Rotlicht

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Rüdiger Engelhardt trat zu Peter. Der Kumpel hielt drei Flaschen Bier zwischen den Fingern der linken und einen riesigen Joint in der rechten Hand. Er verteilte das Bier, zog am Joint und reichte ihn an Stefanie weiter.

Peter nahm einen Schluck von seinem Bier und schaute wieder zur Bühne. Der Gitarrist war noch ein bisschen dürrer als die anderen Musiker und schaltete gerade den Verstärker ein. Prompt quietschte eine Rückkopplung durch den Keller. Peter glaubte, seine Trommelfelle würden bersten. Der dünne Kerl schlug einen Akkord an. Es klang, als würde er eine Kettensäge starten. Er trat ans Mikro und rief in den ausklingenden Ton hinein: «Mia san die Magic Mushrooms aus München!» Der bayerische Dialekt wirkte so deplatziert wie Öltanker auf dem Wannsee. Zum Glück redete der Junge nicht weiter, sondern begann zu spielen. Ein paar Takte drosch er allein in die Saiten, dann stiegen seine Bandmitglieder mit ein. Die Musik stampfte gleichförmig im Viervierteltakt vor sich hin.

Stefanie reichte Peter den Joint. Er wollte ablehnen, doch sie zwinkerte ihm zu, und er nahm die Tüte entgegen. Der Rauch kroch seinen Rachen hinunter und kratzte wie Sandpapier. Eine besondere Wirkung zeigte das Zeug aber nicht. Peter gab den Joint an Rüdiger weiter.

Der Freund ergriff die Tüte, ohne sein Gespräch mit einer Blondine zu unterbrechen. Peter sah nur ihr Profil, doch allein das war von geradezu betörender Anmut. Alles an ihr schien von einer unwirklichen Zartheit. Rüdiger reichte der Frau den Joint, und sie nahm einen Zug. Dabei schloss sie die Augen. Es schien, als würde die Zeit für einen Atemzug stehenbleiben. Für einen langen, tiefen Atemzug. Dann gab sie die Tüte an einen Langhaarigen mit Brille weiter, den Rüdiger als Ralf Frohbert vorgestellt hatte.

Jemand tippte Peter an die Schulter. Er zuckte zusammen. Stefanie. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Die Band spielte langsamer. War das schon der nächste Song? Peter hatte niemanden singen hören.

Der Joint war inzwischen wieder bei Stefanie angekommen. Sie rauchte und begann dabei langsam auf der Stelle zu tanzen. Sie schmiegte sich an Peter und steckte ihm die Tüte in den Mund. Er inhalierte den Rauch. Einmal. Und noch einmal. Dieses Mal spürte er den Rausch. Die Wände des Kellers schienen sich zu ihm herunterzubeugen. Die Menschen um ihn herum wurden schmal wie Gerten und tanzten, als wären ihre Körper knochenlos. Obendrein drehte sich der Boden. Die Musiker spielten jeweils einen Ton, doch es war nicht der gleiche – es klang, als schichteten sie Dissonanzen übereinander.

Peter gab die Tüte weiter und machte einen Schritt rückwärts. Zum Glück fand er eine Säule im Kellergewölbe, an der er sich festhalten konnte, sodass er nicht stürzte.

Stefanie folgte ihm tanzend und schrie: «Liebe ist Mord!» Die Worte hallten durch den Keller. Stefanie drehte sich zur Bühne. «Käufliche Liebe ist Auftragsmord!»

Nein, das war gar nicht Stefanie, die da rief, bemerkte Peter – der Dürre mit der Gitarre schrie die Obertöne ins Mikro. «Gruppensex ist Massenmord!» Dabei quetschte er nicht nur die Töne in abenteuerliche Höhen, sondern auch die Silben in zackige Rhythmen. «Liebt euch! Tötet euch! Liebt euch! Liebt den Tod!»

Die anderen im Publikum schienen die Worte nicht zu stören. Sie tanzten einfach weiter, derweil stieg auch der Bassist in den Chor ein. «Liebt euch! Tötet euch! Liebt euch! Liebt den Tod!»

«Hörst du das?», rief Peter zu Stefanie.

«Ja! Toll, nicht wahr?» Sie tanzte weiter.

