Steinreich

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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Hokuspokus, ein Griff in die Hosentasche. Danke Fix, echt, tausend Dank. Telepathie? Was weiß ich, auf jeden Fall hatte ich dieses verknitterte Stück Papier in meiner Hand, plötzlich so selbstverständlich, so banal und so logisch wie ich den Spielschein für jeweils vier Wochen regelmäßig bei der Lottotussi abgegeben hatte.

Ich hätte lauthals schreien können, vor Erleichterung, vor Glück und davor, dass ich endlich den unumstößlichen Beweis für mein neues Leben in der Hand hatte. Ich tat es aber nicht. Verdammt, dieses ständiges Hin-und-Her-Wechselbad zwischen Glück und Nicht-Glück wie zwischen Sauna-Aufguss und Tiefkühlfach. Wer kann so ein nervenaufreibendes Auf und Ab verkraften? Ich gehörte nicht zu diesen tuffen Typen, die in aller Lässigkeit der Menschheit mal kurz die sechs Richtigen checken, sich auf einem gelben Post-it dann schnell ein paar Notizen über ihre to do`s machen, das gelbe Ding vorne auf die Kühlschranktüre kleben, dazwischen kurz die Welt retten und sich dann vom Kühlschrank ein eiskaltes Bier holen, so, als ob ihr Fußballverein soeben mal ein Auswärtsspiel gewonnen hat. Nein, diese Art von Coolness gehörte nicht zu meinen Eigenschaften. Etwas anderes begann mich dafür kurz darauf aufs Neue zu quälen, nachdem ich die Schockstarre überwunden hatte. Es waren diese blöden überflüssigen Drecks-Zweifel, dich mich wieder einholten und mich aufs Neue verunsicherten, ob ich tatsächlich die richtigen Zahlen im Bildschirmtext abgelesen hatte, ob das alles tatsächlich gerade in Wirklichkeit passiert war. Und wieder raste mein Puls wie eine Rakete nach oben, gefolgt von einem massiven Schweißausbruch mit dicken regentropfengroßen Schweißperlen auf der Stirn.

Es kann nur an meiner lebenslangen Minderwertigkeits-Krise gelegen haben, dass ich so verdammte Schwierigkeiten gehabt hatte, mir selber eingestehen zu können, dass dieses scheiß kleine ramponierte Stückchen Papier in meiner Hosentasche ein völlig neues, anderes Leben bedeutete. Es brauchte Zeit, bis es mir endlich gelang, diesen inneren Widerstand aufzugeben und aufhörte, mich gegen das Glück zu wehren. Der Moment war gekommen, mein komplettes inneres Verlierer-Feeling mit all seinen beschissenen Erlebnissen in eine Kiste zu verpacken und in dem tiefsten Loch der Erde zu versenken.

Stunden oder nur Minuten? Das Zeitgefühl war zwischen rastlosem Gedankenabfall, Angstattacken und dem geleerten Alkoholbestand aus meinem Kühlschrank längst abhanden gekommen, dafür war vorsichtige Freude den paranoiden Nicht-Gewinn-Gedanken gewichen. Ich vermute -hätte ich mich selbst sehen können-, dass ich mit total verklärten Blick auf meiner so was von alten Couch gehockt bin und die Leergut-Batterie auf dem Tisch vor mir angestarrt habe.

Doch, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich war damit beschäftigt gewesen, mir vorzustellen, welches Sümmchen ich zu erwarten hatte. Die Rechenmaschine in meinem Kopf bemühte sich, eine Summe auszuspucken, die mir auf der Zunge lag. War es zu blauäugig, sich eine ganze Million auszumalen? Vielleicht ein bisschen mutig, aber allein das Wort -Million- war magisch und unvorstellbar zugleich. Ich musste mir das erst einmal bildlich vorstellen, eine ganze Million, ein Berg voller Geld, eine Riesenzahl mit verflucht vielen Nullen, echt krass. Ja, ich erinnere mich wieder ziemlich genau. Ich malte die Summe auf den weißen Rand einer alten Zeitschrift und stellte beim ersten Versuch fest, dass fünf Nullen zu wenig sind und im zweiten, dass eine Million genau so viele Nullen hat wie die Anzahl der richtigen Lottokreuzchen, nämlich sechs. Danach -glaube ich- hatte ich ein Blackout, oder vielleicht war ich auch nur mehr oder weniger alkoholbetäubt eingedöst.

