Verdorbene Jugend

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Der Lehrjahreswechsel

Der Tag, an dem wir die Lehrwerkstatt verlassen und in die Abteilung „Jagd“ einziehen sollten, kam heran. Nachdem wir in der Lehrwerkstatt alles für die Neuen gerichtet hatten, zogen wir um.

Unsere neue Werkstatt war nicht mehr so komfortabel wie die Lehrwerkstatt I. Sie lag in einem älteren Gebäude und konnte nur über einige Ecken herum erreicht werden. Diese Werkstatt lag fast am anderen Ende des Betriebes und ich freute mich schon, dass ich beim oberen Anmarschweg vom Heim aus nicht mehr so weit laufen musste. Von dem Gebäude der Berufsausbildung aus waren es gute zehn Minuten weniger Fußweg durch den Betrieb.

In einem vor der Abteilung „Jagd“ liegenden Gebäude befanden sich nun unser Umkleide- und Waschraum, sodass wir zur Werkstatt immer über den Hof mussten. Aborte gab es in dieser Betriebsgegend mehrere. Auch zu diesen mussten wir über den Hof. So hatten wir immer ein wenig Gelegenheit zum Bummeln. Auch hier war der Umkleideraum außer der Umkleidezeit verschlossen. Wollte man aus irgend einem Grund außerhalb der Zeit in diesen Raum und an seinen Spind, musste man den dafür verantwortlichen Lehrausbilder aufsuchen und ihn bitten, den Raum und den betreffenden Schlüsselkasten für den Spind zu öffnen. Der Lehrausbilder war nicht immer leicht zu finden. Zu Arbeitsbeginn ließ er uns antreten, stellte die Anwesenheit fest und gab notwendige Anweisungen. Er war ein noch nicht so alter, aber mürrischer Mensch. Ihm machte es Spaß, uns zu triezen und auf jede mögliche Art seine Macht zu zeigen.

In der Abteilung „Jagd“ hatten wir zunächst drei Meister, die uns etwas zu sagen hatten. Da war der Meister Gerbig, dem die gesamte Abteilung unterstand. Für uns direkt waren die Meister Sturm und Baumgarten zuständig. Zu Baumgarten hatten wir bald mehr vertrauen als zu Sturm. Baumgarten erklärte uns die Möglichkeiten, um unsere Aufgaben besser zu erfüllen und zeigte erklärend, wie man die geforderte Qualität erreicht und ließ uns das gleich selbst machen. Sturm dagegen nahm uns das Werkstück aus der Hand und führte die notwendige Arbeit selbst aus. Oft konnten wir nur vermuten, was er machte. – Fast wie bei Gabriel in der Hobelei. Man musste durch Zusehen ergründen, was zu tun ist. Das man das vom Betrieb her nicht bemerkt hat, wundert mich noch heute.

War Baumgarten nur zugegen, gelang es uns, einzelne Arbeitsschritte schneller auszuführen, was bei Sturm nicht der Fall war. Mit Baumgarten konnten wir reden. Sturm sagte kaum einen Ton, es sei denn, wir hatten „gefrotzt“, wie er zu nicht gelungenen Arbeiten sagte. Einer der „frotzt“, war dann ein „Frotzer“. Sturm hatte außerdem die Angewohnheit, die Späne nicht abzubürsten, sondern abzupusten, was uns seit dem ersten Lehrjahr streng verboten worden war. Wir sagten das Baumgarten, doch der zuckte nur mit den Schultern. – Da stimmte etwas nicht, zwischen den beiden.

Eine neue Wohnstätte

Da das neue Lehrjahr nun begonnen hatte, glaubten wir, dass nun im Heim etwas Ruhe eintreten würde. Das war nicht der Fall. Hüsing war inzwischen zum Militär eingezogen und sein Bett war noch zum Besetzen frei. Wir waren gespannt, wer sich da nun einfinden würde und vermuteten, dass es der Freund von Plachetka sein würde, ein Saarländer, der uns allen sympathisch war. Er besaß eine relativ braune Haut, dunkle gekringelte Haare und braune Augen. Bei der Einschätzung unserer „Rassen“ wurde er als „vorwiegend nordisch, mit westlichem Einschlag“ eingeschätzt. Wir hätten ihn, nach der uns beigebrachten „Rassenlehre“ als „vorwiegend afrikanisch“ eingeordnet. Mich hatte man damals als „vorwiegend nordisch“ bezeichnet. Ich selbst hätte mir den Zusatz „slawischer Einschlag“ noch vergeben. So hatte ich die „Rassenlehre“ der 8. Klasse in Bürgel verstanden. An einige Wandbilder kann ich mich noch erinnern, die man in der Klasse zum Unterricht aufgehängt hatte. Es gab keinen unter uns Lehrlingen, der nicht mit „vorwiegend nordisch“ eingestuft worden wäre. Der Arzt, der diese Einschätzung vornehmen musste, hat damit wohl viel Unheil verhindert. Es war unserer Betriebsarzt.