Peter trank einen Schluck Bier. Er musste hier raus. Doch das erwies sich als schwierig. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Er hing an der Wand, als wäre er dort festgeklebt.

«He, willst du noch?», fragte die blonde Schönheit durch den Lärm und hielt ihm den Rest des Joints hin.

«Danke. Ich brauche frische Luft», erwiderte er.

«Soll ich dich Mund zu Mund beatmen?», fragte die Blonde und lachte kehlig.

Stefanie tauchte auf und rief: «Da kümmere ich mich drum!»

Bevor die Blondine etwas erwidern konnte, zog Stefanie ihn am Ärmel zum Ausgang. Er hatte das Gefühl, durch einen Sumpf zu waten. Immerhin hielt Stefanie ihn halbwegs aufrecht, obwohl sie ihm immer noch seltsam langgezogen vorkam. Es war, als befänden sie sich in einem Film, für den der Vorführer das falsche Bildformat eingestellt hatte.

Draußen kam es ihm so vor, als würde der Wind durch seinen Kopf hindurchwehen. Doch Stefanie formte sich auf ihr Normalmaß zurück.

«Die Rosi Ungermann ist eine Granate», sagte sie. Es klang wie eine Feststellung ohne jeden Anflug von Vorwürfen. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern fügte hinzu: «Aber heute nehme ich dich mit nach Hause.»

DREI

Sonntag, 24. März 1968

PETER KAPPES KOPF fühlte sich an, als hauste eine Horde Zwerge darin, die versuchte, mit Dutzenden von Hämmern einen Ausgang durch seine Schädeldecke zu schlagen. Er rieb sich die Schläfen, aber das half kaum. Dabei ging es ihm an der frischen Luft schon viel besser als vorhin beim Frühstück, bei dem er gerade so einen Schluck Kaffee hinunterbekommen hatte. Der Mendelssohn-Bartholdy-Park war erst im vergangenen Jahr fertiggestellt worden, und nun wimmelte es hier vor Spaziergängern. Betagte Männer mit betagten Damen im Arm, alte Männer mit jungen Frauen im Arm, junge Männer mit jungen Frauen im Arm. Peter vergegenwärtigte sich, dass er selbst auch nicht alleine war.

Er schaute zu Stefanie Richter. Die schien frisch und ausgeschlafen zu sein. Gerade bückte sie sich nach den Märzenbechern am Wegesrand und flocht die frisch gepflückten Blüten in ihr Haar. Sie wirkte, als hätte sie eine Woche Urlaub hinter sich und nicht ein surreales Konzert und die anschließende durchwachte Nacht mit Joints, Bier und allen anderen Sünden. Wie machte sie das nur?

Stefanie zog ihn an der Hand auf einen Trampelpfad tiefer in eine Baumgruppe hinein. Die Farne und Kräuter rochen, als wollten sie alle Hexen der Stadt anlocken. Die übrigen Berliner schienen sich dagegen an die breiteren Wege zu halten. Mit jedem Schritt wurde es ruhiger um sie herum. In den Bäumen zwitscherten Vögel.

«Du siehst aus, als würdest du noch schlafen», sagte Stefanie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Peter suchte nach einer Antwort, doch ihm fiel nichts ein. Also nickte er nur.

Stefanie lachte und fragte: «War die vergangene Nacht zu wild für dich?»

«Nein, nein», murmelte Peter. Er befürchtete, dass sein Tonfall dennoch wie eine Bestätigung klang, deswegen fügte er hinzu: «Ich glaube, mein Kopf ist eher wegen der Magic Mushrooms und dem Gras so schwer.»

«Bis du eingeschlafen bist, hat man dir das aber kaum angemerkt», sagte Stefanie und zwinkerte ihm zu.

Peter wäre wohl errötet, wenn er nicht so müde gewesen wäre. So hatte er lediglich das Gefühl, wie ein Trottel dreinzublicken. Zum Glück sah Stefanie das nicht, denn sie lief längst den Trampelpfad weiter und verschwand gerade hinter einem Baum. Peter trottete ihrem wehenden Haar hinterher.