5-Träume werden wahr-

Welche irren Pläne haben Fix und ich gehabt. Als junger Mensch siehst du deine Welt voller Möglichkeiten. Ich wollte unbedingt zur Polizei, die bösen Jungs verhören und sie anschließend hinter Gitter bringen. Fix wollte mit aufgemotzten PS-Boliden handeln und eine Rockband gründen. Und wenn wir dann genügend Geld zusammen gehabt hätten, dann wollten wir nach Amerika auswandern, nach Florida oder auf die Bahamas, dort eine coole Bar am Meer mit jeder Menge Hängematten und Live-Musik mit den angesagtesten Weltstars betreiben. Dazu ein Haus in der Bucht, wo man mit dem eigenen Boot direkt zum eigenen Traumhaus fahren konnte. Wir wollten die Route 66 mit einem benzinfressenden Monster-Straßenkreuzer von Chicago nach L.A. fahren und eines Tages auf dem Mississippi mit einem alten Schaufelrad-Dampfer bis nach St. Louis hinaufschippern. Hätte ich damals gewusst, dass ich eines Tages tatsächlich eine ganze verdammte Million haben würde…

Ich kann nicht sagen, ob es Halluzinationen gewesen waren oder ob ich schlicht und einfach gepennt und nur irgendwas geträumt hatte. Vielleicht war das eine Auge wach, das andere nicht. Die aufgemalte Zahl mit einer Eins und sechs folgenden Nullen füllte mich aus und kreiste in meinem Kopf herum wie ein Helikopter, der einen Vermissten suchte! Nur dieses Wort, Erfüllung und Vision, eine Million.

Obwohl es noch stockfinster gewesen war, vielleicht noch nicht einmal ein richtiger Morgen, dieses Erwachen war zum zweifellosen Anfang einer völlig anderen Welt für mich geworden, der Welt eines neugeborenen Millionärs. Die Zweifel und Ängste der vorausgegangenen Stunden hatten sich in der Finsternis meines Blackouts aufgelöst, möglicherweise zusammen mit dem Inhalt der leeren Bierflaschen. Dafür war ich plötzlich nur noch besessen davon gewesen, mir diesen Geldscheinberg bildlich vorzustellen. Im Nachhinein betrachtet war es natürlich schon ziemlich gewagt, es hätte auch genauso gut deutlich weniger sein können. Aber diese Million hatte sich irgendwie festgefressen in meiner gutgläubigen Vorstellung und von cooler Nüchternheit war ich in diesem Moment megaweit entfernt gewesen. Dafür sah ich die Geldscheine wie einen Teppich vor mir liegen, Schein für Schein. Wie viele werden es wohl sein? Es müssten zehntausend Hunderter sein, oder? Wie hoch wäre der Turm, wenn ich die Scheine aufstapeln würde oder wie lange die Strecke, wenn ich sie nacheinander in eine Reihe legen würde? Völlig blöde Fragen, die überhaupt keine Rolle spielten, außer in meiner Fantasie und Vorstellungskraft, die absolut überfordert war. Viel eher war die Frage berechtigt, wie ich das alles transportieren sollte, ein Reisekoffer, oder zwei Aktenkoffer? Wie schwer ist eine Million in Banknoten? Konnte ich meinen Gewinn überhaupt so einfach durch die Stadt und dann in meine Wohnung schleppen? Brauche ich einen Bodyguard, einen Tresor und eine Alarmanlage?

Auch wenn mein Verhältnis zum Geld bisher so wie das vom Teufel zum Weihwasser war, also nichts anderes als ein notorischer Pleitegeier, so hatte ich in meinem Leben wirklich mal Geld. Mein Opa Max hatte es für mich gespart, Monat für Monat, und das mit seiner kleinen Rente. Er hat mir immer die Stange gehalten, egal was ich auch ausgefressen hatte. Und wenn ich zufällig mal das Wort Familie in den Mund nehme, dann meine ich genaugenommen nur meinen Opa.

