Mit Genuss in Taxe, Bahn und Bus

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Zum Bahn- und Busfahren allgemein

Die Qual der Wahl

Über x Möglichkeiten, ans Ziel zu gelangen

Wenn ich mit Bahn oder Bus ein Ziel innerhalb Berlins erreichen möchte, dann öffne ich erst einmal meinen Internetbrowser und klicke unter Favoriten den Routenplaner der BVG an. So gelange ich auf die Startseite, auf der ich den Abfahrts- und den Zielpunkt meiner Reise, die gewünschte Zeit meiner Abfahrt oder Ankunft und das Datum eingeben kann. Zu guter Letzt muss ich auf Verbindung suchen klicken. Diesmal will ich am Montag, dem 2. März 2015, zum Berliner ver.di-Hauptquartier, in dem auch der Schriftstellerverband (VS) untergebracht ist, also zur Köpenicker Straße 30 in 10179 Berlin-Mitte. Gewünschte Ankunft: 11 : 00 Uhr. Start: Bundesplatz (Berlin) (S+U). Der Routenplaner macht mir drei Vorschläge:

1. Mit der S 45 bis Hermannstraße, dann mit der U8 bis Heinrich-Heine-Straße und von dort mit dem Bus 265 bis Bethaniendamm (35 Minuten).

2. Mit der U9 bis Kurfürstendamm, dann mit der U1 bis Kottbusser Tor und von dort mit dem Bus 140 bis Bethaniendamm (40 Minuten).

3. Mit der Ringbahn S 42 bis Treptower Park, dann mit dem Bus 165 bis Bethaniendamm (44 Minuten).

Damit nicht genug, mir fallen spontan noch zwei andere Möglichkeiten ein, die ich dem Routenplaner entlocke, indem ich eine Zwischenstation mit Aufenthaltsdauer hinzufüge:

4. Mit der U 9 bis Kurfürstendamm, dort umsteigen in die U 1, bis Schlesisches Tor fahren und dann weiter mit dem Bus 165 bis Bethaniendamm (44 Minuten).

5. Mit der Ringbahn S 42 bis Ostkreuz, dann mit einem Zug der Stadtbahn bis Ostbahnhof, weiter mit dem Bus 147 bis Bethaniendamm (52 Minuten). Statt den Bus zu nehmen, könnte ich aber auch zu Fuß gehen (860 Meter).

Ja, was nun? Spontan fällt mir nur Goethes Faust ein: Da steh ich nun, ich armer Tor! / ​Und bin so klug als wie zuvor; / ​Heiße Magister, heiße Doktor gar […]. Für die Variante eins spricht die kürzeste Fahrzeit, aber an der Hermannstraße umzusteigen, das geht vom Gefühl her nur mit zwei Bodyguards und zugehaltener Nase. Denn die Treppen dort dienen offenbar als Pissoir. Und die Köpenicker Straße von der U-Bahn Heinrich-Heine-Straße ostwärts zu gehen ist nur etwas für einen, der auszieht, das Fürchten zu lernen. Also: Nein!

Variante zwei schließt ein zweimaliges Umsteigen ein, und dabei läuft man in Berlin immer Gefahr, im Krankenhaus zu landen, denn nach der Devise »Ohne Rücksicht auf Verluste« strebt alles dem Anschluss entgegen. Eine Freundin des Hauses ist vor nicht allzu langer Zeit auf dem U-Bahnhof Osloer Straße von einem eilenden Mann die Treppe hinuntergestoßen worden und durfte sich einer hübschen Gehirnerschütterung erfreuen. Wohl denen, die im Kopf etwas haben, das sich erschüttern lässt! Also: Nein!