Als Stefanie wieder in sein Blickfeld geriet, betrachtete er sie. Obwohl sie einen Parka über der Jeans trug, wirkte alles an ihr zart, selbst die Schultern unter dem dicken Jackenfutter. Er konnte es noch nicht so recht fassen, dass er mit dieser Frau durch den Park schlenderte. Je intensiver er sie anschaute, desto klarer wurde ihm, wie wenig er über sie wusste, obwohl sie beide schon seit dem Herbst als studentische Hilfskräfte am Psychologischen Institut der Freien Universität arbeiteten und er auch schon auf verschiedenen Demonstrationen mit ihr gewesen war. Vor ihm lief ohne Zweifel eine kluge und politisch engagierte Studentin, die auch ordentlich feiern konnte. In der vergangenen Nacht hatte er noch eine weitere überaus überwältigende Seite an ihr kennengelernt. Doch ansonsten wusste er nichts über sie. Er schloss zu ihr auf und fragte: «Wo kommst du eigentlich her?»

Stefanie blieb stehen und schaute ihn an, als hätte er nach ihrem Kontostand gefragt. Sie entgegnete: «Aus meinem WG-Zimmer in Kreuzberg.»

«Nein, das meine ich nicht.»

«Du willst mich jetzt aber nicht heiraten oder so? Nach einer Nacht?»

«Was?» Peter zuckte zusammen. «Nein, nein … Ich …» Er kam nicht weiter.

Für einen Augenblick herrschte Stille – abgesehen von den Vögeln, die nur auf den Moment gewartet zu haben schienen und nun umso lauter zwitscherten.

«Du bist süß.» Stefanie kicherte. Sie hakte sich bei ihm unter und schlenderte weiter. «Also gut. Die Kurzform. Ich bin in Reinfeld geboren. Das ist ein Kaff im Holsteinischen. Mein Vater ist Postbeamter und fährt einen Käfer. In den Urlaub ging es immer an die Ostsee. Meine Mutter mag es nicht, sich allzu weit von der Heimat zu entfernen. Meine Großeltern hatten einen Garten. Anfangs durfte ich bei der Erdbeerernte helfen, später musste ich. Mit sechs in den Kirchenchor, mit vierzehn Konfirmation, mit neunzehn endlich Abi und ab nach Berlin.» Die letzten Worte klangen, als hätte sie ein technisches Datenblatt rezitiert. «So, nun bin ich an der FU. Und ich habe das Gefühl, endlich frei atmen zu können.»

So etwas hatte Peter schon öfters gehört und sich stets gewundert, dass die Berliner Luft für jemanden besonders atembar schien. Selbst hier im Park wehte mitunter ein Schwall von Abgasen vom Halleschen Ufer herüber. Ausgerechnet in der Mauerstadt das Gefühl von Freiheit zu verspüren kam Peter als Urberliner sonderbar vor.

«So, nun du. Was treiben deine Eltern so?»

«Mein Vater ist Polizist und meine Mutter Buchhalterin.»

«Polizist?» Stefanie löste sich von Peter und riss die Augen so weit auf, als hätte sie ein Gespenst gesehen. «Einer von diesen faschistischen Prügelbrüdern!»

 

«Nein, er ist bei der Mordkommission», murmelte Peter. «Und ich streite oft mit ihm über Politik, als Faschisten würde ich ihn aber nicht bezeichnen.» Er strich ihr über die Schulter und fügte hinzu: «Außerdem ist die Sippenhaft in Deutschland abgeschafft.»

Das schien Stefanie nicht zu überzeugen. Sie blieb auf Abstand und schüttelte den Kopf. «Mordkommission. Einer von denen, die versucht haben, den Ohnesorg-Mord zu vertuschen …»

«Das war nicht sein Fall.» Peter fand es anstrengend, seinen Vater verteidigen zu müssen.

Stefanie schwieg und stapfte den Trampelpfad entlang, als wollte sie so schnell wie möglich wieder nach Hause.

Peter fragte sich, warum Frauen immer so kompliziert sein mussten. Seine Kopfschmerzen kehrten zurück.

«Mach mir mal ein Bier, Jo!», rief Josef Bolp. Er musste seine Stimme etwas heben, denn durch das Gemurmel in der Bar trällerte Roy Black Meine Liebe zu dir. Der Sender Freies Berlin machte es möglich.

Der Mann hinter der Theke nickte kurz und nahm mit seinen Pranken ein Bierglas aus dem Regal. Bolp kannte diese Handbewegung und fürchtete jedes Mal, das Glas könnte springen, wenn der Kerl es anfasste. Doch Johannes Juhl hatte seinen Tresen im Griff – so wie das Lokal, dessen Name sich aus den Anfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens zusammensetzte: Joju-Bar.

