Das Geisterschiff

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2.

Nicht Omicron, eines der relativ seltenen Doppelgestirne, sondern eine kleine, gelbe Sonne, als deren Begleiter drei Planeten auszumachen waren, leuchtete von den Bildschirmen herab.

»Fehltransition!«, konstatierte der Captain niedergeschlagen. »Wenn wir nicht rechtzeitig auf Omicron II eintreffen, werden wir unser blaues Wunder erleben.«

»Ich kann keinen Fehler in den Berechnungen finden«, seufzte Swensson nach einer Weile. »Der Kontrollstreifen ist ebenfalls in Ordnung. Die Kursdaten sind exakt.«

Finch winkte mürrisch ab. »Lass es gut sein. Wir haben keine Zeit, uns lange mit Fragen herumzuschlagen, die wir nicht beantworten können. Unsere Position …«

Ein Anruf aus dem Triebwerksraum unterbrach ihn. Das Gesicht von Wilson Kane erschien auf dem Monitor des Bordrundrufs. Der Techniker war sichtlich erregt.

»Was denkt ihr da oben euch eigentlich?«, platzte Kane heraus. »Ich soll den ganzen Schlamassel wieder in Ordnung bringen, was? Diesmal nicht. Ich sage dir, Sam, da ist nichts zu reparieren.«

»Der Reihe nach!«, bat der Captain. »Wovon redest du überhaupt?«

Der Techniker riss vor Überraschung der Mund und Augen auf. »Du bist gut. Erst fliegt ihr den Hyperantrieb in Klumpen, und dann will es keiner gewesen sein. Der Umwandler ist ein einziger riesiger Schrotthaufen. Wir können von Glück reden, dass er uns nicht um die Ohren geflogen ist, sonst wären wir …« Kane schnippte mit den Fingern.

Der Captain holte tief Luft. Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Willst du ernsthaft behaupten, dass unser Antrieb nach einem Sprung von knapp zweihundert Lichtjahren Schrottwert hat?«

»Zweihundert?« Kane winkte heftig ab. »Du hast Nerven. Dreitausend – trifft die Sache weit eher. Ich halte es für ein Wunder, dass die MADELEINE den Gewaltakt überstanden hat.«

»Sag’ das noch einmal!« Finch hatte sich vornübergebeugt, die Ellenbogen auf seiner Konsole aufgestützt und das Gesicht in beiden Händen vergraben. So starrte er auf die Wiedergabe der Außenbeobachtung und den Monitor zugleich. »Besteht eine Gefahr für das Schiff?«

Wilson Kane schüttelte den Kopf. »Die Energiezufuhr ist komplett unterbrochen. An dem Aggregat kannst du dir nicht einmal mehr die Finger verbrennen.«

»Okay, dann komm rauf in die Zentrale.« Der Monitor erlosch und Finch wandte sich an den Ersten Offizier: »Steht unsere Position fest?«

»Ich fürchte, Wilson hat recht, wenn er von dreitausend Lichtjahren spricht«, antwortete der Erste tonlos. »Für diesen Sektor liegt keine Sternkarte vor. Wir befinden uns in unerforschtem Gebiet.«

»Wir haben hier eine Sonne vom G-Typ vor uns. Wie weit ist das nächste Sonnensystem entfernt?«

Swensson benötigte einige Minuten, um das festzustellen.

»Etwa vier bis fünf Lichtjahre …«

»Also derzeit unerreichbar für uns. Ebenso, wie wir mit unserer Funkanlage keine dreitausend Lichtjahre überbrücken können ‒ es sei denn, wir hätten drei Jahrtausende Zeit.« Finch ließ eine wüste Verwünschung folgen.

»Warten bringt noch weniger«, kommentierte Kincaid. »Es gibt zu viele weiße Flecke auf den Karten der Galaxis. Bis hier eines unserer Schiffe aufkreuzt, kann ein Menschenleben vergehen …«

Wilson Kane betrat die Zentrale. Sofort wandten sich die drei Männer dem Techniker zu. Kane reagierte mit einem Achselzucken darauf.

