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Serenus Schoetensack

1841

Eigentlich war er der geborene Schauspieler, aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, wirklich einmal Schauspieler zu werden, denn nie hätte er sich der Diktatur eines Regisseurs oder Intendanten unterwerfen können, auch war es ihm zuwider, das nachzusprechen, was sich irgendein hergelaufener Dichter irgendwann einmal ausgedacht hatte. Fragte ihn seine Mutter, was er denn einmal werden wollte, bestand seine Antwort aus nur einem Wort. „Nichts.“ – „Ein Taugenichts, wie?“ – „Ja.“ Er konnte so reden, weil sein Vater ein reicher Mann war, und ihn sein Bankhaus in Hannovers Innenstadt von Tag zu Tag noch reicher werden ließ. Da gab es also so viel zu erben, dass es für zwei Leben in Saus und Braus gereicht hätte. Doch seine Mutter, vom pietistischen Ethos erfüllt, wollte unbedingt, dass er „was Anständiges“ lernte und klemmte sich hinter ihren Mann. So wurde er eines Nachmittags ins Arbeitszimmer seines Vaters kommandiert.

„So kann das mit dir nicht weitergehen, Serenus!“, rief Anton Schoetensack.

„Womit, Vater?“

„Dass du nach deinem Schulabschluss ein Bummelant geworden bist.“

„Ich bin noch auf der Suche nach mir selbst.“

„Na, vielleicht findest du dich in Berlin“, erwiderte sein Vater darauf, mehr drastisch als ironisch. „Ich habe sagen hören, dass sich mit Chemie und der Pharmazie in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts viel Geld verdienen lassen wird, und darum haben deine Mutter und ich uns entschlossen, dass du Apotheker lernen sollst.“

„Nein!“, entfuhr es ihm.

„Doch. Der Friedrich Appelius ist ein alter Freund von mir, und in der Dachkammer über seiner Apotheke gibt es noch ein freies Bett, und darin sollst du in Zukunft liegen“.

Was war ihm da anderes geblieben, als zähneknirschend zuzustimmen, da er im Falle einer Weigerung nichts mehr geerbt hätte.

So lag er schon bald in dem Bett, von dem sein Vater gesprochen hatte, und hatte Mühe, mit all den Zwängen und Pflichten zurechtzukommen, die seiner harrten. Die anderen Bediensteten der Appelius´schen Apotheke waren absolut nicht seine Hutnummer, nur mit seinem Bettnachbarn, dem Ernst Schering aus Prenzlau, kam er so einigermaßen klar, obwohl der auch nicht gerade das war, was man einen bunten Vogel nannte. Aber man konnte mit ihm wenigstens plaudern, ohne dabei auf der Stelle einzuschlafen.

„Schoetensack …?“, fragte Ernst Schering. „Kommt das von einem Sack voller Schoten?“

„Nein, Schoeten sind auf Plattdeutsch die Schüsse.“

„Ein Sack voller Schüsse …?“

„Die einen sagen, einer meiner Urahnen soll Säcke mit Munition geschleppt haben, die anderen behaupten, er habe so schlecht geschossen, dass er immer nur die Säcke getroffen hat, die sie neben der Schießscheibe als Kugelfang aufgehängt haben. Aber als ob das nicht gereicht hätte, dass man so einen komischen Nachnamen hat, mein Vater musste mich auch noch Serenus nennen.“

„Nach den Sirenen, die Odysseus verführen wollten?“

„Nein, lateinisch: serenus, a, um – heiter, klar, hell, fröhlich.“

So richtig fröhlich aber war Schoetensack in der ersten Woche seiner Apothekerlehre kaum. Es war außerordentlich lässig, diesen ganzen botanischen Kram zu lernen: Die Echte Kamille – Matricaria chamomilla oder auch Matricaria recutita. Der Rote Fingerhut – Digitalis purpurea. Baldrian ...