Als Oma Luise gestorben war, waren fast alle seine Ersparnisse in der Apotheke für sie aufgebraucht gewesen. Sein bester Freund war der Fernseher und mit meiner Mutter wollte er -ebenso wie ich- nichts mehr zu tun haben, nachdem mich mein Stiefvater, dieser Arsch mit zwei Ohren, mit Achtzehn vor die Haustüre des Elternnestes gesetzt hatte. Dann ist er mit mir zur Bank um die Ecke gegangen und hat mir seine letzten Ersparnisse, von denen ich mir locker einen Kleinwagen hätte kaufen können, kommentarlos gegeben. Aber, wie hat es auch anders kommen können, ich war einfach zu blöd um zu gewinnen. Nach einer durchzechten Nacht, meinem ersten Vollrausch und einem verfluchten Scheiß-Kartenspiel, das nicht umsonst Black Jack heißt, war das ganze Opa-Geld beim Teufel. Doch selbst das hat er mir einfach verziehen, als ich ein paar Tage später bei ihm aufgekreuzt bin und eine vollständige Beichte abgelegt hatte.

Danach habe ich sogar eine Zeit bei ihm gewohnt. Aber Opa Steinalt war auch genau so alt wie er hieß und als er an einem schlachthofgrauen Montag seine Augen für immer geschlossen hatte, ist mir außer seinem uralten Golf und die Erinnerung an einen wertvollen Menschen nichts von ihm geblieben. Mein Großvater, mein Freund und der einzige, der den Begriff Familie verdiente. Traurig ja, sehr traurig. In diesem Augenblick musste ich an ihn denken, guter alter Max.

6-Freiheit-

Das Weckerläuten beendete meine melancholischen Gedanken abrupt. An diesem Montagmorgen war es überflüssig gewesen, eine gefühlte Halbewigkeit lang schon jagten die Gedanken wie ein Drehkreuz durch meinen Kopf und warfen ständig neue Fragen auf. Aber eine Antwort war mir klar gewesen, ohne dass ich eine Mücke nachdenken musste: Duschen, Zähneputzen, Anziehen, einen Happen zum Früh … nein, null Appetit … aber mich in meine alte Klapperkiste setzen -bei der der TüV seit drei Monaten abgelaufen war- und in der Tankstelle zu meiner Tagesschicht erscheinen, nein. Nie mehr, höre ich mich noch selbst zu mir sagen. Warum sollte ich?

Der Spruch fühlte sich verflucht geil an. „Nie mehr!“ Ich bin vor dem Spieglein-Spieglein-an-der-Wand-wer-geht-nicht-mehr-zur-Arbeit-im-ganzen-Land gestanden und habe es immer wieder wiederholt, bis ich lauthals lachen musste.

So wie mein letzter Job, waren auch die meisten meiner ganzen anderen alles andere als zum Lachen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie noch alle aufzählen könnte. Es waren zu viele und zu miserable Mistjobs für weniger als einen Hungerlohn. Mein Traum, Polizist zu werden, hatte sich ziemlich schnell zerschlagen. Zuerst war ich noch zu jung und dann machte mir das polizeiliche Führungszeugnis einen Strich durch die Polizeikarriere. Mein anderer Wunsch-Job als Kranfahrer war aufgrund meiner Höhenangst auch eher ungünstig, und die Bewerbung als Taxifahrer hatte mir meine Rest-Alkohol-Fahne versaut. Das einzige was mir also blieb, waren karrierefreie Aushilfsjobs als Autowäscher, Zeitungsausträger, Essen-auf-Rädern-Fahrer, Backwaren-Zusteller und was weiß ich noch. Sogar in einem Tierpark habe ich als aushilfsweise als Tiermistwegschaufler geschuftet. Die Ausnahme davon waren ein paar wenige seriöse Arbeitsverhältnisse, die ich länger als eine Bundesliga-Saison durchgehalten habe, als Bierausfahrer, bei der Post und zuletzt den Job an der Tankstellenkasse.