»In der Schwerelosigkeit ist eine Reparatur undenkbar, das wisst ihr«, sagte er. »Zudem fehlen einige Ersatzteile, die wir in mühevoller Kleinarbeit erst selbst herstellen müssen. Jeder weiß doch, wie es um unseren Kahn steht.«

»Also bleibt uns keine Wahl«, stellte Finch fest. »Hoffentlich bietet einer der drei Planeten günstige Bedingungen. ‒ Welche Metalle benötigen wir für die Ersatzteile?«

*

Nach fünf Stunden Flugzeit ‒ wenigstens der Normalantrieb rechtfertigte die in ihn gesetzten Erwartungen ‒ passierte die MADELEINE die sonnennächste Welt, einen stark abgeplatteten, zerfurchten Kleinplaneten. Mangels eigener Rotation herrschte auf der sonnenabgewandten Seite eisige Nacht, während die Fernthermometer auf der anderen Hälfte Temperaturen bis zu fünfhundert Grad Celsius anmaßen.

»Ungeeignet«, sagte Swensson bedauernd. »Wer kann sich schon für Seen aus geschmolzenem Blei begeistern?«

Planet Nummer zwei zeigte sich kaum besser. Wegen der fehlenden Lufthülle war er für eine Landung denkbar ungeeignet. Die MADELEINE raste mittlerweile mit nahezu fünfzigtausend Kilometern in der Sekunde durch das Sonnensystem und musste bereits auf Gegenschub gehen.

Schließlich näherte sich der Frachter dem dritten und äußersten Planeten.

»Zwölftausend Kilometer Äquatordurchmesser!«, meldete Swensson. »Die Schwerkraft beträgt null Komma neun fünf Gravos. Stark ausgeprägte Polkappen. Nahezu die gesamte Oberfläche liegt unter dichten Wolkenfeldern verborgen.«

Knapp zwanzigtausend Kilometer über dem Planeten schwenkte die MADELEINE in einen Orbit ein.

»Sauerstoff, Stickstoff, Edelgase!« Vor Begeisterung platzte Swensson lauthals heraus. »Die Atmosphäre ist für uns atembar ‒ hört ihr?«

Die Welt, die sich nun langsam unter ihnen drehte, schien unbewohnt. Falls sie intelligentes Leben hervorgebracht hatte, stand es bestenfalls auf einer vor-technischen Entwicklungsstufe. Die Antennen des Frachters fingen nicht die einfachsten Funksignale auf.

Wo die Wolkendecke aufriss, wurde für kurze Zeit erkennbar, was sie sonst schamhaft verborgen hielt: die tiefblauen Wogen eines Ozeans und die schmutzig braune Vegetation weiter Landstriche.

Der Landeflug erfolgte nur mithilfe des Antigravs. In knapp acht Kilometern Höhe tauchte die MADELEINE in die ersten dichten Wolkenbänke ein. Ringsum tobte ein Chaos aus Blitzen und dröhnenden Donnerschlägen. Faustgroßer Hagel prasselte gegen das Schiff.

Obwohl die Morgendämmerung über diesem Bereich des Planeten schon einige Stunden zurücklag, herrschte finsterste Nacht. Captain Finch flog den Frachter ohne Sicht. Unaufhörlich zerrte und rüttelte der Sturm an der MADELEINE, als wolle er sie vom Kurs abbringen.

Dann ‒ Bodenkontakt.

Ein letztes Knistern und Knacken, mit dem Spanten und Verstrebungen zur Ruhe kamen, ein leichtes Nachfedern der mächtigen Landebeine. Das Dröhnen des Antigravs brach unvermittelt ab.

Minuten später begann der Orkan abzuflauen. Es dauerte nicht lange, dann verklang das Donnergrollen in der Ferne. Am östlichen Horizont durchbrachen vereinzelte Lichtfinger das Schwarz der Wolken. Keine zehn Minuten später schien für kurze Zeit die Sonne.

*

Eine weite Steppe erstreckte sich bis an den Horizont. Das Land war so gleichmäßig eben, dass es eigentlich nur während einer Eiszeit entstanden sein konnte. In der Nähe der MADELEINE plätscherte ein weit mäandernder Fluss gemächlich dahin.

Etwa zehn Kilometer südlich erhob sich eine bewaldete Hügelkette aus der Ebene. Nicht besonders hoch, aber den Messungen zufolge reich an Bodenschätzen.