„Baldriane – lateinisch: Valeriana - sind eine Pflanzengattung aus der Familie der Geißblattgewächse – Caprifoliaceae“, erklärte ihm Niedergesäß, der ja als Apothekergeselle die Beschulung der Lehrlinge zu besorgen hatte. „Baldrian ist eines unser besten Schlaf- und Beruhigungsmittel.“

Für Schoetensack war Niedergesäß das beste Schlafmittel, und um etwas Leben in die Bude zu bringen, begann er zu spinnen.

„Manchmal kommen aber auch junge Männer zu uns, um Baldrian zu kaufen, weil sie sich von ihm bei der Minne einiges versprechen, denn wie heißt es doch so schön: Jüngling, trage eine Baldrianwurzel in der Tasche und sage den Zauberspruch: Baldrian, greif mir dran! Dann kann dir die Maid nichts verweigern. Oder auch: Nimm Baldrian in den Mund und küsse die, die du haben willst; sie gewinnt dich gleich lieb.“

Niedergesäß guckte indigniert. „Darüber schweigen wir aber in unserer Apotheke.“

Schoetensack ahnte, dass ihm der Mann sein Engagement an dieser Bühne gründlich vermiesen würde. Die Kollegen trösteten ihn damit, dass sie „Tiefarsch“ auch nicht sonderlich leiden konnten, Appelius aber große Stücke auf ihn hielte.

„Nun, ja: De Minsch mutt pisackt warrn, dat he Lust kriggt to`n starwen.“

„Wie?“

„Der Mensch muss geärgert werden, dass er Lust kriegt zum Sterben.“

„Na, ganz so schlimm ist der Tiefarsch nun wirklich nicht“, wandte Ernst Schering ein.

Schoetensack musterte ihn. „Sieh mal an, ein Philanthrop.“

„Jeder Apotheker ist zuerst Philanthrop und dann erst Chemiker“, erklärte ihnen Niedergesäß, der eben in den Officin getreten war und die letzten Worte mitgehört hatte. „Und im übrigen, meine Herren, kommt mein Name von der vergessenen Bedeutung des Wortes Gesäß. Im Althochdeutschen meinte das einmal Wohnsitz, und Bauern, die ihren Hof unten im Tal hatten, in der Niederung also, nannte man so, als die Nachnamen in Deutschland eingeführt wurden, eben Niedergesäß. Und damit die Herren Schering und Schoetensack das begreifen, laufen sie jetzt einmal zum Königlichen Botanischen Garten und holen mir dort den Titanenwurz – Amorphophallus titanum – ab, den mir ein Freund, ein Pflanzenaufseher dort, bereitlegen wollte.“

Das konnte man fast als eine harte Strafe werten, denn der Botanische Garten lag eine halbe Stunde vor dem Potsdamer Tor in Schöneberg, sie hatten also eine halbe Ewigkeit zu latschen.

Schoetensack fluchte. „Lewwer duad üüs Slaav!“

„Wie?“

„‚Lieber tot sein, als ein Sklave!‘ Freiheitsmotto des friesischen Fischers Pidder Lüng aus Hörnum auf Sylt, dem Amtmann von Tondern, und seinen Schergen gegenüber geäußert.“

„Na, so schlimm ist es ja nun auch wieder nicht“, beeilte sich Schering alles abzuwiegeln.

„Nun gut.“ Schoetensack fing sich wieder. „Nehmen wir die guten Seiten. Treffe ich im Botanischen Garten wenigsten mal den Adalbert von Chamisso.“

„Wen?“, fragte Ernst Schering.

„Naturforscher und Dichter. Peter Schlemihls wundersame Geschichte, Die Sonne bringt es an den Tag, Frauen-Liebe und Leben ...“

„Gott, sind Sie gebildet!“, rief Ernst Schering.