Variante drei ist ganz hübsch, bedingt aber in Treptow einen längeren Fußmarsch von der S-Bahn zum Bus, der sogar den Gang durch einen Tunnel erfordert. Man muss immer lange auf den Bus warten und ist dabei einer solchen Menge von Abgasen und Feinstaub ausgesetzt, dass man sich sofort als COPD-Kranker (chronic obstructive pulmonary disease, Chronisch obstruktive Lungenerkrankung) fühlt. Außerdem lockt gegenüber der Bushaltestelle ein Taxistand, und es kostet erhebliche Kraft, dieser Versuchung zu widerstehen. Also: Nein!

Variante vier hat den Vorteil, dass man ab Kurfürstendamm in der U1 immer einen Sitzplatz findet und kurz vorm Gleisdreieck auf der Hochbahn eine schöne Sightseeingtour erleben kann. Aber dafür zweimal Umsteigen … Also: Nein!

Bleibt die Variante fünf. Am Ostkreuz wird immer noch gebaut, und alle naselang fährt mein Zug woanders ab. Wenn ich zu Fuß gehe, habe ich die Schillingbrücke zu überqueren. Dieser Weg ist zwar mit einer herrlichen Aussicht verbunden, aber ich leide unter einer Brückenphobie, seit ich im Alter von vier Jahren einmal von meinem Vater auf eine Oderbrücke in Steinau gesetzt wurde. Also: Nein!

Was soll ich nun machen? Die einfachste Antwort wäre: Zu Hause bleiben. Das geht aber nicht. Deshalb greife ich zum Würfel – das wird dann eine Art Gottesurteil, und ich werde es annehmen. Der Würfel rollt aus, das alea iacta est soll gelten. Es wird eine Sechs … Ich muss also eine sechste Variante finden. Die lautet dann wie folgt:

6. Mit der U9 bis Berliner Straße, umsteigen in die U 7, Mehringdamm aussteigen, dort in den 140er Bus einsteigen und bis Bethaniendamm fahren.

Das macht der Routenplaner der BVG nicht mit und bietet mir nur irrwitzige Verbindungen mit drei- bis viermal Umsteigen an. Aber es funktioniert mit dieser Route. Ich erreiche mein Ziel, ohne in ein Krankenhaus oder gar die Psychiatrie eingewiesen zu werden.

Allerdings … »Die Sitzung, zu der Sie wollen, findet erst morgen statt.«

Wazos Jünger

Über müffelnde Fahrgäste und das Studium von Kotzebues Werken

Wazo (985 – 1048), Theologe am Hofe des Salierkaisers Konrad II. und später Bischof in Lüttich, war ein ehrenwerter Mann, hatte aber eine kleine Marotte: Aus asketischer Bescheidenheit wusch er sich nie und stank deswegen gottserbärmlich.

Dieser Wazo muss in Berlin viele Jünger haben. Oft sitze ich in Bahn oder Bus neben einem von ihnen und tröste mich mit dem Spruch, mit dem früher immer der warme Mief in unseren Zimmern gegenüber dem kalten Ozon von draußen verteidigt wurde: »Erstunken ist noch keiner.«

Schlimm ist aber auch das Gegenteil, nämlich wenn Damen derart in Wolken von Duftwässerchen eingehüllt sind, dass man nicht mehr zu atmen wagt und dem Ersticken nahe ist.

Andere Fahrgäste leiden unter Blähungen und flatulieren leise, lassen also während der Fahrt einen fahren. Anklagen wird sie deswegen niemand, denn in Berlin gilt nun einmal: »Wer’n zuerst gerochen, dem ist er aus dem … gekrochen!«