»Wir sehen uns die Sache aus der Nähe an«, entschied der Captain. »Je eher wir dieser Welt ade sagen können, desto besser.« Er wandte sich an Swensson: »Jack, du bleibst an Bord. Bis zu unserer Rückkehr sollte alles vorbereitet sein; vielleicht können wir schon morgen oder übermorgen mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Ach ja ‒ und setze alles daran, herauszufinden, was für unseren Fehlsprung verantwortlich war. Das lässt mir keine Ruhe.«

Eine Viertelstunde später verließen der Captain, Dave Quinger und der Lagerist Walter Küber die MADELEINE durch die Heckschleuse. Sie führten einen hochmodernen Bodentaster mit sich, der Probebohrungen bis zu fünfzig Metern Tiefe ermöglichte. Zu ihrem Selbstschutz trugen sie die üblichen handlichen Laserpistolen. Auch wenn es unnötig erschien, die generellen Vorschriften für Raumfahrer enthielten in der Hinsicht eindeutige Passagen.

Es war eine lautlose Landschaft, die sie auf ihren Antigravkissen überflogen. Eine in Reglosigkeit erstarrte Natur.

»Es ist seltsam hier«, kommentierte Quinger. »Eine unwirkliche Welt. Ich vermisse Insekten, Vögel und überhaupt …«

»Sei froh, dass wir uns nicht mit einer bedrohlichen Tierwelt herumschlagen müssen«, fiel der Captain dem Funker ins Wort. »So friedvoll ist es mir bedeutend lieber. Im Übrigen werden wir gleich die nötigen Messungen vornehmen. Schon um die Daten zu präzisieren, die wir vom Schiff aus bekommen haben.«

Sie landeten auf einem sanft ansteigenden Hang, rund hundert Meter über dem Niveau der Ebene. Vor ihnen begann ein dichter werdender Wald.

Bereits die ersten detaillierten Analysen bestätigten größere Erzvorkommen. Sie begannen in einer Tiefe von etwa dreißig Metern und setzten sich weit in die Kruste des Planeten hinein fort.

Eine Probebohrung wurde niedergebracht. Mühelos fraß sich der wenige Zentimeter dicke Desintegratorstrahl in den Untergrund. Allerdings kam er schon nach wenigen Minuten zum Stillstand. Der stete Strom ihrer molekularen Bindungen beraubter Materie versiegte jäh. Daran änderte sich auch nichts, als der Captain die Energieleistung erhöhte und den Durchmesser des Bohrstrahls vergrößerte.

»Unmöglich.« Kopfschüttelnd schaltete Finch das Gerät ab. »Es gibt nicht viel, was einem Desintegrator widerstehen kann.«

»Metatol«, sagte Quinger. »Vor allem das künstliche Metall hat diese Widerstandskraft. Gerade deshalb und wegen seines geringen spezifischen Gewichts findet es im modernen Raumschiffsbau Verwendung.«

Wer das langwierige, technisch aufwändige Herstellungsverfahren von Metatol kannte, dem musste sich eine Frage geradezu aufdrängen: Wie kam das Kunstmetall, das der Menschheit erst seit wenigen Jahren bekannt war, unter die Oberfläche einer offenbar unbewohnten Welt?

 

»Es kann dort seit Jahrtausenden liegen«, überlegte Dave Quinger.

»Das Wrack eines abgestürzten Raumschiffs?«, fragte der Captain. Er stutzte, weil Quinger auf eine einzelne Baumgruppe zuging. »Dave, was hast du vor?«

Quinger hielt nur kurz inne und sah sich um. »Ich ‒ weiß nicht recht.« Er wirkte nervös. »Ich habe den Eindruck, wir werden seit einigen Minuten beobachtet.«

»Hier ist niemand außer uns.« Finch winkte ab, doch wie er das tat, indem er sich halb um die eigene Achse drehte, verriet seine eigene Unsicherheit. Nach wie vor war alles ruhig ‒ zu ruhig, wie er mit einem Mal fand.

»Zurück zur MADELEINE?«, fragte Küber.

Dave Quinger stieß einen unterdrückten Schrei aus. Seine Rechte hatte er ohnehin schon nahe an der Laserpistole gehalten, nun riss er die Waffe vom Magnetholster und löste sie aus.

Fauchend entlud sich der Strahlschuss. Dreißig Meter entfernt ließ die gebündelte Energie einen umgestürzten Baum aufglühen. Das feuchte Holz bot den aufzuckenden Flammen aber wenig Nahrung.

Zweimal hintereinander betätigte Quinger den Auslöser. Die zweite Schussbahn lag etwas weiter links. Für den Bruchteil einer Sekunde traf der Laserstrahl auf ein bisher unsichtbares Hindernis, floss daran auseinander und zeichnete dessen Konturen nach. Die Umrisse schienen einer menschlichen Gestalt zu gehören.

