Ein Riss in der Schöpfung

Tekst
Sari: Lindemanns #266
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Vieles, was als Möglichkeit da war, verflüchtigt sich. Was wirklich wird, ist immer das Wenigste von dem, was hätte werden können, aber es hat, wie wir selbst, das ungeheure Privileg, fleischlich, leibhaftig, ganz nah zu sein. Anderes läuft vorbei, wird versäumt, läuft in die Irre.“

Rainer beschäftigte der Gedanke: „Was bei dieser Reise auftauchte, das ist die Vorstellung von einem freieren Land, einer besseren Gesellschaft, in der auch die Kleinen zu ihrem Recht kommen; der Sinn für eine neue Art sich auszudrücken, zu dichten, für eine neue, freiere Form der Liebe. Ahnungen, kaum schon Utopien.“

Das ging Julie nicht weit genug: „Warum so zurückhaltend? Er spricht es zwar noch nicht aus, aber sein Blickfeld weitet sich, sehr weit, vielleicht zu weit schon. Er träumt wohl von einem Paradies.“

Elvira hatte die ganze Zeit den beiden Schwärmern nur zugehört. Jetzt fuhr sie dazwischen: „Was ihr da alles aus einem Brief und einem Gedicht herausholt beziehungsweise in sie hineinpumpt! Ihr redet da weniger von Göthes als von eurem Paradies.“

Rainer ließ sich nicht provozieren: „Es spricht doch für Göthe, wenn sich andere mit ihm identifizieren können! Ich habe etwas Ähnliches vor mir, wenn ich mich an Cremona erinnere: fast paradiesisch, was ich heute da vor mir sehe, nachdem die Zeit die raueren Elemente ausgefiltert hat. Da war eine junge Frau bei mir, in einem Alter, das sie mir heute entziehen würde, da war die mir noch unbekannte Stadt, das Land war mir damals noch nicht vertraut, beide vollgepackt mit Unbekanntem, das mich lockte, alles lockte mich. Stärker auch noch der Reiz der körperlichen Liebe, die nicht allein beim schönen Körper sich zur Ruhe setzte, die ausgriff, sich mit vielem, mit allem verband. Der alte Traum vom Paradies suchte sich bei ihr und in Cremona eine Zuflucht. Ein Traum, der nie sich niederlassen kann, der nie eine Heimat finden wird, der nie sich dreinschickt in das, was ist, der aber als Traum und in der Erinnerung weiterbesteht. Diese Frau habe ich nicht wiedergesehen.“

Diese Reise Göthes: Sie ist ein Versuch da hinzukommen, wo er bisher nicht war, ein Aufbruch in ein anderes Land. Sesenheim ist Utopia. Bei Göthe finden wir etwas von dem, was sehr viel später Ernst Bloch schildert, die Utopie des ‚Guten Lebens‘. Etwas, was zwar allen in der Kindheit scheint, worin aber noch niemand war; so bleibt sie zuletzt auch unstillbare Sehnsucht nach einer früh erahnten Welt, hinter der die reale immer zurückbleibt. Nur in den wirklich glücklichen Augenblicken eines Lebens, wenn beide Welten kurzzeitig deckungsgleich scheinen, ahnen wir, was Heimat sein könnte.

Göthe kommt nicht nach Sesenheim; er kommt zu sich selbst. Er entdeckt all das, was in ihm bereits angelegt ist, aber sich noch nicht entfaltet hat. Vor allem sich selbst als Dichter.

Reales Sesenheim

Erträumtes und Wirklichkeit begegnen sich, stoßen aufeinander. Einige Wochen nach der Reise nimmt Weyland Göthe mit nach Sesenheim. Dort trifft er auf Friederike Brion. Was er bedichtet, scheint die große Liebe zu sein. Hätte sie Bestand haben können?