Ich bin für jeden Kalauer (-kylauer) zu haben. Deshalb kann ich bei keiner Einladung zum Abendessen widerstehen, der Gastgeberin das zu sagen, was mir einer meiner Studenten überliefert hat: »Es hat ausgebrochen gut geschmeckt, gnädige Frau!« Daran musste ich neulich denken, als ich auf der U 9 unterwegs war. Da hockte doch auf einem der Quersitze, und zwar an der äußeren Seite zum Gang hin, ein Mann, der kurz davor war, das eruptiv zum Ausbruch kommen zu lassen, was sich in seinem Magen an Rotwein und Erbsensuppe angesammelt hatte. Ich fürchtete, der Vorgang werde dadurch beschleunigt, dass sein Kopf immer wieder zur Seite sackte. Doch jedes Mal, wenn sich sein Mund öffnete und der Schwall zu erwarten war, rief er nur nach seinem Hund. »Lassie, komm her!« Fakt war allerdings, dass nirgendwo ein Hund zu sehen war. Neben ihm wurden Wetten abgeschlossen: Fällt der Mann auf den Gang, oder fängt er an, »Kotzebues Werke zu studieren«? So bezeichneten die vornehmen Leute in meiner Jugend diesen kreatürlichen Vorgang. Heute finden wir in österreichischen Verkehrsflugzeugen die schönste Umschreibung für das, was hierzulande umgangssprachlich Kotztüte heißt, nämlich Speibsackerl. Aber da die Deutschen es lieber englisch haben, würde es auch genügen, wenn die BVG und S-Bahn für jeden Wagen sickness bags anschaffen und neben den Nothammer hängen würden.

Noch schnell für die Allgemeinbildung und das nächste Kreuzwort- oder Silbenrätsel: August Friedrich Ferdinand von Kotzebue, 1761 – 1819, war ein deutscher Schriftsteller (unter anderem schrieb er Lustspiele wie Die Indianer in England oder Die deutschen Kleinstädter) und wurde in Mannheim vom Burschenschafter Karl Ludwig Sand erdolcht, weil er als Spitzel der russischen Regierung galt.

Mit diesem Wissen können Sie auf jeder Party bildungsnaher Schichten punkten, indem Sie fragen: »Welcher deutsche Schriftsteller ist durch Sand umgebracht worden?«

Was hat das nun mit dem Berliner ÖPNV zu tun? Nichts, außer Sie stellen diese Frage bei einer Fahrt mit S-Bahn oder BVG und fügen noch hinzu, dass die Sandhauser Straße in Heiligensee nicht nach diesem Sand benannt ist und der 324er Bus, der durch diese Gegend fährt, auch an keiner Haltestelle Sandhausen hält.

Nun hat der Mann mit ohne Hund doch … Her mit einer Tüte Sand, wenn es schon keine Speibsackerl gibt!

Beförderungseinfälle

Über meinen Hang zum krankhaften Assoziieren

Langes Fahren führt zu abgesenktem Bewusstsein. Befinde ich mich in diesem Zustand der leichten Hypnose, kommt es bei mir zu Beförderungseinfällen wie diesen:

> Er piept so kläglich, als ich ihm meinen Fahrausweis ins Maul schiebe. Klar, das sind die Leiden des jungen Entwerters.

> Nett, dass einem ängstlichen Menschen wie mir, der fortwährend Katastrophen kommen sieht, in Straßenbahnen und Bussen unaufhörlich versichert wird: »Wagen hält!«

> »Eingelaufener Zug endet hier!« Wieso ist der eingelaufen, ist er zu heiß gewaschen worden?

> Kennen Sie Alex Ander, Frank Furter, Franz Ösische, Heide L. Berger, Jan Nowitz, Leo Pold, Magda Lenen, Resi Denz, Rose N. Thaler oder Zita Delle? Sie alle haben eine eigene Straße, einen eigenen Platz oder sogar einen Bahnhof im Berliner Stadtgebiet bekommen.

Beim allabendlichen Glas Rotwein (»Lieber Rotwein als tot sein«) versuche ich dann, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Gefragt wird nach einem Synonym für »Fahrgast, Gefangener«. Nach längerem Grübeln habe ich die Lösung: Insasse. Bin ich also als Fahrgast in Bahnen und Bussen immer auch ein Gefangener? Ist ja erschütternd! Jedenfalls erklärt das so einiges.