„Mit der Einschränkung, dass Chamisso seit zwei Jahren nicht mehr als Pflanzenaufseher im Botanischen Garten tätig ist“, ließ sich Niedergesäß, der alles mitgehört hatte, aus dem Nebenzimmer vernehmen. „Diese Halbbildung immer.“

„Los, gehen wir!“, Schoetensack zog Schering auf die Straße hinaus. „Sonst vergesse ich mich noch.“

Wie erwartet, war es ein langer und ziemlich mühsamer Weg, zumal es am Leipziger Platz zu regnen begann.

„Der Niedergesäß kann uns mal“, sagte Schoetensack. „Nehmen wir einfach die Eisenbahn.“

„Das Fahrgeld wird uns doch Appelius niemals wiedergeben!“, rief Schering.

„Lassen Sie mal, das geht alles auf meine Rechnung.“

Das Personengeld von Berlin bis Schöneberg, und umgekehrt von Schöneberg bis Berlin betrug pro Fahrt und Person 2 Silbergroschen, die Billets für Hin- und Rückfahrt waren auf dem Berliner Bahnhof an der Kasse für Steglitz zu lösen. So fuhren sie denn in zehn Minuten vom Potsdamer Bahnhof zum Haltepunkt Schöneberg – und waren fast schon am Tor des Botanischen Gartens angekommen. Das Abholen des Titanwurzes war schnell erledigt.

„Wahrscheinlich würzt der Niedergesäß sein Essen damit, auf dass er endlich ein Titan werde“, sagte Schoetensack.

„Er soll versuchen, daraus ein Aphrodisiakum zu gewinnen und zu verkaufen“, verriet ihm Ernst Schering.

Schoetensack grinste. „Keine schlechte Idee: In den Worten Amorphophallus titanum stecken ja Amor und Phallus, muss man nur noch das pho erklären. Meiner Erinnerung nach ist Pho eine traditionelle Suppe der vietnamesischen Küche. Mein Vater ist ein Freund exotischer Speisen, und da hat öfter etwas auf dem Tisch gestanden, was sonst keiner kennt.“

Durch die Benutzung der Eisenbahn hatten sie viel Zeit gewonnen, die sie nutzen konnten, sich in der Stadt herumzutreiben.

„Mal sehen, ob ich meinen Vetter um drei Ecken finden kann, den Carl Schoetensack. Der hängt mit der Stendaler Linie unseres Hauses zusammen. Er soll es aber nicht weit gebracht haben, Tagelöhner soll er sein, Arbeitsmann, und in der Mohrenstraße wohnen.“

„Wenn wir da sind, können wir ja mal meinen großen Bruder besuchen“, schlug Ernst Schering vor, und seine Augen leuchteten dabei. „Er ist Beamter im Justizministerium in der Wilhelmstraße, hat aber auch schon einiges veröffentlicht. Ich kann das sogar auswendig hersagen: Der Mandats-summarische und Bagatell-Prozess und eine Anleitung zur Anfertigung von Referaten, wissenschaftlichen Arbeiten, Anklageschriften und Akten-Auszügen in Begnadigungssachen.“

„Bravo!“, Schoetensack klatschte in die Hände. „Wenn ich in meinem nächsten Leben Jurist werde, weiß ich ja, wo ich anzufangen habe.“

„Glauben Sie etwa an die Wiedergeburt?“, fragte Ernst Schering mit einigem Entsetzen.

Schoetensack lachte. „Ich glaube an alles, was einem Hoffnung macht, aber ich weiß auch einiges: zum Beispiel, dass ich schon mehrmals auf der Welt gewesen bin. Am meisten Spaß gemacht hat mir mein Leben als Titus Petronius, geboren um 14 nach Christus, bekannt als Arbiter Elegantiae, als Schiedsrichter des feinen Geschmacks. Ein Kenner feiner Genüsse mit dem Müßiggang aus großer Leidenschaft, und immer einem lockeren Spruch für alles auf den Lippen.“

 

„Das ist also Ihr großes Vorbild?“

„Ja.“ Er musste schmunzeln, denn Ernst Schering reagierte auf dieses Bekenntnis doch mit gelindem Entsetzen. „Dass ich Serenus heiße, sagt doch alles.“

Nicht mehr ganz so heiter war er allerdings, als er seinen entfernten Verwandten zu Gesicht bekam, denn Carl Schoetensack lag in einer verwanzten Dachkammer auf einem löchrigen Strohsack und schlief seinen Rausch aus. Es stank so nach billigem Fusel und Erbrochenen, dass sie schnell die Luke aufreißen mussten, um nicht zu ersticken.