Gleichzeitig rissen auch der Captain und Walter Küber ihre Waffen hoch.

»Also doch!«, stöhnte Quinger. »Jemand verfolgt uns, womöglich schon seit wir das Schiff verlassen haben. Es war nicht mehr als ein Zufall, dass ich dieses Wesen, oder was immer es sein mag, bemerkte.«

»Wir sind also nicht allein hier«, bestätigte Finch. »Wer immer das ist, sein Versteckspiel lässt nicht das Beste ahnen. Gut, wenn es so sein muss: Wir schießen, sobald etwas verdächtig erscheint. Fragen stellen wir hinterher.«

Der Captain hielt seinen Laser schussbereit und griff mit der linken Hand nach dem Bodentaster. Gemeinsam mit Küber hob er das Gerät an.

»Wir gehen zurück«, entschied er.

Der Erste Offizier meldete sich Sekunden später über Funk: »Wir haben Laserschüsse angemessen. Was ist bei euch los?«

»Eine Begegnung mit etwas Unsichtbarem«, antwortete Finch. »Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ist bei euch alles ruhig?«

»Keinerlei Vorfälle.« Jack Swensson klang überrascht. »Soll ich den Schutzschirm aufbauen?«

Finch entschied sich dagegen. Der Energieverlust, den ein aktives Prallfeld für die MADELEINE bedeuten würde, eben weil der Umwandler ausgefallen war, erschien ihm zu hoch.

»In Ordnung«, bestätigte Swensson. »Und das Wichtigste: Wir haben die Ursache unseres Fehlsprungs herausgefunden. ‒ Jemand hat am Bordrechner herumgespielt!«

Weil der Captain nicht sofort darauf reagierte, fuhr der Erste Offizier fort: »Die Zielkoordinaten wurden für dieses Sonnensystem programmiert. Wer immer uns das eingebrockt hat, ist dabei äußerst geschickt vorgegangen. Eine Rückkopplung löschte alle zu einem späteren Zeitpunkt eingegebenen Werte, aber erst, nachdem diese auf dem Kontrollstreifen ausgedruckt worden waren. Einen raffinierteren Trick kann ich mir kaum vorstellen.«

Der Captain und seine beiden Begleiter sahen einander erschrocken an.

»Wer könnte die Programmierung ausgeführt haben?«, fragte Finch.

Swensson hatte sich die Frage schon gestellt, denn er antwortete ohne zu zögern: »Außer uns beiden vielleicht Wilson. Jeder andere müsste spätestens an der Überbrückungsschaltung scheitern.«

Der Captain rieb sich das Kinn. »Ich war es nicht, du sicher auch nicht, und Wilson …?«

»Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer«, antwortete der Erste Offizier.

»Ich bin ganz deiner Meinung.« Der Captain seufzte. »Also, was bleibt? Kann der Rechner während unseres letzten Aufenthalts frisiert worden sein? Ich meine, Universe-City ist ein heißes Pflaster.«

»Ausgeschlossen!«, wehrte Swensson ab. »Die falsche Programmierung muss zeitnah vor dem letzten Hypersprung erfolgt sein, also erst nach unserem Orientierungsaustritt. Andernfalls wären wir nie im Debair-Sektor angekommen. Ich kann mir auch nicht vorstellen …« Mitten im Satz brach die Verbindung ab.

»Jack!«, rief Finch in böser Vorahnung. »Jack, was ist los?«

Swensson antwortete nicht.

Augenblicke später wussten der Captain und seine Begleiter, was geschehen war. Die MADELEINE war verschwunden!

3.

Ein Schrei voller Furcht und Entsetzen ließ Jack Swensson herumfahren. Er sah gerade noch die letzte Phase einer erschreckenden Verwandlung, die sich auf allen Bildschirmen abzeichnete. Wallender, schwarzer Nebel lag über ihrem Landeplatz und schickte sich an, ins Schiff einzudringen.

In der Zentrale wurde es merklich dunkler. Die Beleuchtung flackerte ‒ ein untrügliches Zeichen, dass sich das Notaggregat zugeschaltet hatte.

»Schutzschirm ein!«, brüllte Swensson.

Sekundenlang schwoll das monotone Arbeitsgeräusch der Konverter zum ohrenbetäubenden Dröhnen an. Dann fiel der Geräuschpegel jäh wieder ab.