 

Ein hübscher Einfall findet sich auch im Tagesspiegel vom 7. April 2015, wo im Hinblick auf den kosmopolitischen Slogan »Be Berlin, be …« gemeldet wird, dass nun auch die Berliner U- und S-Bahnhöfe englische Namen tragen sollen. So wird aus Frohnau Happy Meadow, aus Waidmannslust Huntsman’s Desire, aus Brandenburger Tor Burning Castle Gate, aus Alt-Mariendorf Old Mary’s Village und aus Bundesplatz Federation Square.

Dann lärmt mal schön!

Über nervende Kinder und Musikanten bei Bahnfahrten

Ich liebe Kinder, habe selbst drei und außerdem zwei Enkel- und drei Patenkinder. Wenn ich aber in der U- oder S-Bahn sitze und eine Schulklasse oder Kitagruppe einsteigt, dann … Aus ist es mit dem Lesen und Dösen, dem Schauen und Sinnieren, dem Ausbrüten neuer Geschichten und dem Einnicken. Ich ziehe meine Ohrenstöpsel aus der Tasche, die ich für Kinowerbung und den Besuch von Sporthallen stets bei mir habe, und versuche, dem nächsten Hörsturz zu entgehen. Der nervtötende Lärm ist das eine, das andere aber ist die Angst um die lieben Kleinen, wenn sie ausgestiegen sind und auf dem Bahnsteig weiter toben. Denn wie leicht kann da …

Also lärmt mal schön, das beruhigt mich.

Was manche Musikanten im rollenden Konzertsaal ihrer Ziehharmonika entlocken, kann nur als akustische Umweltverschmutzung bezeichnet werden und ist nichts anderes als grausam. Aber auch Gitarrenspieler und Vokalisten können mächtig nerven. Bei allem Mitleid mit ihnen würde ich am liebsten schreien: »Hier haben Sie zehn Euro, aber nur unter der Bedingung, dass Sie nie wieder spielen, wenn ich im Zug sitze!«

Auch wenn Straßenfeger-Verkäufer auftauchen und ihr Verslein aufsagen, gerate ich in einen emotionalen Ausnahmezustand. Vor allem deshalb, weil ich selbst einmal durch die U-Bahn gegangen bin, um den Straßenfeger zu verkaufen, und zwar im Rahmen eines Projekts, bei dem meine Studierenden sich in das Leben von Obdachlosen hineinversetzen sollten. Wer wollte, konnte auch für achtzig D-Mark ein »Betteldiplom« machen, aber außer mir wollte das nur noch eine Studentin. Seitdem habe ich immer sehr ambivalente Gefühle, wenn Straßenfeger-Leute die Wagen betreten. Zum einen packt mich das Entsetzen, denn es waren damals schlimme Stunden, ich will nicht mehr daran erinnert werden und gucke deshalb meistens weg. Zum anderen tun mir die armen Teufel leid, und ich greife in die Tasche.

Zugluft und Harnverhaltung

Über mehrere Ärgernisse und Nöte beim Unterwegssein

Ich hatte in meiner Bürozeit einmal einen Kollegen, der hieß Zietz, Timon Zietz, und öfters, wenn er sich am Telefon mit »Hier Zietz« meldete, kam der kostenlose Ratschlag: »Dann machen Sie doch das Fenster zu.« So etwas kann ganz schön nerven. Nicht anders ist es mit den Spielchen im Sommer in der S-Bahn.

Oft sitzt dann neben mir eine Verehrerin von Max Frisch oder Friedrich Luft und reißt das Fenster auf, weil sie glaubt, anderenfalls im Mief ersticken zu müssen. Ich freue mich einerseits darüber, weil frische Luft eine gute Sache ist und auch ich gerade wegen Sauerstoffmangels am Kollabieren bin, fürchte aber andererseits sofort, dass sich durch die kühle Luft mein drittes Ohr entzünden könnte, mein Mittelohr. Deshalb freue ich mich ein zweites Mal, wenn nun Roland Ruppig aufspringt und das Fenster wieder schließt. Dabei knallt es so laut, dass etliche Fahrgäste glauben, eine Explosion hätte stattgefunden. Schnell eilen sie zum Arzt, um sich ihr Knalltrauma behandeln zu lassen.