„Du bist also der Sohn vom Onkel Heinrich?“, fragte Carl Schoetensack, als er halbwegs zu sich gekommen war.

„Nein, Heinrich ist der Gymnasiallehrer in Stendal, mein Vater ist der Onkel Anton aus Hannover.“

„Ach, der saubere Herr Bankier. Alles dasselbe Pack!“, schimpfte Carl Schoetensack, während er sich aufsetzte. „Was wir brauchen, ist eine Revolution, die alle hinwegfegt.“ Und dann begann er den Refrain der Marseillaise zu singen. „Aux armes, citoyens, / Formez vos bataillons, / Marchons, marchons! Zu den Waffen, Bürger! / Schließt die Reihen, / Vorwärts, marschieren wir!“

Während Serenus Schoetensack mit einstimmte, legte Ernst Schering nur den Finger auf den Mund. „Pssst! Sie werden uns noch als Demagogen verfolgen.“

Serenus Schoetensack lachte. „Etwas Besseres kann einem doch gar nicht passieren, um in Deutschland berühmt zu werden.“

Dann ließ er sich von Carl erzählen, welch elendes Leben die Tagelöhner derzeit führten, steckte ihm etwas Geld zu und lud ihn zu einer ordentlichen Mahlzeit ein. Der Vetter über drei Ecken war ein sympathischer Brummbär, und wenn es in Preußen eine Revolution geben sollte, dann war ihm, Serenus, diese sehr willkommen. Vielleicht nicht so sehr, weil er demokratischen und liberalen Ideen anhing, sondern weil eine Revolution immer ein mächtiges Spektakel war. Und wenn dann ein König in den Sack niesen musste, hatte man noch jahrelang etwas zum Diskutieren, und die Stückeschreiber konnte etwas Anständiges auf die Bühne bringen, so wie Franz Grillparzer mit seinem Trauerspiel König Ottokars Glück und Ende.

Nachdem sie mit Carl Schoetensack bei Casteeli Unter den Linden 64 gut gespeist und getrunken hatten, schauten sie bei August Schering im Justizministerium vorbei, und Serenus Schoetensack musste bei dessen Anblick unwillkürlich schmunzeln, denn der Mann war genauso steif und würdig, wie ein preußischer Beamter zu sein hatte, wenn er die Jurisprudenz studiert hatte und in den Staatsdienst eingetreten war. Das gehörte halt zu seiner Rolle, und was das betraf, da hatte Schoetensack seinen Shakespeare – As You Like It – voll verinnerlicht: All the world's a stage, and all the men and women merely players.

Jetzt wurde es Zeit, in die Appelius´sche Apotheke heimzukehren, sonst wurde Niedergesäß unruhig und dachte sich womöglich Strafen für sie aus, die zu verbüßen mit wenig Spaß verbunden war. Nein, er war ganz friedlich und nahm den Titanwurz aus dem Botanischen Garten dankend entgegen, am nächsten Morgen aber folgte das nächste Recontre.

Serenus Schoetensack nämlich liebte es, bis weit in den Vormittag zu schlafen, und jeden Morgen um 7 Uhr hatte Niedergesäß große Mühe, ihn aus dem Bett zu holen.