»Aus!«, sagte jemand betroffen. »Was immer da geschieht, wir können es nicht aufhalten. Etwas zapft uns sämtliche Energie ab.«

Der Schutzschirm war, kaum im Aufbau begriffen, schon wieder zusammengebrochen.

Ein kurzer, stechender Schmerz raubte dem Ersten Offizier den Atem, dann tauchte sein Bewusstsein hinab in ein Meer aus Glückseligkeit, in dem alle Probleme unbedeutend wurden.

*

Die Abdrücke der Landeteller im aufgeweichten Boden, das war alles, was noch an den Frachter erinnerte.

»Ich begreife es nicht«, sagte der Captain zum wiederholten Mal. »Ich verstehe einfach nicht, wie ein Raumschiff spurlos verschwinden kann.«

Keinesfalls war die MADELEINE gestartet. Das war aber auch das Einzige, was unumstößlich feststand. Ansonsten konnte alles Denkbare geschehen sein.

Auf ihre verzweifelten Funksprüche bekamen Finch und seine beiden Begleiter keine Antwort.

»Was können wir außerdem tun?«, fragte Walter Küber.

»Nichts«, antwortete Dave Quinger tonlos. »Nur warten. Darauf, dass ein Wunder geschieht.«

*

Waren Minuten vergangen, Stunden oder gar Tage? Jack Swensson hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als er langsam wieder zu sich kam. Erst ein Blick auf das Chronometer zeigte ihm, dass er höchstens Minuten ohne Bewusstsein gewesen war.

Einigermaßen erleichtert registrierte er, dass die Beleuchtung wieder funktionierte. Jene seltsame, vollkommen lichtlose Schwärze war verschwunden. Sein Blick wanderte weiter über die Bildschirme …

… und seine Faust knallte auf den Alarmknopf.

»Das darf nicht wahr sein!«, keuchte Swensson. In Gedanken sah er die MADELEINE nach wie vor in der Ebene unter dem wolkenverhangenen Firmament. Die Bildschirme zeigten ihm etwas gänzlich anderes.

Das weiße Licht einer künstlichen grellen Sonne zeichnete scharfe Konturen. Der Erste sah rundum fensterlose wuchtige Gebäude. Ihre Größe schätzte er von der eines Bungalows bis hin zum mehrstöckigen Hochhaus. Dazwischen verliefen kühn geschwungene Straßen. Vereinzelt huschten Fahrzeuge über die Pisten.

»Eine fantastische Welt«, flüsterte Wilson Kane. »Aber … wo kommt das alles urplötzlich her? Was ist mit uns geschehen?«

Die MADELEINE stand auf einem ausgedehnten freien Platz. Und, so unglaublich es klingen mochte, niemand schien sich für den Frachter zu interessieren. Keines der vorbeirasenden Fahrzeuge hielt an; niemand stieg aus, um das Raumschiff, das gar nicht in diese fremdartig anmutende Umgebung passen wollte, in Augenschein zu nehmen.

»Keiner nimmt von uns Notiz«, stellte Swensson ungläubig fest. »Gibt es hier niemanden, der eine gesunde Neugierde entwickelt?«

Minutenlang sah der Erste Offizier der scheinbaren Geschäftigkeit zu, dann verlor er die Geduld. »Ich werde eine Reaktion erzwingen«, sagte er missmutig. »Immerhin haben wir Möglichkeiten, auf uns aufmerksam zu machen.«

»Jemand hat uns hierher verschleppt«, gab Kane zu bedenken. »Das geschah bestimmt nicht grundlos. Also werden sich der oder die Unbekannten mit uns in Verbindung setzen. Aus eigener Kraft sind wir jedenfalls nicht in diese Stadt gelangt. Ich frage mich sowieso, ob das noch der wolkenverhangene Planet ist. Allerdings – das klingt schon extrem verrückt.«

Swensson reagierte mit einem Schulterzucken darauf. Er prüfte die Funktionen seines Schaltpults und aktivierte den Schutzschirm.

Das heißt, er hatte das tun wollen. Zwei Ereignisse, die fast gleichzeitig geschahen, vereitelten seine Bemühungen. Zum einen reagierte mit peitschendem Knall eine Sicherungsschaltung; alle Projektoren des Schutzschirms waren danach von der Energieversorgung getrennt. Zum anderen setzte ein Fahrzeug wenige Meter neben der Heckschleuse auf. Wilson Kanes warnender Ruf machte den Ersten Offizier darauf aufmerksam.