Ich musste nun aber nicht mehr grübeln, wer in das Bett unter mir einziehen würde. Eines Abends wurden Wilhelm Höfert und ich aufgefordert, unsere Sachen zu packen und auszuziehen. Das hat mich sehr überrascht, Höfert ebenfalls. Wir sahen eigentlich keinen Grund für diese Maßnahme, hatten aber nicht bedacht, dass Plachetka uns verpetzen würde, weil wir einmal gemeckert hatten.

Höfert und ich erhielten die Information, dass wir zusammen in das gleiche Quartier einziehen würden. Das war aber nicht in Suhl, sondern in Dietzhausen. Unser neuer Logiswirt arbeitete auch im Betrieb. Er war Scharfschleifer. So zogen Höfert und ich nun bei der Familie Bart in der Sandgasse in Dietzhausen ein.

Der Platz für mich war noch nicht frei. Da wohnte noch ein ehemaliger Lehrling, der auf seine Einberufung wartete. Ich schlief vorerst in einem Bett in der vor unserem Zimmer liegenden Stube. Bis auf das Bett war es eine richtige Wohnstube. Insgesamt gab es neben dem Flur fünf Räume. Zugänglich war das ganze vom Hof aus, von wo man auch in die Waschküche kam. Hinter der Waschküche lag der Flur. Von der Hoftür aus links gelangte man in das Arbeitszimmer von Otto Bart, denn der war nebenbei noch Gemeindekassierer. Vom Arbeitszimmer ging es in die eigentliche Küche. Von der Küche aus kam man wieder auf den Flur. Die eigentliche Haustür dort wurde so gut wie nie benutzt. Im Flur führte eine Treppe nach oben in die Schlafräume der Familie Bart und zum Heuboden.

An der vom Hof zur Waschküche führenden Tür, durch die das Haus ständig betreten wurde, war ein emailliertes Schild angebracht, auf dem zu einer Hakenkreuzfahne geschrieben stand: „Der Deutsche grüßt mit ‚Heil Hitler!’“. Das war für mich nichts abwegiges, stammte ich doch aus einer Familie, wo mit diesem „Heil Hitler“ schon vor 1933 gegrüßt wurde. Es stellte sich heraus, dass Herr Bart ebenso ein „alter Kämpfer“ war, wie mein Vater. Er zeigte uns später seine Pistole, die er damals immer bei sich geführt hatte, auch, dass er sie immer im Strumpfschaft am Bein versteckt gehalten hätte, wo sie die Polizei nie fand, obwohl es mehrere Durchsuchungen gab.

Barts Frau Jenny stammte aus Dillstädt. Die Tochter hieß Gudrun und war damals vier Jahre. Sie sagte zu ihrer Mutter immer „Mamale“. Frau Bart trug immer schwarz, weil laufend Todesfälle in ihrer Familie vorkamen. Sie hatte viel zu tun, denn Barts hatten eine Kuh, ein Schwein und eine Schar Hühner. Dazu natürlich die nötigen Wiesen und Felder. Zusätzlich wusch Frau Bart unsere Wäsche mit. Das war im Preis des Wohngeldes in Höhe von 60 Reichsmark enthalten, von dem der Betrieb 20 Reichsmark bezahlte. Statt 35 Reichsmark im Lehrlingsheim mussten meine Eltern nun 40 Reichsmark bezahlen.