 

Nun war all dieser ganze Mist nur noch unrühmliche Vergangenheit und wenn ich noch so etwas wie ein Highlight als Erinnerung behalten wollte, dann war es die Zeit bei der Firma mit dem gelben Posthorn. Vielleicht der einzige bescheidene Höhepunkt meiner beruflichen Laufbahn. Aber leider hatte mein kleiner Glücksstern mit dem hoffnungsvollen Aufdruck „Krisensicherheit“ nur kurz geleuchtet, und schon warf das modern gewordene Managerwort „Umstrukturierung“ meinen Stern wieder aus der Umlaufbahn und mich auf die Straße der Arbeitslosigkeit. Bravo, da war ich wieder, Personaleinsparung sei Dank. Die Tankstelle und ihr unfähiger Chef haben schon auf der nächsten Ausfahrt auf mich gewartet.

Ich erinnere mich, wie ich im Glücksrausch vor dem Spiegel gestanden bin in einem euphorischen Anflug von Begeisterung, meinem Brötchengeber und meinen Tankstellen-Kollegen gegenüber endlich ohne Wenn und Aber die Meinungs-Sau rauslassen zu können.

Mein Chef Bleifrei, dieser fette, ständig meckernde cholerische Stacheldraht-Deutsche, der nie ein anerkennendes Wort über seine Lippen gebracht hat, als ob ein Lob so etwas wie eine unheilbare Krankheit wäre; Otto Pappenheimer, ein Vollidiot höchsten Grades, fühlte sich als Boss Nummer zwei, dabei machte er nur den Einsatzplan und das ziemlich beschissen. Seltsamerweise blieben dabei für mich nur die Arschkarten-Zeiten übrig, was bedeutete, Sonntage, Feiertage und Nachtschichten und damit genau da, wo die Wahrscheinlichkeit am höchsten war, dass dir mal einer die Pistole vor die Birne hält. Oder die Biggi Zicke. Ständig musste ich für diese vegane Bohnenstange einspringen, weil sie mit dem zugelaufenen Hinterhof-Kater der Skat-Freundin ihrer Stiefmutter ständig zum Tierarzt musste. Mal, weil er ein Gummibärchen verschluckt hatte, mal wegen einem plötzlichen Verdacht auf eine Katzenfutter-Unverträglichkeit. Und dann gab es noch das neongrünhaarige Azubinchen des Tankshop-Ladens. Es war nicht so tragisch, dass sie mehr Zeit mit dem Hin- und Herwischen auf ihrem Handy beschäftigt war, als mit dem Befüllen des Warensortiments. Aber als Enkeltochter des Vorgesetzten musste man vor Paulinchen Petze immer auf der Hut sein. Alle drei hatten eines gemeinsam, sie sind dem Chef, ihrem Bleifrei-Kurt soweit in der Arsch hineingekrochen, dass in seinem Hinterteil kein anderer mehr Platz gehabt hätte.

Was soll`s. Dank meiner zweiten Lebens-Vernunftsphase habe ich die Arschbacken zusammengekniffen und das alles über mich ergehen lassen. Wenigstens konnte ich so meine Miete und die Stromrechnung bezahlen, den Lottoschein und ab und zu ein Pornoheft. Vor allem aber hatte ich damit wenigstens ein Stückchen Regelmäßigkeit in mein chaotisches Leben gebracht. Und Chefs, es gab auch schlimmere.

Altes Leben, das war nun plötzlich wie kalter Kaffee gewesen. Der Rückblick in dieses Arme-Sau-Dasein hatte mir ein nochmaliges -Nie mehr- entlockt und das Gesicht im Spiegel grinste mich immer noch hämisch an. Ein wohltuendes Gefühl von Überlegenheit und Genugtuung war in mein Hirn gekrochen und hatte dort nach einem filmreifen Text gesucht, den ich ihnen ins Gesicht spucken wollte, wie übelriechende schleimige Galle. Genau das war die unangefochtene Nummer Eins auf meiner Hitliste der Wünsche.