»Na also, das wurde Zeit«, sagte Swensson. »Nun werden wir hoffentlich bald erfahren, was hier eigentlich gespielt wird.«

Nach weiteren langen Minuten des Wartens öffnete sich das Fahrzeug. Optisch sah es aus, als löse sich die obere Rumpfhälfte einfach auf. Ein silbern gekleidetes Wesen wurde sichtbar.

»Ein Mensch?«, rief jemand überrascht.

Mit einem eleganten Satz sprang der Fremde aus dem Fahrzeug und schritt näher an die MADELEINE heran.

Die Optiken holten ihn nahe heran. Ein markantes, hart wirkendes Gesicht blickte von den Bildschirmen in der Zentrale herab. Der Fremde hätte durchaus ein Mensch sein können. Nur die breite, weit vorspringende Nase und die schimmernden, tief in den Höhlen liegenden Augen störten den Eindruck und verliehen ihm einen unirdischen Einschlag. Sein Blick hatte etwas Zwingendes.

»Dem zeige ich, dass man so nicht mit uns umspringen darf!«, tönte es schrill durch die Zentrale. »Ich habe den Kerl im Fadenkreuz.«

»Nein!« Swensson schwang mitsamt seinem Sessel herum und hechtete geradezu zu der benachbarten Kontrollkonsole. Er schlug die Hand des »Verrückten« beiseite, der soeben im Begriff war, das Bordgeschütz auszulösen.

Ein unerwarteter Konter trieb dem Ersten die Luft aus den Lungen. Er setzte trotzdem nach und ließ die Fäuste vorschnellen. Die Abwehrreaktion des Gegners kam zu spät, ächzend ging er zu Boden.

Swensson schüttelte sich ab. »Dan Henderson!«, schnaufte er. »Ich hätte mir denken können, dass er Schwierigkeiten macht – ein aufgeblasener Spund, der in den zwei Monaten bei uns an Bord nichts dazugelernt hat.« Er musterte den am Boden Liegenden mit einem wütenden Blick.

»Wer außer Henderson hat Lust, uns alle umzubringen?«, fragte er aufgebracht. »Solange wir nicht wissen, wer die Fremden sind, was sie von uns wollen und vor allem, was sie können, will ich keinen von uns mit einer Waffe in der Hand sehen. Ich hoffe, das ist eindeutig.«

Mehrere Männer nickten betreten.

»Was machen wir nun mit dem da draußen?« Der silbern Gekleidete stand vor der Schleuse. Seine Haltung verriet unmissverständlich, dass er an Bord kommen wollte.

»Ich habe nicht vor, ihn daran zu hindern«, sagte Swensson. »Ist jemand anderer Meinung?«

Der Fremde machte eine herrische Geste. Nicht nur, dass er sehr genau zu wissen schien, wo die optische Überwachung verborgen war, seine Handbewegung verriet Ungeduld.

»Wilson, du begleitest mich!«, bestimmte Swensson.

Im Laufschritt verließ er die Zentrale. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Henderson sich wieder aufrichtete, aber schon glitt das Schott hinter ihm und Wilson Kane zu.

»Musstest du so hart mit dem Jungen umspringen?«, fragte der Techniker zögernd, während sie im Antigravschacht nach unten schwebten.

»Geschossen wird nur, falls die Sicherheit des Schiffes oder seiner Besatzung es erfordert. Beides war nicht der Fall. Wir hätten in Teufels Küche kommen können.«

Swensson war keineswegs nachtragend. Trotzdem nahm er sich vor, Henderson künftig besonders im Auge zu behalten. Der junge Techniker hatte sich entschieden zu viel herausgenommen.

Sie öffneten die Schleuse. Swensson hielt dem Fremden seine leeren Handflächen entgegen ‒ eine Geste, die der Andere nicht erwiderte.

»Ich nehme an, Sie können uns nicht verstehen«, sagte der Erste betont langsam und deutlich. »Leider haben wir an Bord unseres Frachters keinen schon auf Ihre Sprache programmierten Translator.«

 

Der Fremde schwieg. Von Swensson glitt sein Blick zu Kane und huschte dann durch die enge Schleusenkammer. Nichts schien dabei seiner Aufmerksamkeit entgehen zu können.

Das Innenschott stand offen. Dahinter verlief nur der breite, leere Korridor, der zum Antigravschacht und den Laderäumen führte. Weil der Fremde einige hastige Schritte vorwärts machte, sah Kane sich gezwungen, ihm den Weg zu versperren.