Jeden Montag mussten wir in einem frischen Arbeitsanzug erscheinen und so hatte Frau Bart fast jede Woche für uns zu waschen. Alle Lehrlinge, die in Privatquartieren wohnten, waren verpflichtet, an den Haus- und Hofarbeiten teilzunehmen, die im betreffenden Quartier anfielen. So hatten Höfert und ich zunächst über dem Stall Heu und Stroh zu häckseln. Da hinauf gelangte man mit einer Leiter vom Hof aus durch eine Luke.

Der Stall war ein Anbau am Haus. In diesen ging von der Waschküche ein weiterer Raum ab, der als Waschhaus diente. Die Waschküche wurde auch als richtige Küche benutzt, denn dort stand neben dem Waschkessel ein großer Küchenherd. In der eigentlichen Küche hat Frau Bart nur selten gekocht. Sie wollte sich ihre „gute“ Küche, die noch recht neu aussah, nicht durch den Wrasen verderben.

Fast gerade zur Hoftür hinaus ging es zur Toilette, an die sich der Schweinestall anschloss. Zwischen Kuhstall und Schweinestall verlief ein etwa eineinhalb Meter breiter Gang, durch den man in einen großen Garten kam. Der Schweinestall war nur kurz. Dahinter tummelten sich die Hühner, die über dem Schweinestall ihre Behausung hatten. Der Hof war nicht sehr groß, aber für die Belange der Bewohner ausreichend. Auf dem Hof lag neben der Toilette der Dunghaufen. An den Wohnteil des Hauses schloss sich ein Scheunenteil an, der fast noch einmal so breit war wie das Haus. Von der Haustürseite aus führte ein großes Tor in diesen Teil, sodass man mit einem großen Fuder hineinfahren konnte. Von diesem Tor führte eine hohe Treppe zu der stets verschlossenen Haustür. Der Hof fiel um die Ecke der Scheune herum etwas schräg ab, bis zu einem größeren Gartentor. Das Gartentor war der eigentliche Eingang zum Grundstück.

Herr Bart hatte noch zwei Brüder und eine Schwester. Der eine der Brüdern, wohl der älteste, besaß nebenan ein Grundstück mit einem schönen Einfamilienhaus. Der andere Bruder war Konstrukteur im Waffenversuchsbau, ebenfalls in meinem Lehrbetrieb.

Unser Weg zum Betrieb wurde nun bequemer. Wir fuhren ein Stück mit dem Zug. Zum Bahnhof hatten wir es höchstens zwei Minuten. Dazu konnten wir durch eine schmale Pforte hinten zum Hof heraus über einen Pfad, der zum Bahnhof führte. Wir besorgten uns eine Monatskarte, die damals um die vier Reichsmark kostete.

Unser Weg führte über einen Holzplatz, auf dem Stämme auf Waggons verladen wurden. Doch zu der Zeit, als wir den Weg entlang gingen, wurde dort nicht gearbeitet. In Richtung Suhl fuhren damals vor Arbeitsbeginn drei Züge. Herr Bart fuhr mit dem ersten, da er etwas früher begann, weil er auch etwas früher heim fuhr. Ob es wegen der Gemeindekasse war oder weil er halber Bauer war, weiß ich nicht. Wir, Höfert und ich, fuhren mit dem zweiten Zug, da wir mit diesem rechtzeitig zum Betrieb kamen. Der dritte war erst viertel vor sieben auf dem Bahnhof Heinrichs. Da schaffte man es nur rechtzeitig in der Werkstatt zu sein, wenn man im Bereich der Berufsausbildung arbeitete. Aber ich war ja nun fast am oberen Teil des Betriebsgeländes, wo man zum Haupttor hinein musste.

 

Neue Seiten

Der Lehrjahreswechsel zog auch Veränderungen in der Berufsschule nach sich. Waren wir vorher mit verschiedenen Berufen in einer Klasse und über dreißig Schüler je Klasse, zählten wir nun nur noch 14 Schüler und waren berufsspezifisch zusammengefasst. In dieser Klasse lernten wir Systemmacher, ein Schäfter, ein Rohrmacher und ein oder zwei Sitzenbleiber. Der erste Schultag in dieser Klasse hat uns die Richtung gezeigt. Ein Lehrer kam zum Unterrichtsbeginn in den Klassenraum und wir räkelten uns so nach und nach aus den Bänken. Eine kurze Begrüßung und wir durften uns wieder setzen. Nun begann der Lehrer:

„Meine Herren, mein Name ist Meldke und ich bin Ihr Klassenlehrer. Dass wir uns gut verstehen: Schwatzen – gibt es nicht. Verschreiben – gibt es nicht und einen Klecks machen – überhaupt nicht. Wenn einer aufgerufen wird, hat er sich schnell zu erheben und hat gerade neben seinem Stuhl zu stehen. So, wie Sie sich eben von den Plätzen erhoben haben, möchte ich es nicht noch einmal erleben.“

Meldke sagte alles so bestimmt, dass wir uns alle duckten. Wir bemerkten, dass er an seinem linken Arm einen Schaden hatte. Er führte ihn etwas steif und der Ellenbogen war scheinbar nicht mehr voll funktionsfähig. Wenn der Arm herunterhing, war er nie ganz gerade und die Handfläche zeigte dabei immer nach hinten.

Nun mussten wir uns vorstellen. Das ging alles ganz schnell. Danach drehte Meldke sich um und schrieb wahllos Zahlen an die Tafel. Die Zahlen ergaben zuletzt einen großen Kasten ohne Rahmen. Er ergriff den Zeigestock und tippte auf eine Zahl. Mit dem beschädigten Arm zeigte er auf einen von uns, der sich schnell wie gewünscht erhob und sagte entweder „Plus“, „Minus“, „Mal“ oder „Geteilt durch“ und tippte dann auf eine andere Zahl. So ging das bis zum Ende der Unterrichtsstunde. Meldke hatte uns im Griff.

In diesem Jahr, als ich bei Meldke war, habe ich mich sehr verändert. Gute Sachen lobte er und schlechte kritisierte er scharf. Bei der Kritik zeigte er den Weg, wie man das Ziel erreichen könnte. Durch die geringe Schülerzahl konnte sich Meldke intensiver mit dem einzelnen von uns befassen. Das war gut so.

Im September 1941 organisierte er eine zweitägige Schulfahrt nach Sonneberg und Lichtenfels, bei der wir in Coburg in einer Jugendherberge übernachteten. An diese Schulfahrt erinnere ich mich immer gern. Am 1. September ging es los. Ich brauchte am Morgen in Dietzhausen nur in einen Zug in Richtung Grimmenthal zu steigen, während der überwiegende Teil unserer Reisegruppe schon in Suhl eingestiegen war. Wir restlichen kamen in Grimmenthal dazu, wo wir in einen Zug in Richtung Eisfeld umzusteigen hatten. Von Eisfeld ging es dann nach Sonneberg, wo wir das Spielzeugmuseum besuchten. Nun, Spielzeuge waren nicht gerade nach unserem Sinn, jedoch die Führung haben wir zum größten Teil mitgemacht. Im unteren Teil des Gebäudes war ein Heimatmuseum angegliedert. Dieses Heimatmuseum interessierte uns mehr. Dort waren einige Spazierstöcke ausgestellt und Erhard Horch aus Meiningen schlug vor, diese Stöcke auf Wilderergewehre zu untersuchen. Verbotenerweise taten wir das und hatten Erfolg. Wir fanden zwei Gewehre, die als Spazierstöcke getarnt waren. Das erzählten wir dann der Frau, die die Führung veranstaltete hatte. Wir taten so, als hätten wir das ohne anzufassen bemerkt.

Von Sonneberg fuhren wir mit dem Zug Richtung Coburg. In Oelze stiegen wir aus und zu Fuß ging es weiter. Nach etwa vier Kilometern erklommen wir die Höhe zur Veste Coburg. Dort nahmen wir ebenfalls an einer Führung teil, an der wir allgemein wenig Interesse fanden. Von der Veste ging es zur Jugendherberge, in der wir bald unsere Betten aufsuchten, denn es sollte sehr früh mit dem Zug weitergehen.

Das vorgesehene Laufpensum des Folgetages kannten wir noch nicht. Wir fuhren am nächsten Morgen von Coburg mit dem Zug nach Lichtenfels. Von Lichtenfels aus liefen wir am Main entlang bis unter Schloss Banz. Dort gab es eine kleine Fähre, die uns in zwei Fahrten übersetzte, sodass wir den Berg hoch zum Schloss Banz erklimmen konnten. Auf dem Schloss gab es ebenfalls ein Museum, bei dem ich mich nur noch an das Gerippe eines Dinosauriers und ein ausgestopftes Krokodil erinnere. Das Krokodil hatte der Schlossherr bei einer Safari in Afrika erlegt.