„Aufstehen, du Faulpelz! Wir sind hier in der Appelius´schen Apotheke und nicht im Grand Hotel in Karlsbad.“

„Warum eigentlich nicht?“

Daraufhin hatte ihm Niedergesäß vor zwei Tagen die Bettdecke weggerissen und ihm, als diese Aktion keinerlei Wirkung zeigt, einen Eimer kalten Wassers über den Kopf gekippt. Und da das Bettzeug in der kalten Dachkammer bis zum Abend nicht getrocknet war, fing sich Schoetensack eine heftige Influenza ein. Während er dalag und schwitzte, sann er auf Rache, und als er in der Rekonvaleszenz in einem alten Medizinbuch blätterte, stieß er auf den sogenannten Schlafschwamm, den die Ärzte im Mittelalter bei Operationen zur Vollnarkose verwendet hatte. Man musste einen Schwamm mit Naturdrogen wie Efeu, Schierling, Maulbeersaft, Mandragorawein und Opium tränken. Das alles fand sich in der Appelius´schen Apotheke …

... und eines Morgens fehlte Niedergesäß beim gemeinsamen Frühstück aller Bediensteten mit dem Herrn Apotheker und seiner Familie.

„Nanu?“ Friedrich Appelius sah auf seine Taschenuhr. „Niedergesäß ist doch sonst immer die Ausgeburt an Pünktlichkeit. Gehe mal einer nachsehen.“

Ernst Schering lief in die Dachkammer hinauf und kam mit der Nachricht zurück, Herr Niedergesäß schliefe so tief und fest, dass selbst ein heftiges Wachrütteln nichts gebracht hätte.

„Er wird doch nicht etwa tot sein“, sagte Schoetensack.

„Nein, er atmet noch.“

Nun stieg Appelius selbst nach oben, und die Gerüche, die noch im Raum hingen, sagten einem erfahrenen Apotheker wie ihm sofort, dass hier jemand beim unerklärlichen Tiefschlaf seines Gehilfen nachgeholfen haben musste. Als er wieder unten am Tisch saß, ließ er seine Blicke nacheinander prüfend auf den Gesichtern seiner Lehrlinge und sonstigen Bediensteten ruhen. Serenus Schoetensack konnte das nicht in Panik versetzen, er lächelte lieb und gab die Unschuld in Person. Und richtig, Appelius schien ihn am allerwenigsten in Verdacht zu haben.

„Mein Herren, das ist kein Spaß, einen Mann zu betäuben, womit auch immer!“, rief Appelius nun mit heiligem Ernst. „Denn wie leicht kann es vorkommen, dass dabei die Atmung aussetzt und das Herz zu schlagen aufhört. Das ist zumindest grober Unfug, wenn nicht sogar ein Mordversuch. Wenn ich nun aber zum Criminal-Comissarius Werpel eile, hängt der die Sache bald an die große Glocke – und der Ruf meiner Apotheke wird in Mitleidenschaft gezogen. Andererseits mag ich aber den, der dem Niedergesäß das angetan hat, nicht länger hier in meinem Hause sehen. Also, machen wir miteinander folgenden Handel aus: Er verlässt, wenn er nur ein Fünkchen Ehre in sich hat, meine Apotheke – und wir vergessen das, was geschehen ist.“

Schoetensack zögerte keinen Augenblick aufzustehen und seinen Hut zu nehmen.

„Adieu, meine Herren! Ihre Innung hat einen Menschen wie mich wahrlich nicht verdient.“