Ein paar Stationen weiter wiederholt sich das Prozedere, wenn auch mit anderen Akteuren: Fenster auf, Fenster zu. Manchmal bekriegen sich die Auf- und die Zu-Partei sehr heftig, zumindest verbal. Dabei spielt die alte Berliner Geisteshaltung »Lieber warmer Mief als kalter Ozon« eine nicht geringe Rolle. Ich habe es bei solchen Kampfhandlungen immer schwer, weil ich eigentlich auf beiden Seiten stehe und die Rechtslage auch nicht ganz geklärt ist. Jedenfalls ist das Ganze meist recht amüsant und dient zumeisteiner vergleichsweise harmlosen Aggressionsabfuhr. Ich befürchte nur, dass es in den Berliner S- und U-Bahn-Zügen bald so sein wird wie im ICE: Dort lassen sich die Fenster überhaupt nicht mehr öffnen.

Ist dann endlich Friede im Karton … äh, im Waggon, denke ich darüber nach, ob ich es bis zu einem mit WC ausgestatteten Bahnhof wie Zoo, Friedrichstraße oder Hauptbahnhof oder gar bis zum Ziel durchhalten kann – oder nicht doch schon vorher …

Wenn ich nicht daran gedacht hätte, dann hätte ich es meist noch stundenlang durchgehalten, so aber … Ich kann nur der Hochkultur huldigen und reimen: Er erreicht den Hof mit Müh’ und Not / ​in seiner Hose aber war der Kot.

Unsinn! Es geht ja nicht um diesen, sondern um den Urin. Es gibt Menschen, die müssen stundenlang nicht auf die Toilette gehen und können nicht ahnen, wie diejenigen leiden, bei denen andauernd die überaktive Blase drückt. Am schlimmsten sind diejenigen dran, die wissen, dass der große dänische Astronom Tycho de Brahe 1601 in Prag an Harnverhaltung gestorben ist. Lesen sie dann noch auf riesigen Werbeplakaten »Alles muss raus!«, dann sind sie gänzlich verloren.

Früher war das alles kein Problem, da gab es auf jedem S-Bahnhof am Ende des Bahnsteigs eine Toilette. Deren Benutzung war kostenlos, und man musste nicht fünfzig Cent oder mehr dafür berappen, dass man, wie es damals noch hieß, »eine Stange Wasser in die Ecke stellen« wollte. Heute aber kann man schier verzweifeln, denn hat man einen der wenigen Bahnhöfe mit WC-Center erreicht, kann es schon zu spät sein. Vermutlich sieht man deshalb immer wieder Menschen das tun, was einst »Wassertreten« genannt wurde – mit verbissenem Gesicht von einem Bein auf das andere treten.

Wer also ständig muss, sollte auch auf innerstädtischen Reisen mit RE-Zügen fahren, da die mit Toiletten ausgestattet sind, auch wenn die fortwährend besetzt sind.

Ich bedanke mich bei mir und werde meinen Rat befolgen, bin ich doch Betroffener und habe alle Bahnhöfe im Kopf, in deren Nähe eine kostenpflichtige Wall-Toilette oder ein historisches Café Achteck zu finden sind. Die Benutzung des Letzteren kostet zwar nichts, dafür muss man sich aber wegen des dort anzutreffenden Hochwassers beim Betreten die Hosenbeine hochkrempeln.

Wenn Sie mich also im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs einmal rennen sehen, kennen Sie den Grund und wissen, warum ich nicht angesprochen werden möchte.

Hilfe – wo bin ich?