Es brauchte dazu nur noch einen kurzen alkoholhaltigen Muntermacher und ein bisschen Übung, bevor ich ins Telefon lallen wollte. Klar, dass der Abgang professionell werden sollte, das war die ultimative Gelegenheit, die Revanche meines Lebens für den ganzen Scheiß und diesmal war ich nicht der Looser.

Irgendwo mussten noch spärliche Reste von angebrochenen Schnapsflaschen im Durcheinander meiner vorangegangenen Suchaktion gewesen sein. Prost, ich trank auf mein neues Leben und dann war dieser Text wie auf Befehl in meinem Kopf gekommen: „Hallo Bleifrei, ich habe heute keinen Bock … und morgen auch nicht. Im Übrigen kannst du dir deine Tanke mitsamt deinen Zapfsäulen in den Arsch stecken, wenn du zwischen dem Pappenheimer, deinem Paulinchen und der Biggi noch einen Platz findest. Aber dein Arsch ist ja groß genug, da hat sogar dein bisschen Hirn noch Platz…“

Am liebsten hätte ich es gleich aufgeschrieben, das war eine starke Ansage. In Zukunft sollte das mein Umgangston für all die Leute werden, die mich angepisst haben. Ich war mir so sicher gewesen, dass nun alles anders werden würde und ich wusste, dass ich ab sofort einen neuen Job hatte und dieser Job hieß Freiheit. Meine Flügel begannen zu wachsen.

Genau in diesem wunderbaren Moment der Erkenntnis, den ich gerne eine weitere Viertel-Ewigkeit ausgekostet hätte, läutete das Telefon. Ich war nicht erbaut gewesen, die Telefon-Nummer kannte ich nur zu gut, es war der Pappenheimer…

Wenn ich in diesem glückseligen Augenblick Bilanz über mein bisheriges Leben, mit all den tragischen Unglücksmomenten gezogen hätte, dann wäre es arschklar gewesen, dass alles, was bisher gewesen war, keinen Sinn gehabt hatte. Ich war nichts anderes als der allerkleinste Fisch am Ende der Nahrungskette, bestenfalls noch ein bedauernswerter Goldfisch im runden Fünfliter-Glas. Eigentlich war es mehr als ein Wunder, dass ich nie aufgegeben habe, bis auf das eine Mal, wo ich wirklich kurz vor der Kante zum over-and-out gestanden bin.

Nun aber war das ganz anders und zwar ziemlich oder, genauer gesagt, völlig anders. Ich hatte immer diesen alten Spruch im Ohr gehabt -das Glück liegt auf der Straße-! Nun wusste ich, dass das absoluter Quatsch war. In Wahrheit liegt das Glück nämlich in der Luft, eine Luft die ich bisher nicht schnuppern durfte oder konnte. Dabei bin ich nicht der Einzige, viele können das nicht, weil sie in ihrer eigenen Co2-Blase aus Ängsten und schlechten Erfahrungen eingeschlossen sind und nichts von dem mitbekommen wollen, was sich außen herum abspielt. Wow, je mehr ich trank, desto mehr tat sich die Welt der Philosophie auf. Mein Weltbild war dabei, sich in eine fremdartige Galaxie zu verwandeln, Prost. Es war mir egal, es war schon ausreichend, dass meine Welt nun ein neues Gesicht bekommen würde, ein ziemlich luxuriöses. Genau diese Welt würde mir künftig zu Füssen liegen wie die Frauen soweit das Auge und die Kohle reichte.

Hätte ich den Pappenheimer zurückrufen sollen? Nein, es war nicht nötig gewesen, nicht sofort, weder den Pappenheimer noch weniger den Bleifrei. Ich wollte den Text noch üben, davor und dazu noch ein oder mehrere Schlückchen schlürfen; die Ansage sollte schließlich so flüssig und souverän von meiner Zunge rollen, dass ihm die Klappe offenblieb. Vielleicht machte ich es später, es war noch viel zu früh am Morgen. Und überhaupt kam ich mir dabei echt cool vor, dieses blöde Mülltütengesicht mit einem Matterhorn von Nase zappeln zu lassen, ehrlich. Mein Vorsatz war, ab sofort nur noch so zu cool sein, ich hatte ja schließlich eine Million Gründe dazu …

Weder ein Wunder noch ein Geheimnis, ich hatte nie die Pole-Position bei der Hasenjagd gehabt und vom letzten Startplatz war es echt unmöglich, ein Rennen zu gewinnen. Kurz, meine sexuellen Erfahrungen konnte ich an einer Hand abzählen und dazu brauchte ich nicht einmal alle Finger.