Goethe erzählt in Dichtung und Wahrheit: Ich lenkte nach einem Wäldchen, das ganz nah eine Erderhöhung bekrönte, um mich darin bis zur bestimmten Zeit zu verbergen. Doch wie wunderlich ward mir zu Mute, als ich hineintrat: denn es zeigte sich mir ein reinlicher Platz mit Bänken, von deren jederman eine hübsche Aussicht in die Gegend gewann. Hier war das Dorf und der Kirchturm, hier Drusenheim und dahinter die waldigen Rheininseln, gegenüber die Vogesischen Gebirge und zuletzt das Straßburger Münster. Diese verschiedenen himmelhellen Gemälde waren durch buschige Rahmen eingefasst, so dass man nichts Erfreulicheres und Angenehmeres sehen konnte. Ich setzte mich auf eine der Bänke und bemerkte an dem stärksten Baum ein kleines längliches Brett mit der Inschrift: Friederikens Ruhe. Es fiel mir nicht ein, dass ich gekommen sein könnte, diese Ruhe zu stören: denn eine aufkeimende Leidenschaft hat das Schöne, dass, wie sie sich ihres Ursprungs unbewusst ist, sie auch keinen Gedanken eines Endes haben und, wie sie sich froh und heiter fühlt, nicht ahnden kann, dass sie wohl auch Unheil stiften dürfte.

Kaum hatte ich Zeit gehabt mich umzusehen, und verlor mich eben in süße Träumereien, als ich jemand kommen hörte; es war Friederike selbst.

Schlank und leicht ... schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorgen geben könnte ...

Warum zerbrach das Glück so schnell? Friederike hat es nie begriffen, Göthes Erklärung hilft nicht weiter. Als sie nach Straßburg kam, habe sie beim geselligen Palaver nicht so recht mithalten können, peinlich sei das gewesen, in ihrer ländlichen Tracht habe sie in der Stadt deplatziert gewirkt.

War das alles, was sie auseinanderbrachte? Was ihn angezogen hatte, ihn, den Jünger Rousseaus, diese Einfachheit der Menschen auf dem Lande, wurde sie ihr zum Verhängnis? Was aber war hier in Sesenheim los? Und warum verbrannte er später seine Briefe? Warum redigierte er seine Gedichte? Warum schrieb er eine Autobiografie, die mehr zudeckt als sie enthüllt? Über die paar originalen Texte, die seinem Auslöschungswahn entgingen, rätselt man seit Langem.

Göthe ritt nach Sesenheim wie ein Held in die Schlacht, so drückt er das in der Erstfassung seines Gedichtes aus, das er später Willkommen und Abschied nannte. Es klingt so, als wolle ihm jemand ans Leben. Lenz ist schon in Straßburg, als er sich noch einmal verabschiedet, für vier Wochen nach Sesenheim fährt. Schon da spricht er von Schatten in seiner Seele. Was er dann von dort an Salzmann schreibt, hört sich auch nicht erhebend an: Friederike kränkelt, er hat den Husten, missmutig ist er, von dem Kirschbäumchen spricht er, das er in jungen Jahren gepflanzt habe, Frost, Raupen, Mehltau, Vögel und ein Nachbar hätten ihm die Freude an ihm vergällt, ein Wetterfähnchen sei er, er wisse nicht, wo ihm der Kopf stehe. Aber Kirschbäume werde er wieder pflanzen. Und er tanzt drüben in Röschwog zehn Stunden fast ohne Unterbrechung, mit Maria Salomea zumeist, der älteren Schwester von Friederike.