Über das Umbenennen von Bahnhöfen

In der Psychologie spricht man von Depersonalisation und Derealisation, wenn man das Gefühl hat, dass die Welt unwirklich und vom eigenen Körper und Erleben getrennt ist. Betroffene erleiden eine Panikattacke mit Atemnot, Herzrasen und Schweißausbruch und beben am ganzen Körper. So ist es mir vor Jahren zum ersten Mal ergangen, als ich – wie ich es seit Jahrzehnten zu tun pflege – auf dem Bahnhof ausgestiegen bin, der auf der Linie U6 in Richtung Alt-Tegel der Scharnweberstraße folgt. Plötzlich stand nicht mehr Seidelstraße auf den Schildern, sondern Otisstraße. Hilfe – wo bin ich, wer bin ich? Ist in den Schaltkreisen meines Gehirns etwas heftig durcheinandergeraten? Bin ich reif für die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik?

Nein, ich war nur Opfer der allgemeinen Berliner Umbenenneritis geworden. Es hat ja einige Berliner U-Bahnhöfe schlimm erwischt. So hieß der Bahnhof Südstern (U 7) schon Hasenheide, Kaiser-Friedrich-Platz und Gardepionierplatz, und Stadtmitte (U2 und U 6) hieß schon Friedrichstraße, Leipziger Straße und Friedrichstadt. Rekordhalter ist aber wohl das Frankfurter Tor (U 5) mit folgender Namensabfolge: Petersburger Straße (bei der Eröffnung am 21. Dezember 1930), Bersarinstraße (3. Juni 1946), Bersarinstraße (Frankfurter Tor) (1. Januar 1958), Frankfurter Tor (1. Juni 1958), Rathaus Friedrichshain (3. Oktober 1991), Petersburger Straße (1. September 1996) und wieder Frankfurter Tor (24. Mai 1998). Zuletzt ist auf der Strecke der U6 aus dem Bahnhof Zinnowitzer Straße Naturkundemuseum geworden, und jetzt soll auf der U 3 die Haltestelle Thielplatz in Freie Universität umbenannt werden, da es einen Thielplatz gar nicht gibt.

Bei den S-Bahnhöfen verhält es sich nicht viel anders. Dass der Bahnhof Ausstellung sechs Jahre vor meiner Geburt, also 1932, in Westkreuz umbenannt wurde, hat mich nicht tangiert. Dafür aber haben mich die Namenswechsel auf der Strecke nach Ahrensfelde umso mehr betroffen, weil ich zu DDR-Zeiten wie nach der friedlichen Revolution öfters auf dieser Linie unterwegs war, um meine Verwandten zu besuchen. Damals wurde aus Karl-Maron-Straße Poelchaustraße, aus Otto-Winzer-Straße Mehrower Allee und aus Bruno-Leuschner-Straße Raoul-Wallenberg-Straße. Dazu fällt mir nur Goethe ein: Mir wird von alledem so dumm,/​Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum. Und noch ein paar Beispiele: Griebnitzsee hieß zuerst Neubabelsberg und dann Babelsberg-Ufastadt, Hackescher Markt anfangs Börse und dann zu DDR-Zeiten Marx-Engels-Platz, Bundesplatz zuerst Wilmersdorf-Friedenau und dann nur Wilmersdorf, Messe Süd wurde als Eichkamp eröffnet, bekam dann den Namen Deutschlandhalle und wurde danach erneut in Eichkamp umbenannt, Südkreuz war einmal Papestraße, Westhafen Putlitzstraße und Olympiastadion ist als Stadion eröffnet worden und wurde noch vor meiner Geburt aus politischen Gründen in Reichssportfeld umbenannt.

Viele Bahnhöfe und Bahnhofsnamen sind heute auf keinem Stadtplan mehr zu finden und weithin aus dem kollektiven Gedächtnis der Berliner verschwunden, etwa Dreilinden, Düppel, Gartenfeld, Hohenschöpping, Kohlhasenbrück, Kolonnenstraße, Siemensstadt-Fürstenbrunn und Wernerwerk.