Die Bettina, die Nicki und die Strapsi waren die einzigen gewesen, auf deren feuchten Wiesen sich mein stürmischer Hengst in der Hose austoben durfte. Für die Gupi habe ich mich, ehrlich gesagt, immer geschämt, obwohl sie mir jahrelang treue Dienste geleistet hat. Dazu bin ich auch noch ein richtiger Spätzünder gewesen. Es hat gedauert, bis sich in meiner Hose etwas zu bewegen begonnen hat und ich dann endlich den interessanten Unterschied bei den Mädchen begriffen hatte.

Angela oder lieber Strapsi, sie war mein ein und alles, genaugenommen ist und war sie meine heimliche Traumfrau, meine pretty woman. Ein absolut heißes Mädchen. Allein ihre Beine waren der Oberwahnsinn. Sie hatte die Oberschenkel unter ihrem Röckchen bis zum Ansatz ihres schwarzen Höschens vollgeschrieben, wenn wir eine Schularbeit hatten. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, sie ist eine Schulbank neben mir gesessen. Am Ende unserer Schulzeit war sie ausnahmslos der Schwarm aller Jungs. Und ich? Ich war nicht pummelig, nicht hässlich, auch nicht irgendwie abstoßend, sondern ganz normal und nett, vor allem zu den Mädchen und bestand aus knappen einsachtzig Schüchternheit. Ob mir das gefiel oder nicht, aber damit schon als Teenager auf der Looser-Spur.

Der Pappenheimer ließ nicht locker, das Telefon läutete ein zweites Mal. Es nervte. Nein, ich täuschte mich, diesmal war es sogar der Bleifrei persönlich, der es wohl nicht gewohnt war, dass ich nicht zur Arbeit erschienen war. Der Typ konnte nicht ahnen, wie gewaltig mir das Telefonläuten auf die Eier ging. Meine Gedanken waren ganz woanders. Er würde sich wohl noch gedulden müssen, dieser blöde Sack, bis ich Lust hätte, ihm mein nettes Verschen aufzusagen. Von mir aus konnte er sich seine ungepflegten Wurstfinger wundtelefonieren. Die Erinnerungen an die Mädchengeschichten und meine alkoholhaltigen Erinnerungsbeschleuniger machten mich zunehmend entspannter.

Fix hatte es eingefädelt. Es war an ihrem 17. Geburtstag. Er hat mich mit zu Angela geschleppt, sie hatte sturmfreie Bude und gab eine Party. Sie nannte sich jetzt nicht mehr Angela, sondern nannte sich Angelina-Julia und stand nur noch auf den Kinostreifen „Pretty Woman“ mit Julia Roberts. Ihr erklärtes Ziel war eine Karriere als Filmschauspielerin und ihr Verhalten ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst damit meinte. Die Party hatte also viel mehr zu bieten, als harmlose Soft-Drinks, Flaschendrehen und knutschen. Es war Nebensache, dass ein paar andere aus unserer Schule da waren, denn die eindeutige Hauptrolle an diesem Abend hatte Angela. Sie war die Überraschung des Abends mit einem profihaften Strip in den roten Strapsen ihrer Mutter, der sich gewaschen hatte. Sie hatte kein Problem damit, dass sie danach nur noch Strapsi genannt wurde.

Irgendwann an diesem besagten Abend saß ich neben ihr auf der bequemen Couch und beinahe wäre es mein erstes Mal gewesen … aber das Karma meinte es nicht gut mit dem kleinen Teufel in meiner engen Hose. Ich hätte meine Hände nur dazu benützen müssen, an ihr herum zu fummeln, wenn ich nicht so schüchtern gewesen wäre. Als Trostpflaster haben wir uns am nächsten Abend ins Kino verabredet. Dumm und unerfahren konnte oder wollte ich allerdings nicht wissen, dass nicht nur ich ein Auge auf dieses Biest geworfen hatte.