Bolp fühlte sich hier genauso zu Hause wie in seinem Büro, aus dem er gerade kam. Tatsächlich war die Joju-Bar für seine Arbeit beim Berliner Blitz beinahe so wichtig wie die Schreibstube. Hier verkehrten die Politiker aus dem Senat und dem Abgeordnetenhaus sowie die wichtigsten Geschäftsleute der Stadt – die aus den börsennotierten Großunternehmen und die aus dem Zwielicht der Schattenwirtschaft.

Juhl stellte Bolp ein Bier vor die Nase. Der Schaum thronte daumenbreit über der goldgelben Flüssigkeit, so wie es sich gehörte. Der Barbesitzer kümmerte sich persönlich um die Getränke – im Obergeschoss befriedigten seine Mädchen unterdessen die sonstigen Bedürfnisse der Herrschaften. Bolp bemerkte manchmal, dass einer der Männer auf dem Weg zu einer Dame verstohlen zu ihm blickte. Viele kannten ihn und wussten, welchen Beruf er ausübte. Allerdings sollten die meisten in der Berliner High Society wissen, dass er zur Diskretion fähig war. Die Joju-Bar war eine nie versiegende Quelle an Gerüchten. Nur im alleräußersten Notfall hätte Bolp hier Hausverbot riskiert, und Johannes Juhl galt nicht als ein Mann, der stillhielt, wenn Gefahren für sein Geschäft drohten. Sein Dobermann lag zwar auch an diesem Abend friedlich schlafend hinter dem Tresen, doch niemand in Berlin war darauf erpicht zu erfahren, warum das riesige Vieh auf den Namen Bestie hörte.

«Schönen Abend und prost!», rief eine Stimme von der Seite.

Ohne sich umzudrehen, erkannte Bolp, dass es sich dabei um Prof. Dr. Ferdinand Meerbusch handelte. Das tiefe Brummen, der seltsame saarländische Akzent, bei dem die Zischlaute stets ein wenig durcheinandergingen – obwohl der Professor nicht zu Bolps allerbesten Freunden zählte, traf er ihn doch oft genug in der Joju-Bar, um ihn an seiner Stimme zu erkennen.

Mit erhobenem Bierglas drehte sich Bolp um und sagte: «Herr Meerbusch, ich könnte ja sagen, dass ich überrascht bin, Sie hier zu treffen. Aber das wäre gelogen.»

Der Professor grinste und stieß sein Glas gegen Bolps. Endlich Bier, dachte Bolp, als ihm anschließend die kühle Flüssigkeit die Kehle hinunterrann. Im Artikel für die Montagsausgabe hatte er die Geschichte mit Kannenhenkel und dem Prostituiertenmord aufgearbeitet. Das war ihm leichtgefallen, schließlich gehörte der Schauspieler zu diesen parasitären Revoluzzern. Bolp schrieb sich stets in Rage, wenn es um diese Langhaarigen ging. Er trank schnell noch einen Schluck Bier.

«Ich habe gestern Ihren Artikel über den Brandstifterprozess gelesen», sagte der Professor. «Gut, dass diesen fragwürdigen Gestalten wenigstens irgendjemand Paroli bietet!»

Bolp hob sein Glas und trank darauf. Es war schon wieder leer.

«Die machen, was sie wollen», sagte Meerbusch. «Ich kann kaum noch eine Vorlesung halten, ohne dass gebuht oder gepfiffen wird. Einen Kollegen hat dieses respektlose Gesindel letztens sogar mit faulen Eiern beworfen.»

Bolp schlug mit der Hand auf den Tresen und rief: «Sollen die doch in die Zone gehen! Der Ulbricht würde denen schon zeigen, was eine Harke ist – und wie eine Gefängniszelle von innen aussieht. Bei Staatsfeinden machen die drüben kurzen Prozess. Ich weiß, wie das da zugeht. Hätte ich ’50 nicht die Kurve gekratzt, hätten die mich in Bautzen eingebuchtet. Ich stand schon auf deren schwarzer Liste.»