Die Feile im Brot

1842

Nun war es schon fünf Jahre her, dass ihm der explodierende Böller das Gesicht zerfetzt hatte, und noch immer schaffte es Gottfried Nickholz nicht, ruhig in einen Spiegel zu sehen. Kam er in einen Raum, von dem er wusste, dass dort einer hing, betrat er ihn nur bei Dunkelheit oder schloss die Augen, bevor er die Tür öffnete, und warf ein Tuch über die Glasfläche. Er hasste sich zutiefst, hing aber zu sehr am Leben, so elend das auch sein mochte, als dass er einen Strick genommen und sich erhängt hätte. Was ihn am Selbstmord hinderte, war aber auch die Hoffnung, dass er eines Morgens erwachen würde und sein Gesicht über Nacht wieder gesund geworden wäre. Und noch etwas anderes trug ihn, je älter er wurde, und Neunzehn war er jetzt, die Erfahrung nämlich, dass er, so wie er war, einer war, den die Menschen fürchteten. Kam er einen schmalen Bürgersteig entlang, so wechselten die Prenzlauer schnell auf die andere Straßenseite, manche drehten sich sogar um und nahmen lieber einen Umweg in Kauf als ihm zu begegnen. Nicht nur sein Anblick schreckte sie ab, sondern auch die Angst davor, dass er vielleicht ein Grinsen bei ihnen erkannte und sich dadurch provoziert fühlte und sie zusammenschlug. Beim Tanz unterm Maibaum hatten ihn alle Mädchen, auf die er zugegangen war, um sie aufzufordern, abblitzen lassen. Die einen kalt, die anderen mit einem Ausdruck von Mitleid. Aber auch die hatten es nicht gewagt.

Nachdem er in Schwedt seine Lehrstelle als Tischler verloren hatte, war Gottfried Nickholz vom Vater nach Prenzlau zurückgeholt worden und arbeitete nun in dessen Bäckerei. Nicht zu Unrecht hatten seine Eltern gemeint, Bäcker sei der richtige Beruf für ihn, denn als solcher arbeite man überwiegend, wenn andere Leute noch schliefen, und dies auch noch hinten in der Backstube, im Verborgenen also.

Was ihnen verborgen blieb, war vor allem der Umgang ihres Sohnes. Es kam alles so, wie es kommen musste, denn da ihm der Zugang zu den bürgerlichen Kreisen verwehrt war, blieb ihm nichts anderes, als sich seine Freunde unter den randständigen Menschen zu suchen, und da war es vor allem ein gewisser Ferdinand Dünnebier, gerufen Nante, an den er sich eng anlehnte. Nante kam aus Berlin, war um Etliches älter als er und hatte schon mit diversen Besserungsanstalten und Gefängnissen Bekanntschaft gemacht.

Nante hatte schnell gemerkt, dass Gottfried Nickholz von allen Mädchen, auch der hässlichsten Magd zurückgewiesen wurde und inzwischen so stark unter Druck stand, dass zu befürchten war, er würde es bald nicht mehr aushalten und es mit einem Pferd oder einer Ziege treiben. Oder noch weitaus schlimmer, dass er über eine Frau herfiel und ihr Gewalt antat.

„Du, ich kenne da eine in Berlin, die kann dir für ein paar Silbergroschen zeigen, wie es geht.“

So nahm Nante Gottfried Nickholz mit in ein Bordell an der Königsmauer, und bewahrte ihn damit vor einer möglichen Straftat – um ihn kurz danach zu einer anderen anzustiften.

Jetzt passte der Freund ihn ab, als er am Abend dabei war, den Bürgersteig vor der väterlichen Bäckerei zu fegen.

„Hör mal, Gottfried, eine Hand wäscht die andere“, begann Nante.

„Ja, was gibt’s …?“

„Dein Vater liefert doch das Brot für den Knast hier bei euch in Prenzlau …?“

Gottfried Nickholz staunte über diese Frage. „Ja, warum?“

„Weil da ein alter Freund von mir einsitzt. Und der müsste noch zehn lange Jahre drin bleiben, wenn ihm vorher keiner hilft.“

„Wie soll ich dem denn helfen?“ Gottfried Nickholz verstand noch immer nichts. Das Prenzlauer Gefängnis war im Klausurbereich des Dominikanerklosters untergebracht, das der Stadt 1543/1544 nach der Säkularisation des Klosters zugefallen war, und lag in der Nähe des Unteruckersees an einer Straße mit dem Namen Uckerwiek. Er kannte es gut, weil er jeden Morgen die noch warmen Brote anliefern musste.