Erst jetzt fiel Swensson und Kane auf, dass das, was sie für eng anliegende Kleidungsstücke gehalten hatten, eher wie eine zweite Haut war, die sich glatt und faltenfrei anschmiegte. Um die zwei Meter maß der Fremde, sie mussten beide zu ihm aufsehen. Und sein Körper war der eines Athleten, breitschultrig und muskulös.

»Was, was ist …?«, brachte Kane noch über die Lippen, dann wischte ihn ein wuchtiger Hieb zur Seite und ließ ihn gegen die Schleusenwand prallen. Ein stechender Schmerz im Brustkorb raubte ihm beinahe die Besinnung.

»Wilson!« Swenssons Aufschrei vermischte sich mit dem Poltern wuchtiger Schritte. Der Fremde eilte quer durch die große Schleusenkammer.

Übergangslos hielt der Erste Offizier den Laser in der Hand. Der blitzschnellen Reaktion des Fremden hatte er jedoch nichts entgegenzusetzen. Ein Hieb traf ihn, bevor er die Waffe einsetzen konnte.

Ohnmächtiger Zorn begleitete Swensson hinüber ins Reich der Träume.

*

»Captain Samuel Finch!«

Minuten vergingen, bis der Captain sich darüber klar wurde, dass die Stimme nicht nur in seiner Einbildung existierte, sondern sich auf unverständliche Weise in seinen Gedanken formte. Seine erste Regung war, sich umzusehen. Aber da war niemand außer seinen beiden Begleitern, die sich neben ihm niedergelassen hatten.

Captain Finch!

In ihm formten sich Begriffe, die aus weiter Ferne zu kommen schienen, drängend und ungeduldig. Telepathie!, durchzuckte es Finch. Ja, das musste es sein. Jemand suchte die mentale Verbindung zu ihm.

»Wer bist du?«, fragte er und sprach die Frage laut aus. »Woher kennst du meinen Namen?« Ohne darüber nachzudenken, benutzte er das vertrauliche »Du«. Die verständnislosen Blicke seiner Begleiter beachtete er überhaupt nicht.

Dave Quinger sprang auf.

»Lass den Captain!«, zischte Küber, obwohl er ebenso wenig verstand, was geschah.

Finch blickte ausdruckslos vor sich hin; er wirkte mittlerweile wie in Trance.

Konnte der Unbekannte Gedanken lesen? Wenn ja, dann musste er bereits alles über die drei Männer und ihre Herkunft wissen. Samuel Finch war krampfhaft bemüht, seine Gedanken im Zaum zu halten, er schaffte es kaum.

»Wer bist du?«, fragte er noch einmal, weil die erwartete Antwort ausblieb. Angespannt konzentrierte er sich nur auf diese Frage. Und tatsächlich: Erneut klangen jene Symbole auf, die ihn verstehen ließen, was sein unsichtbarer Partner dachte.

Ich höre dich, Captain Samuel Finch, wenn auch nur sehr undeutlich. Du musst alles Störende von dir fernhalten. ‒ Ich weiß nicht, wie viel Zeit für diesen Kontakt bleibt.

In Finchs Überlegungen schlug etwas Alarm. Befand sich der Unbekannte in Bedrängnis? Es klang so.

Der Captain verharrte in der Hocke. Die Beine angezogen und beide Arme um die Knie geschlungen, lauschte in sich hinein. Ich bin Oam-Pham-Phu. Ich will dir und deinen Begleitern helfen, wie ich es versprochen habe, verstand er. Vor seinem inneren Auge formten sich zugleich Bilder, mit denen er nichts anzufangen wusste: endlos lange Reihen gläserner, sargähnlicher Kästen, übereinandergestapelt und nur durch schmale Gänge voneinander getrennt. In jedem dieser Kästen lag ein Mensch – zumindest ein Wesen, das einem Menschen verblüffend ähnlich sah.

Tot?, durchzuckte es den Captain.

Das wären wir ohne deine Hilfe wohl für immer geblieben. Trotzdem sollten wir uns jetzt nur auf das Wesentliche konzentrieren. Wenn ihr diese Welt je wieder verlassen wollt, müsst ihr ins Reich von uns Photiden eindringen.

Es folgte die kurze, sehr präzise Beschreibung einer subplanetaren Stadt und ihres einzigen unbewachten Zugangs. Captain Finchs spontane Vermutung, dass er es mit zwei einander gegenüberstehenden Parteien zu tun hatte, wurde bestätigt.