Meine auf den Kopf gestellte Bude sah echt krass aus, mein optisches Äußeres vermutlich auch nicht viel besser. Sah so ein frischgebackener Millionär aus? Ungepflegt, ungewaschen, seit mehr als vierundzwanzig Stunden in den gleichen Klamotten, der seit einer erfolgreichen Suchaktion nach der verdammten Lottoquittung nicht in der Lage war, auch nur den kleinen Finger zu rühren? Die Szene muss ein beschämendes Bild abgegeben haben, es kümmerte mich nicht. Vor mir sah ich die Vision eines Zukunfts-Lebens ohne Regeln, ohne Uhrzeit, ohne Verpflichtungen. Ab jetzt würde ich Essen gehen, wann ich Hunger hatte, Pennen, wenn ich müde war, Ausgehen, wenn ich Lust dazu hatte und die Puppen tanzen lassen, bis der Arzt kommt.

Das war das Leben eines Königs. Meine euphorisch berauschte Stimmung machte es mir unsagbar leicht, in die Rolle eines prunkvollen Königs zu schlüpfen, der als Portrait mit all seinen Reichtümern und Goldschätzen im Mittelpunkt eines Ölbildes eingerahmt war und von den herumstehenden Betrachtern aus meinem alten Leben bewundert wurde. Darauf musste ich anstoßen.

Welch ein praktischer Zufall, dass in dem ganzen Gerümpel zwischen Sportsocken, Luftmatratze und Klopapier noch eine Flasche unangetasteten Cognacs aufgetaucht war, um meiner Inspiration freien Lauf zu lassen. Das einzige Haar in dieser Königssuppe war lediglich der ganze Plunder, der sich Wohnungseinrichtung nannte. Hätte ich eine Alexa gehabt, dann hätte ich an dieser Stelle gerufen „Alexa, räum die Bude auf!“ Aber ein stilgerechtes Königreich, nein, aus dieser schäbigen abgewohnten Bruchbude konnte niemals ein Palast werden.

 

„Alexa, lass es, ich ziehe bald um!“

Apropos Alexa, eine echte lebendige Alexa, mit Titten und alles was dazugehört, klar, als König konnte ich mir so viele Alexas leisten wie ich wollte und wie ich das wollte.

Mein erste lebendige Alexa war die Bettina, zwei Sommer nach Strapsi`s Strip. Fix hatte mich gefragt, ob ich mit dem Sportwagen in meiner Hose schon mal eine Spritztour nach Bumshausen gemacht habe. Weil ich nur idiotischblöd reagierte, bohrte er nach.

„Ob du schon mal gevögelt hast?“

Ich vermute, dass er meine Antwort kannte und dann sofort mit dieser Bettina kam.

„Meine Fresse, ich kenne eine, ein richtiges Boxenluder. Da kannst du deine Stoßstange versenken bis dir das Hören und Sehen vergeht, hast du Geld dabei?“

Am selben Abend waren wir bei ihr, Betty Nymphenbacher. Zuerst hat Fix sie gebumst, danach durfte ich für Liebe zum Dumping-Preis in der feuchtwarmen Garage zwischen ihren Füssen einparken. Mein Geldbeutel und mein Samenbehälter waren leer. Was soll’s, ganz ehrlich, es war das erste Mal. Es hätte schlimmer sein können. Und wer war es, der sich einen Tripper geholt hat? Keine Frage, der ohne Verhüterli und das war natürlich ich, Shit happens.

Was war das? Verdammt, ausgerechnet in der schönsten Phase meiner Königsgedanken läutete jemand an der Türe. Wer zum Teufel konnte das sein? Es gab niemanden, den ich in meine Underdog-Behausung hereinlassen würde, außer Fix. Es läutete noch einmal. Ich brauchte mir nicht den Kopf zerbrechen, gleichzeitig mit dem Läuten ertönte die unverwechselbare hysterische Stimme von Paulinchen.