«Reg dich ab!», schaltete sich Juhl ein. «Wir wissen ja, dass du den roten Häschern damals nur knapp entkommen bist.» Der Wirt stellte Bolp ein neues Bier hin. Für einen Moment war es am Tresen so still, dass der Schlager aus dem SFB zu hören war – Der letzte Walzer.

Bolp nahm das Glas in die Hand und dachte an seine Zeit in Leipzig zurück. Natürlich war er den SED-Genossen schon wegen seiner Eltern ein Dorn im Auge gewesen. Doch was konnte er dafür, dass sein Vater bereits vor Hitlers Machtergreifung in die NSDAP und die SA eingetreten und seine Mutter im sächsischen BDM aktiv gewesen war? Immerhin hatte er noch eine Stelle bei der Zeitung ergattert. Doch seine eigene Abneigung gegen die Kommunisten war nicht dauerhaft verborgen geblieben. Spätestens bei den «Säuberungen» nach dem Juni ’51 wäre er dran gewesen. Da war sich Bolp sicher. Er murmelte: «Mir geht dieser Bolschewistendreck halt gehörig auf die Nerven.»

«Darauf ein Prost!», sagte Meerbusch.

Bolp ahnte, dass er sein Auto würde stehen lassen müssen, wenn er noch eine halbe Stunde in dieser Geschwindigkeit weitertrank.

Der Professor rückte seine Brille zurecht und sagte: «Wir dürfen nicht vergessen, dass es nur ein paar Knallköpfe sind. In meinen Vorlesungen sitzen Hunderte Studenten, und gerade mal eine Handvoll macht Stunk.»

«Umso schlimmer!» Bolp achtete darauf, dass er ruhig sprach und nicht Peter Alexanders Gesang im Radio übertönte.

«Aber die werden wir schon zurechtstutzen! Schließlich sitzen wir am viel längeren Hebel.»

«Das ist wohl wahr», stimmte Bolp zu. «Denen zeigen wir’s. Morgen lass ich im Berliner Blitz gleich mal eine Bombe platzen!»

Otto Kappe führte seine Frau durch das Foyer der Freien Volksbühne. Er fand das Ritual mit den Eintrittskarten in diesem Haus befremdlich, aber Kurt Kannenhenkel gab den Prinzen von Homburg nun einmal hier, und Gertrud war ganz erpicht darauf, den Schauspieler in dieser Rolle zu sehen.

Also schlenderten sie in die Ecke, in der eine schmucke Mitarbeiterin der Freien Volksbühne mit den Sektkübeln in fragilen Gestellen wartete. In den Gefäßen lagen Hunderte von Eintrittskarten, getrennt nach drei Rubriken: «Einzelne Besucher», «Paare» und «Gruppen». So war garantiert, dass zusammensaß, wer zusammengehörte.

Otto übergab der Dame ihren Berechtigungsschein, und Gertrud, der man ein glückliches Händchen nachsagte, durfte nun in den Sektkübel für Paare greifen und zwei mit einer Büroklammer verbundene Eintrittskarten herausfischen. Hier ging es so demokratisch zu, dass man mit einigem Pech oben auf dem Rang saß und die Gesichter der Schauspieler nur erahnen konnte. Doch Gertrud wurde ihrem Ruf gerecht, sie zog Parkettplätze in der vierten Reihe.

Früher waren Theaterbesuche etwas anderes, dachte Otto, als er mit Gertrud durch das Foyer schritt. Er trug seinen guten Anzug und seine Frau ein Abendkleid. Die älteren Gäste hatten ähnliche Mühe bei der Kleiderwahl walten lassen. Die jungen Männer trugen dagegen Jacketts, die diesen Namen kaum verdienten. Manche waren aus grobem Manchesterstoff, andere schlugen Falten, als wären sie bei einem Bad in der Spree gereinigt worden. Eine junge Frau mit einem bunten Batikkleid fiel ihm ins Auge. Dessen Farbverläufe waren derart verschwommen, dass Kappe beinahe glaubte, er träume genauso wie der Prinz von Homburg in Kleists Stück.

Als sie den Zuschauerraum betraten, spürte Otto, wie er bereits müde wurde. Die Mordermittlungen am Wochenende steckten ihm in den Knochen. Er wurde zu alt für die Siebentagewoche. Ohne Gertrud würde er jetzt noch über den Mordakten brüten. Sie hatte ihn in seinen guten Anzug gedrängt, und nun zog sie ihn durch die Stuhlreihen im Parkett.