Ein Trost ist nur, dass es einen U- oder S-Bahnhof Horst-Bosetzky-Weg nicht einmal zehn Jahre nach meinem Tod geben wird und niemand meinetwegen um seine Einweisung in die Psychiatrie fürchten muss.

Durch Wald und Heide

Über die Waldstrecken von S-, Straßenbahn und Bus

Im Wald und auf der Heide, / ​da such ich meine Freude, singt der Jäger. Aber auch ich als Soziologe und Schriftsteller bin andauernd auf der Jagd, auf der Jagd nach sozialen Zu- und Missständen sowie nach schönen Plots und Geschichten. Und es wäre doch eine tolle Story und brächte mich in alle Medien, wenn ich aus fahrenden Zügen wilde Schweine und fliegendes Getier erlegen würde: Das Huhn im schnellen Fluge, / ​die Schnepf’ im Zickzackfluge / ​treff ich mit Sicherheit. Ja, aber nur, wenn ich vorher meine Seele dem Samiel aus dem Freischütz (bei uns zu Hause Schreifritz genannt) verkaufen würde.

Es gibt in Berlin keine U-Bahn, die richtig durch den Wald fährt – lassen wir die U 2 einmal beiseite, die kurz vor Ruhleben die nördlichsten Ausläufer des Grunewalds leicht tangiert. Eine Walddörfer-(U-)Bahn wie die Hamburger haben wir nicht, wir müssen uns also auf S- und Straßenbahn sowie den Busverkehr beschränken.

Bis auf die Ringbahn (S 41 und S 42) durchfahren oder streifen fast alle S-Bahn-Linien ausgedehnte Waldgebiete und Heideflächen. Zum Beispiel fährt die S 1 zwischen Frohnau und Oranienburg durch die Stolper Heide, die Bieseheide und den Borgsdorfer Forst, die S 25 durchquert zwischen Tegel und Hennigsdorf den Tegeler Forst, die S 3 zwischen Karlshorst und Erkner die Wuhlheide, die Mittelheide, die Krummendammer Heide und den Berliner Stadtforst Oberspree, die S 46 zwischen Adlershof und Zeuthen die Köllnische Heide, den Forst Grünau-Dahme und den Berliner Stadtforst, die S 5 zwischen Strausberg und Strausberg Stadt den dortigen Stadtforst, die S 7 zwischen Grunewald und Nikolassee den grünen Wald und zwischen Wannsee und Griebnitzsee den Stadtforst Potsdam, die S 8 zwischen Blankenburg und Birkenwerder die Rieselfelder und den Borgsdorfer Forst und die S 75 wie die S 9 zwischen Pichelsberg und Stresow ein Stückchen Grunewald.

Bei den Straßenbahnen der BVG können die Linie 61 zwischen Fürstenwalder Damm und Rahnsdorf, Waldschänke und die Linie 68, die Uferbahn, zwischen Grünau und Schmöckwitz, Am Seeblick als Berliner Waldbahnen firmieren. Durch Wälder fahren aber vor allem die privaten Linien am Stadtrand, die im Land Brandenburg enden, so die 87 zwischen Rahnsdorf und Woltersdorf, Goethestraße und die 88 zwischen Friedrichshagen und Schöneiche, Waldstraße. Früher gab es zudem die Linien von Tegel nach Heiligensee und Tegelort.

 

Bei den Bussen finden wir Linien, die durch die Köpenicker Wälder (168, 369, X 69 und 737), den Tegeler Forst (133 und 222), die Jungfernheide (133) und den Grunewald führen (218 und 316).

Und streich ich durch die Wälder, / ​und zieh ich durch die Felder. / ​Halli, hallo, halli, hallo, / ​mein’ Lust hab ich daran.

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