„Hey Stephan, bist du da? Mach auf! Stephan, hallo!“

Da hatte der Blödmann von Bleifrei tatsächlich die Kleine losgeschickt um mich aus den Federn zu schmeißen.

Ich kann es mir nicht erklären, warum ich das alles so Wort für Wort in meiner Erinnerung gespeichert habe wie die Blackbox eines Flugzeuges. Aber der Kilometerzähler in meinem Hirn lässt sich einfach nicht ausschalten. Er läuft und läuft, Kilometer für Kilometer, Wort für Wort.

Paulichen antworten oder hereinlassen? Den Bleifrei anrufen und meinen Spruch aufsagen? Nein, überhaupt nicht, nicht in diesem Moment und schon gar nicht an einem Montag. Ich habe Montage noch nie leiden können. Vielleicht am Dienstag. Ja, das war viel ist besser. Der Dienstag sollte ein guter Tag werden, Lottoquittung vorlegen, Geld abholen, Auto kaufen, in den Flieger steigen, Urlaub machen und in der Hängematte in aller karibischen Ruhe nachdenken, was ich mit dem Rest meiner Million alles machen wollte. Klar, das musste der beste Tag in meinem kompletten Leben werden.

Aber im Augenblick wollte ich meine ungestörte Ruhe. Mir war einzig und allein daran gelegen gewesen, zusammen mit einem guten alten flüssigen Freund ausgiebig den alten Erinnerungen nachzuhängen, geschissen darauf, was diese neunmalklugen Fachidioten in der Suchtklinik versucht hatten, mir einzutrichtern. Das Klopfen, Rufen und Läuten von Paulinchen entfernte sich in meiner Wahrnehmung, als der letzte Schluck der leicht nach abgestandenem Korkenbeigeschmack mundende Achtunddreißig-Prozen-ter meine Kehle hinuntergurgelte.

Was danach kam, konnte ich nur vermuten. Das Zeitloch war groß und lange genug. Hatte Paulinchen den Bleifrei geholt, dieser die Tür eingetreten und mich bewusstlos zusammengeschlagen? Oder bin ich über mein unaufgeräumtes Gerümpel gefallen und im Suff mit dem Schädel aufgeschlagen und ohnmächtig geworden? Mein Kopf brummte wie eine geprügelte Boxerbirne und sämtliche Körperteile schmerzten. Oder war ich einfach eingeschlafen und habe die fehlenden Schlafstunden von der Nacht zuvor nachgeholt? Nein, dann wäre ich nicht klitschnass mit meinen ganzen Klamotten im eiskalt gewordenen Badewasser wach geworden. Es konnte nur einen Grund gehabt haben. So wie es aussah, hatte ich mich entschieden, mit meinem flüssigen Freund ein Bad zu nehmen und den ganzen Verlierer-Fluch innerlich und äußerlich abzuschrubbeln. Wahrscheinlich war ich zu müde gewesen, um aus den Klamotten zu kommen, vielleicht auch zu betrunken. Und dabei ist scheinbar mein Licht ausgegangen. Ja, so wird es sich zugetragen haben.

Es war schon eine ganze Weile her gewesen, dass diese Blackouts Teil meines Normalzustandes gewesen waren. Aber meine hochprozentige Ersatzfamilie, Jim Beam, Jonny Walker, Captain Morgan, Wodka Gorbatschow, Zoladkowa Gorzka und wie sie alle heißen, ich hätte ihnen nie für alle Ewigkeit den Rücken zukehren können. Ein trockener Alkoholi wollte ich trotz der wochenlangen Gehirnwäsche in der Suchtklinik nie sein, nicht vor und auch nicht nach meinem Entzug. Das ist nichts anderes wie eine fleischfressende Pflanze, der man nur Trockenfutter gibt. Bei mir hat das verdammte Teufelszeug immer wie ein Wunder gewirkt und jeden Müll von der geistigen Seele gespült wie ein Gedankendampfsstrahler, zumindest für einen Abend oder eine Nacht. Warum sollte ich also darauf verzichten? Sollen sich die Psycho-Klugscheißer ihre Ratschläge sonst wohin stecken.