Nante fixierte ihn. „Mein Freund Ludwig hat seine Zelle im ersten Stock, und da kann er ganz gut nach unten klettern – wenn nur die Gitterstäbe nicht wären … Verstehst du jetzt, was ich meine?“

„Nein ...“

„Mensch, er braucht eine Feile für die Gitterstäbe, um sie auseinander biegen oder ganz rausbrechen zu können. Und wie kommt er zu dieser Feile? – Indem du sie in eines eurer Brote steckst, bäckst … oder sonst wie, was weiß ich!“

Gottfried Nickholz wusste ganz genau, dass er Nante diese Gegenleistung schuldig war, wollte er es nicht auf immer und ewig mit ihm verderben. Und er brauchte jemanden, wollte er nicht völlig isoliert sein und ohne jeden Schutz dastehen. Er würde wegen seines entstellten Gesichts noch viel mehr gehänselt werden, wenn die Spötter keine Angst gehabt hätten, von Nante dafür „eins aufs Maul zu bekommen“.

„Gut“, sagte er schließlich. „Ich mache es. Hast du die Feile gleich mitgebracht?“

„Ja ...“ Nante zog sie aus seiner Bluse hervor und drückte sie Gottfried Nickholz in die Hand. „Beeil dich damit, denn im Augenblick haben sie im Gefängnis einen Wärter, der ein bisschen schwerhörig ist, aber wer weiß, wie lange der noch im Dienst ist.“

„Ich verstehe … Heute Nacht noch, versprochen!“

Gottfried Nickholz ging beim Einschlafen den üblichen Ablauf hinten in der Backstube durch. Um 3 Uhr in der Nacht hatte er anzutreten. Zuerst musste er sich die weiße Arbeitskleidung anziehen und die Mütze aufsetzen, damit keine Haare in den Teig kamen. Anschließend legte der Meister, also sein Vater, genau fest, wer was wann zu machen hatte. Das dauerte keine halbe Stunde, dann ging es daran, den Brotteig zu wirken und zu gären und dann in den angeheizten Ofen zu schieben. Wenn sich sein Vater und der Geselle als „Teigmacher“ betätigt hatten, war es seine Aufgabe, die unförmige Teigmasse in kleine Portionen zu zerteilen und diese in den Gärkorb zu legen und in einen besonderen Raum zu bringen, wo abzuwarten war, bis die Brote richtig „gegangen“ waren. Erst dann kamen sie in den Ofen. Hinterher mussten sie, solange sie noch heiß waren, mit Wasser bespritzt werden, damit die Kruste schön glänzte.

Beim Portionieren gelang es ihm dann auch, als er für einen Augenblick allein war, die Feile mühelos in einem der Brote unterzubringen. Doch wie sollte er dann feststellen, in welchem Laib sie steckte, wenn man die Brote nachher wieder aus dem Ofen zog? Er musste das Brot mit der Feile irgendwie kennzeichnen. Aber wie? Brach er eine Ecke ab, sortierte der Vater das Brot aus, bevor es in den Ofen kam. Einen Buchstaben in den Teig ritzen ging nicht, das wäre dem Vater aufgefallen. Wirklich? Er nahm ihren Dialog vorweg: „Was soll denn das G hier oben auf dem Brot?“ – „Vater, das habe ich gemacht, weil ich genau dieses Brot nachher essen will.“ So malte er sich das in Gedanken aus, und so funktionierte es ein paar Stunden später auch – fast jedenfalls. Der Vater hatte zwar gemurmelt „das ist doch verrückt“, aber das G so gelassen, wie sein Sohn es in den Teig eingraviert hatte, der Geselle jedoch hatte alles wieder weithin glattgestrichen. Dennoch glaubte Gottfried Nickholz das Brot mit der Feile nachher wiedererkannt zu haben und drückte es Nante in die Hand, als der in einem günstigen Augenblick kurz in der Bäckerei vorbeischaute.

