästen. Denn, Schering, Ordnung ist …?“

„Das halbe Leben.“

„Richtig! Und was haben wir noch so alles…? Vegetabilische Pulver, welche flüchtige Teile enthalten, und andere stark riechende Substanzen befinden sich in dick schließenden Gläsern oder Büchsen, die in einer Blase stecken. Für Gifte haben wir besondere, fest verschließbare Schränke. Auf dem Rezeptiertisch, den Sie hier in der Ecke sehen, werden die Arzneien nach ärztlicher Verordnung zubereitet. Hier finden Sie alles, was man so braucht: Waagen, Schachteln, Kapseln, Spatel, Mörser, Pillenmaschinen, Mensuren und ähnliche Gerätschaften. Das alles werden Sie in Ihrer Lehrzeit gebrauchen und lieben lernen.“

Während er sich bei seinem Cicerone für die ausführliche Einweisung bedankte, hörte Schering im Hintergrund einen Gehilfen murmeln, dass „Tiefarsch“ wieder mal groß in Fahrt gekommen sei.

Auch Niedergesäß hatte es gehört. „So geht es halt bei uns zu: Rau, aber herzlich.“

Den ersten Tag seiner Lehrzeit brachte Schering damit zu, im Lehrbuch der Apothekerkunst von Karl Gottfried Hagen zu blättern, dessen 7. Ausgabe 1821 in Königsberg erschienen war, oder Lebertran in Flaschen zu füllen. Der war den Leuten von Armenärzten für ihre rachitischen Kinder verschrieben worden, Niedergesäß meinte aber zu wissen, dass sie ihn in ihren Lampen verbrannten, um es in ihren Behausungen nicht allzu düster zu haben.

Als er am Abend bei seinen Bruder in dessen Wohnung in der Dorotheenstraße saß, war Ernst Schering den Tränen nahe.

„Deswegen lebe ich nun, o Gott, nein!“

Da schnauzte August ihn an. „Mensch, hör auf zu jammern! Der Pharmazie und der Chemie gehören die Zukunft. Komm, ich nehm dich am Wochenende mal mit nach Oranienburg, da werkelt der Runge in seiner chemischen Fabrik herum. Ich habe dort im Auftrage der Preußischen Seehandlung etwas Juristisches zu erledigen.“

Auf dem Weg nach Oranienburg war viel Zeit, über Friedlieb Ferdinand Runge zu reden. Er war am 8. Februar 1794 in Hamburg-Billwerder geboren worden und hatte nach Ende seiner Schulzeit in zwei Lübecker Apotheken gelernt. Von 1810 bis 1816. Anschließend hatte er in Berlin, Göttingen und Jena zuerst Medizin, dann Chemie studiert. Zwei Promotionen waren gefolgt, die zum Dr. med. und die zum Dr. phil., letztere mit einer Arbeit über das Indigo. 1826 war Runge Privatdozent und 1828 außerordentlicher Professor für Technologie in Breslau geworden, um dann vier Jahre später seinen Lehrstuhl aufzugeben und nach Oranienburg zu gehen, wo sein Freund, der Apotheker Hempel, 1814 eine Schwefelsäurefabrik gegründet hatte – im Schloss. Hier hatte Runge ein eigenes Labor bekommen und freie Hand, was die Forschung betraf.

Ernst Schering war tief beeindruckt, als sein Bruder die Vita Runges vor ihm ausgebreitet hatte, aber seine Gefühle war eher zwiespältig. Einerseits bewunderte er den Mann, andererseits aber verfluchte er ihn, denn Runge ließ ihn, Ernst Schering, mutlos werden: Gott, was der erreicht hat, wirst du nie erreichen können. So war sein Kommentar auch eine Abwertung des Heros: „Der Mann scheint ja ein richtiges Genie zu sein.“

„Ja, und offenbar so verschroben, wie es sich für ein echtes Genie eben gehört.“

Sein Bruder schien nicht im Geringsten zu verstehen, was in ihm vorging. Das kann man ja auch von einem Juristen nicht verlangen. Wahrscheinlich hatte er es wirklich gutgemeint, ihn zu Runge mitzunehmen.

Nun, Friedlieb Ferdinand Runge war wirklich ein wenig verschroben. Als man ihm August Schering und seinen Bruder gemeldet hatte und die Frage kam, ob denn Oranienburg in Zukunft kommerziell wirklich noch etwas einbringen würde, stürzte er aus dem Schloss und rief nur: „Mir nach, meine Herren!“

Hinter dem Schloss gab es mehrere Tümpel, die mit einer übel riechenden schwarzen Masse gefüllt waren. Lattenzäune umgaben sie, dass ja keiner hinein fiel.

„Ist das Pech?“, fragte Ernst Schering.

Runge lachte. „Nein, Glück. Mein Glück: Steinkohlenteer. Daraus habe ich Karbolsäure destilliert – und Anilin. Da erspart uns die Einfuhr von Indigo. Und weil Sie danach gefragt haben, ob sich die chemische Fabrik hier für die Seehandlung rechnet: Die Stearin- und die Paraffinkerze, die sind hier erfunden worden, von mir, und deren Produktion bringt ja nicht nur Helligkeit in die Stuben – und hoffentlich auch in die Köpfe, sondern auch eine Menge Geld ein.“