Das alles interessierte uns nicht so recht und endlich setzten Friedel Fiege aus Heiligenstadt und ich uns ab. Uns schloss sich Hans Syndermann an. Fiege, in der Kirchenbegehung wohl kundig, lotste uns in die Kirche, in der er bald den Eingang fand, um zum Turm zu gelangen. Wir gerieten aber erst einmal seitlich auf die Decke des Kirchenschiffs. Über uns war der Dachstuhl mit seiner Bedeckung. Von unserem Standort sahen wir die Aussparungen, durch die es zu den zwei Türmen ging. Auch Glocken waren zu sehen. Wir tasteten uns vorsichtig zu der uns nächsten Turmaussparung vor, bis wir in den Turm hineinsehen konnten. Die dort angebrachten Leitern verleiteten Fiege und mich zum Hochklettern. Syndermann blieb unten. Die Leitern gingen jedoch nicht bis zur höchsten Stelle. So kletterten wir auf den Balken weiter bis in die Zwiebel. Dort befanden sich einige Fenster. Um nicht herunterzufallen, stützten wir uns auf den mit Brettern ausgeschlagenen Zwiebelwänden mit den Schultern und gestreckten Beinen ab. Da die Öffnung nach unten nicht zu groß war, konnten wir uns mit etwas Geschick den Fenstern zuwenden, durch die wir hinaus schauen wollten. So konnten wir die ganze Gegend gut betrachten. Wir befanden uns auf dem Turm, der nach der Mainseite liegt. Von da aus konnten wir auch in den Hof des Klosters blicken.

Während wir an unseren Abstieg dachten, schlug Syndermenn unverhofft mit einem Stein an eine der Glocken. Kurz darauf ging es auf dem Klosterhof lebhaft zu. Die Kittelmänner liefen aufgeregt in mehrere Richtungen. Wir schimpften auf Syndermann und der machte sich schnell aus dem Staube. Fiege und ich hockten noch auf dem Turm. Als sich die Aufregung auf dem Klosterhof gelegt hatte, stiegen wir schnell ab. Doch als wir zur Tür kamen, von der es ins Kirchenschiff ging, fanden wir sie verschlossen vor. Irgendwoher hatte Fiege etwas Draht oder einen Nagel gefunden, womit er die Tür öffnen konnte und wir rannten hinaus.

Dass unsere Meute schon beim Abmarsch war, hatten wir vom Turm aus bereits bemerkt. Im Laufschritt liefen wir auf der Straße den Berg hinunter. Noch bevor unsere Klasse die Mainbrücke überquerte, holten wir sie ein. Es ging nach Staffelstein. Dort kehrten wir in einer Gaststätte ein und bei einer Limonade verzehrten wir unsere Brote. Gern hätten wir ein Bayrisches Bier gekostet, doch das durfte nur Meister Sturm. Meldke trank ebenfalls Limonade.

Von Staffelstein aus ging es zum Staffelberg. Da konnten wir unsere Kletterlust befriedigen. Ich ging dann allein auf Entdeckungsreise und fand einen Pfad, der etwa in Wipfelhöhe der Bäumen unter den Felsen entlang verlief. Die Felsen sind dort wie Türme aneinander gereiht. Zwischen zwei solchen Felsentürmen entdeckte ich eine Stelle, an der ich hochklettern wollte. Vom Pfad aus kam ich auf eine größere schräge Platte, auf der ich mich bäuchlings hochrutschend auf eine Felsspalte zu bewegte, von der ich auf die obere Wiese des Berges zu gelangen dachte. Als ich auf der Mitte der Platte angelangt war, warfen doch ein paar Mitschüler Steine in die Felsspalte. Zum Glück sprangen die Steine über meinen Kopf und seitlich vorbei. Ich schrie natürlich vor Angst. Wäre ich ohnmächtig von der Platte gerutscht, wäre ich in die Tiefe gestürzt, denn nach dem Pfad gab es keine Stelle, an der ich aufgehalten worden wäre.