Trotzdem: Wem konnte dieser Oam-Pham-Phu etwas versprochen haben? Kein Besatzungsmitglied der MADELEINE hatte den Planeten jemals zuvor betreten. Finch vermutete, dass er irgendetwas falsch verstanden hatte.

Eine Frage brannte ihm besonders auf den Lippen: »Was ist mit unserem Raumschiff geschehen?«

Euer Sternenschiff befindet sich in der Gewalt der Krieger, erklärte sein unsichtbar bleibender Gesprächspartner. Seit Jahrtausenden warten sie auf eine solche Gelegenheit. Nun werden sie Hass und Vernichtung über die Völker der Galaxis bringen und das Imperium unserer Schöpfer neu entstehen lassen. Angst und Schrecken werden regieren.

Die Szenen, die Finch vor seinem inneren Auge zu sehen bekam, entsetzten ihn. Sie waren pures Grauen, doch er konnte sich nicht von ihnen lösen. Sterbende Sonnen, brennend auseinanderbrechende Planeten, vernichtende Raumschlachten …

So war es, kommentierte Oam-Pham-Phu, und der Captain spürte deutlich die Verbitterung, die in den Gedanken mitschwang. Und so wird es wieder sein, sollte es den Kriegern gelingen, euer Sternenschiff umzurüsten. Dann werden erneut die alten Waffen sprechen!

*

Als er erwachte, war Dunkelheit um ihn. Von irgendwo drang verhaltenes Stöhnen heran. Er versuchte, sich zu erinnern, fand aber nur Leere in seinen Gedanken.

Das Stöhnen wurde lauter.

Jack Swensson wälzte sich zur Seite und richtete sich halb auf. Er vermisste die vertrauten Geräusche, das monotone Brummen der Konverter, das Flüstern der Umwälzanlage. Die Luft, die er atmete, war stickig; sie schmeckte nach Moder und Schimmel. Kein Zweifel, er befand sich nicht an Bord der MADELEINE.

Der Boden, uneben und glitschig, schien nur aus roh behauenem Stein zu bestehen. Swensson ertastete etwas Ekliges, Nasses, das sich sofort um seine Finger wickelte. Angewidert riss er die Hand zurück.

Das halb erstickte Gurgeln, mit dem das Stöhnen abbrach, ließ Swensson frösteln. In die entstandene Stille hinein platzten die kaum verständlichen Worte: »Ist hier noch jemand?«

»Ich bin es, Jack«, antwortete der Erste Offizier.

Ein Rascheln erklang. Jemand schob sich vorsichtig über den Boden.

»Gott sei Dank!« Das war Wilson Kanes Stimme. Sie klang deutlicher als eben, erleichtert. »Ich fürchtete schon, allein ausharren zu müssen.« Eine Hand klammerte sich um Swenssons Knie. »Bist du das?«

»Ja. – Du weißt, was geschehen ist?«, fragte der Erste.

»Wir haben uns angestellt wie Idioten. Nicht einmal dein Laser konnte ihn beeindrucken.«

»Ich habe geschossen …?« Swenssons Erinnerung kam allmählich zurück.

Ein Licht flammte auf, winzig und flackernd. Der Widerschein der zitternden Flamme spiegelte sich auf Clem Parkers Gesicht und ließ seine mürrischen Züge härter erscheinen als gewohnt. Schützend hielt der Smutje seine Hand vor den brennenden Docht des Feuerzeugs. Kein Zweifel, er fürchtete, die Flamme durch einen unvorsichtig verursachten Luftzug auszulöschen.

»Ich habe keine Ahnung, wohin man uns verschleppt hat«, sagte Parker, »trotzdem sollten wir versuchen, hier wegzukommen.«

Der Raum, in dem sie sich befanden, war gerade so hoch, dass ein erwachsener Mensch darin stehen konnte. Die Wände waren feucht und glitschig, Kondenswasser sammelte sich in trüben, übel riechenden Pfützen. Von der Decke hingen bizarre Tropfsteine. Sie waren wuchtig genug, um erkennen zu lassen, dass die Höhle seit Jahrtausenden existierte.

Nahezu alles wurde überwuchert von einer langstieligen Flechtenart, die in unmittelbarer Nähe der Feuerzeugflamme sichtlich in Bewegung geriet.

Soweit Swensson es erkennen konnte, war die gesamte Besatzung der MADELEINE in der Höhle zusammengepfercht. Einige Männer und Frauen regten sich noch nicht einmal.