Neben ihren Plätzen hatte sich bereits ein junger Mann mit einer Nickelbrille und einem groben Leinenhemd niedergelassen. Das Haar hatte er genauso zum Zopf gebunden wie seine Begleitung, die sich bei näherem Hinsehen als weibliches Wesen erwies. Gertrud nahm neben den Studenten Platz, Otto sank an ihrer Seite ins Polster.

Die Glocke bimmelte. Das Licht im Saal war schummrig. Otto konnte sich kaum vorstellen, dass es noch dunkler werden könne. Er gähnte.

Gertrud beugte sich zu ihm und flüsterte: «Da haben wir wirklich schöne Plätze erwischt.»

Vor ihnen saß ein älteres Ehepaar. Die Köpfe der beiden reichten kaum über die Stuhllehne hinaus.

«Das ist dein Verdienst», sagte Otto leise. «Wenn ich die Karten gezogen hätte, würden wir garantiert hinter zwei Riesen sitzen und auf Hinterköpfe gucken.»

Gertrud lachte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. In dem Moment versank der Saal im Dunkel. Otto merkte, wie seine Augenlider schwer wurden. Im gleichen Tempo, wie sich der Vorhang hob, sanken sie hinab. Er kämpfte gegen die Müdigkeit an. Es kam ihm vor, als wäre das Augenöffnen so anstrengend wie ein Klimmzug.

Otto schaute zur Bühne. Die Dekoration bestand aus Pappstücken, auf denen die Kulisse mit dicken Pinselstrichen aufgemalt war. Die Bilder sahen aus, als hätte sie ein Erstklässler hingekleckst. Otto erkannte einen windschiefen Baum, ein Haus und einen Mond.

Auf der Bühne begann die Traumsequenz, und Otto versank tiefer im Sessel. Vor seinem inneren Auge tauchte die Leiche der jungen Prostituierten auf – sie lag auf ihrem Schlafsofa, so wie er sie vor zwei Tagen gefunden hatte. Doch dieses Mal blickte sie nicht starr an die Decke, sondern genau in sein Gesicht. Sie bewegte ihren Mund. Tonlos. Oder raunte sie etwas? Über die Liebe, die Sehnsucht und den Tod? Ihre Laute klangen, als kämen sie aus einem anderen Raum, einem viel größeren, einer Halle vielleicht.

Das Leben nennt der Derwisch eine Reise

Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen

Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter.

Ich will auf halbem Weg mich niederlassen!

Wer heut sein Haupt noch auf der Schulter trägt,

Hängt es schon morgen zitternd auf den Leib

Und übermorgen liegts bei seiner Ferse

Die Stimme klang tief. Viel zu tief für eine Frau. Die Tote streckte ihren Arm aus und tippte ihm an die Schulter.

Er schreckte auf.

Gertrud. Sie deutete auf die Bühne.

Dort stand Kannenhenkel. Er trug Strumpfhosen und ein Kettenhemd, das so schief aussah, als hätte der Requisiteur beim Knüpfen der Glieder zu viel getrunken. In seinem Gürtel steckte ein Holzschwert – stammte das aus der Spielzeugabteilung des KaDe We? Mit ausgebreiteten Armen deklamierte er:

Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch,

Und über buntre Felder noch, als hier:

Ich glaubs; nur schade, daß das Auge modert,

Das diese Herrlichkeit erblicken soll.

Sterben ist ungerecht, dachte Otto, das Auge der jungen Prostituierten wird nimmermehr die Herrlichkeit erblicken. Nach all den Jahren als Polizist kamen ihm solche Gedanken immer noch. Nicht mehr so oft wie am Anfang, doch es reichte ein Theatermonolog von einem Schönling wie diesem Kannenhenkel, und die Toten holten ihn ein.

Otto schaute hinüber zu seiner Frau. Gertrud schmachtete den Mimen an, hing ihm geradezu an den Lippen. Otto fehlte die Ruhe für das Stück. Die Tote, sein Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Am liebsten wäre er gleich ins Revier geeilt. Doch das hätte Gertrud ihm nie verziehen. Außerdem war er viel zu müde. Erneut fielen ihm die Augen zu.

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