Als ich oben ankam, war man zu feige zu sagen, wer die Steine geworfen hatte. Es waren Steine dabei, die eine Doppelfaust ergeben hätten. Nachdem wir noch einige Minuten herumgelungert hatten, verließen wir den Berg und strebten auf eine große Kirche zu, die uns sehr nahe schien. Es war aber doch noch ein gutes Stück Weg. Wir kamen nach Vierzehnheiligen, einem katholischen Wallfahrtsort. Vor der Kirche nahm uns Meldke zusammen und instruierte uns, dass wir hier ungewohnte Dinge zu sehen bekämen. Er dulde nicht, dass wir darüber lachen würden. Wer das täte, erhalte von ihm eine Maulschelle und im Wiederholungsfalle flöge der Betreffende aus der Kirche.

In der Nähe des Kircheneinganges standen viele Buden, die aber fast alle geschlossen waren. Die offenen interessierten uns jedoch. Aber erst ging es in die Kirche. Wir „latschten“ da so hinein und staunten über den Prunk, den wir zu sehen bekamen. An einem Beichtstuhl, der sich in der nähe des Zugangs befand, kniete ein hübsches Mädchen mit gefalteten Händen und bewegendem Oberkörper, während sie zu dem im Beichtstuhl sitzenden aber von ihr nicht zu sehenden alten Mann hin flüsterte. Wir hörten nicht was sie sagte. Das belustigte uns schon.

Auf einmal kam ein Kittelmann in die Kirche und fiel auf die Knie. Er ging aber gleich weiter. Das fanden wir lächerlich. Klatsch, klatsch, klatsch war zu vernehmen und drei von uns erhielten die angedrohte Ohrfeige. Ich war natürlich dabei. Das war der erste Streich. Der zweite folgte zugleich, als eine junge Frau aus einer Bankreihe heraustretend auf die Knie ging. Ich durfte mit noch einem vor die Kirche gehen. Wir ersten blieben nicht allein. Es gesellten sich nach kurzer Zeit noch mehrere zu uns.

Die Abenddämmerung kam auf und wir wanderten in Richtung Lichtenfels weiter. Der Weg verlief durch dichten Laubwald und an einer Böschung, auf der ein Gartenzaun stand. Dadurch verdunkelte sich der Weg. Wir waren drei oder vier Mann und bummelten mit der Absicht, eine Zigarette zu rauchen. Das gelang uns, weil ich ja ein Feuerzeug hatte und Meldke und Sturm weit voraus geschritten waren. Das Rauchen machte uns keinen Spaß. Dadurch merkten wir, dass wir eigentlich Durst hatten. Bis zum Bahnhof und auch auf diesem war nichts Trinkbares zu finden.

Mit Meldke ging es bei mir aufwärts. Was es vorher nicht gab: Die Schule machte mir Freude. Berufskunde hatten wir im 2. Lehrjahr bei Meister Gerbig und Betriebs- und Reichskunde bei Herrn Fleischmann. Sport bei einem ehemaligen Lehrausbilder, der bis zur Einberufung des Sportlehrers zur Wehrmacht Sportwart war, also die materiellen Dinge zum Sport vorzuhalten hatte, einschließlich der als Sporthalle genutzten Sportbaracke und dem Sportplatz mit Aschenbahn und Sprunggrube.

Reichskunde bei Fleischmann wurde mehr und mehr zum Kotzen. Es ging bei ihm fast nur um den Deutschen Ritterorden und Heinrich den Löwen. Auch was Heinrich der Vierte und Kaiser Barbarossa falsch gemacht hätten, indem sie ihren Blick nach Süden, statt in den Osten gerichtet hätten. Heinrich der Löwe hätte den richtigen Blick gehabt. Er hat Ostgebiete erobert. Ich sehe Fleischmann in meinem Gedächtnis heute noch, wie er mit seiner Wanderhose und Kniestrümpfen, seiner Strickjacke mit großen Perlmutknöpfen, die ihn einem Schäfer ähnlich machten, vor den Bänken des Physikraumes umher stakte. Dabei baumelte aus einer Tasche der dunklen Strickjacke eine recht große Uhrkette. Die Uhr zog er dann ab und zu hervor, um nach der Zeit zu sehen.

Was Meldke bei mir aufgepäppelt hatte, brachte Fleischmann in den Keller. Meister Gerbig gab uns wertvolle Ratschläge für unseren Beruf, aber manchmal zog es uns bei ihm auch die Augen zu. Bei Meldke gab es das nicht.