 

Der Vormittag verging, auch der Mittag, und Gottfried Nickholz fragte sich jetzt nur, wie Nante das Brot mit der Feile ins Zuchthaus geschmuggelt hatte. Wahrscheinlich hatte er das Pferdefuhrwerk mit dem die Bäckerei Nickholz ihre Ware ins Zuchthaus transportierte kurz zum Halten gebracht und sein präpariertes Brot unter die normale Ware geschmuggelt. Jetzt war nur noch darauf zu warten, dass sich in ganz Prenzlau ein Riesengeschrei erhob: „Aus'm Zuchthaus sind welche ausgebrochen!“ Doch das konnte dauern. Gottfried Nickholz machte Feierabend und zog sich zum Schlafen in seine Kammer zurück.

Derweilen stand seine Mutter im Verkaufsraum, um die wenigen Kunden zu bedienen, die zu dieser Tageszeit noch kamen. Männer schon gar nicht.

Und so war sie bass erstaunt, als der Pferdehändler Georg Grassow den Laden betrat. Ohne ein Wort zu sagen, knallte er ihr ein Brot auf die Ladentheke. Es zerfiel dabei in zwei Teile – nur zusammengehalten von einer … Feile.

„Was soll denn dieser Quatsch!“, schrie Grassow. „Ich wollte uns einige Scheiben abschneiden, da habe ich mir mein Messer kaputt gemacht!“ Er holte es aus einem Beutel hervor. „Das werdet ihr mir ersetzen. Und zum Gendarm gehe ich auch noch. Wer sitzt denn von euch im Zuchthaus, dass ihr den befreien wolltet!?“

Hulda Nickholz war mehr als verstört und rief nach ihrem Mann, der sich ebenfalls aufs Ohr gelegt hatte. Heinrich Nickholz kam in den Laden gestürzt und ließ sich unterrichten, wobei es eigentlich keiner Informationen mehr bedurfte, denn die Feile im Brot sagte alles.

„Da muss sich das Gesocks in meine Backstube geschlichen haben!“, rief er. „Ich habe doch diesen Nante hier bei uns vorm Laden gesehen. Da werde ich nachher gleich selber zum Gendarmen laufen, um das zu melden. Und Sie, Grassow, bekommen als Entschädigung bis zum Jahresende jeden Sonntag gratis eine Torte von mir.“

„Oh, danke, das wäre doch nicht nötig gewesen.“ So beschwichtigt zog der Pferdehändler wieder von dannen, nachdem ihm der Bäcker auch noch zwei neue Brote in die Hand gedrückt hatte. „Welche ohne Feile.“

Kaum war Grassow seinen Blicken entschwunden, griff Heinrich Nickholz das Brot mit der Feile vom Ladentisch, stürzte in die Kammer seine Sohnes und riss ihn vom Bett hoch.

„Kannst du mir das mal hier erklären – die Feile eingebacken im Brot!?“

„Nein.“

„Ist die alleine da reingekommen?“

„Nein, aber ..:“

„Du warst das nicht!?“

„Nein ….“

„Dann werde ich deinem Gedächtnis mal ein bisschen auf die Sprünge helfen!“ Und er warf das Brot mit der Feile beiseite, um mit beiden Fäusten auf seinen Sohn einzuprügeln. Obwohl Gottfried beide Hände und Unterarme schützend vor sein Gesicht hielt, war der Schmerz schnell so groß, dass er kapitulieren musste.

„Ja, ich war es! Aber hör auf!“

Heinrich Nickholz beruhigte sich wieder etwas und begann, vor dem Bett stehend, auf dem sein Sohn nun saß, mit seinem Verhör. Als Gottfried alles geschildert hatte und zum Ende gekommen war, zögerte er keinen Augenblick, den Bann über ihn zu brechen.

„Zum Gendarm werde ich nicht gehen, denn alles fiele ja auch mich und meine Bäckerei zurück, aber hier in Prenzlau kannst du nicht länger bleiben. Scher' dich zum Teufel!“

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