Zu dem großen Thema Liebe wollte Julie sich noch einige allgemeine, aber auch auf Göthe bezogene Anmerkungen erlauben: „Liebe existiert nicht nur in Form der körperlichen Liebe, sondern, wie hier im Falle von Göthe, vor allem in geistiger Form. Sobald sie auf den Körper beschränkt bleibt, verliert sie ihr Bestes. Liebe hat zwei Gestalten. Dargestellt bei Goethe, tritt sie in ihrer körpernahen Form in den Römischen Elegien in Erscheinung, in ihrer sublimeren Form in Ganymed und anderen Gedichten aus der frühen Zeit. Auch wenn wir nicht nachweisen können, dass die Seele unabhängig vom Körper existieren kann, so weist sie doch über ihn hinaus. Gleich wie wir die Seele verorten, wir sind uns einig: Der Mensch hat eine Seele. Sie ist die erste Bedingung des Menschseins. Dennoch neigt man heute dazu, sie über Bord zu werfen. Materielles, rechnendes Denken hat ihr den Rang abgelaufen.“

Liebe und Leid gehören notwendigerweise zusammen. Sieht man das so simpel, dann ist das so ähnlich, als würde man sagen, Leben und Tod gehören zusammen, also sterbe ich besser gleich. Wenn wir genauer hinschauen, dann wird uns deutlich, dass die Beziehung Göthe – Friederike kaum Bestand haben konnte. Auch dass Friederike in diesem Spiel die Verliererkarte zog, war wohl unvermeidlich. Auch wenn es einen wie Büchner schier in die Verzweiflung treibt, müssen wir eingestehen: Kaum irgendwo ist der Riss in der Schöpfung so häufig, so deutlich erkennbar wie in diesem Spiel, in das wir alle verwickelt sind.

Lenz kommt an – Goethe reist ab

Die beiden begabtesten Dichter, die damals im deutschen Sprachraum lebten, sie trafen sich hier. Wenn man dem Dichter, dem freien, menschlichen Geist mehr zutraut als schöne Worte, dann muss man annehmen, dass die beiden gemeinsam den stumpf gewordenen Geist der Zeit in eine Richtung, ein Umfeld hätten lenken können, wo er nicht nur in den Köpfen etwas bewegt. Wird ihnen das gelingen? Sie fragten danach, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wenn sie zusammenhielten, wäre das schon eine Antwort .

Am rechten Ufer der Ill Wohnhäuser, dahinter Kasernen, lang gestreckte, öde Gebäude. In der Zeit kurz nach seiner Ankunft hat Lenz mit den Gebrüdern Kleist dort gewohnt. Aus dieser abgeschlossenen Welt kommt er hinüber in die eigentliche Stadt, die auch ihm Befreiung verheißt.

Längst schon hat er den unsäglichen Vater hinter sich gelassen, außerdem das Studium der Theologie. Bei ihm bleibt die Armut, anhänglich wie ein Straßenköter, der sich nur hin und wieder für kurze Zeit verscheuchen lässt. Der Kreis von Liebhabern der Literatur, der ihn in Straßburg aufnimmt, ist der, in dem Göthe schon zu Hause ist. Lenz kommt spät. Göthe lebt schon ein Jahr in dieser Stadt, drei Monate später wird er abreisen, sich zuvor noch vier Wochen in Sesenheim aufhalten. Lenz, der das Schreiben im Sinn hat, findet hier die Menschen, die er braucht, die ihm zuhören, seine Gesinnung teilen. Es ist Zufall, dass er mit Göthe gerade hier zusammentrifft. Der Frankfurter wird sein bester Freund sein. Neben ihm sind auch noch andere da: Salzmann, der so ist, wie sein Vater hätte sollen sein, Wagner, auch er ein junger Dichter, Jung, ein mystischer Schriftsteller. Die Universität interessiert ihn hier nicht mehr. Einen besseren Lehrer als vor dem Kant in Königsberg wird er nicht finden können. Das milde Klima und das saftige Grün beeindrucken Lenz, der aus dem kalten Osten kommt. Sie trafen sich täglich in der Koststube der Geschwister Lauth, Göthe nahm ihn mit auf seinen Gängen durch die Stadt.

 

Sie hatten der Langen Straße folgend den stinkenden Gerbergraben überquert und waren an der Einmündung der engen Tucherstubengasse angelangt. Göthe zog Lenz in sie hinein. Aus den geöffneten Fenstern eines Gasthauses schlug ihnen Lärm entgegen, der bittere Geruch von Bier stieg ihnen in die Nase.

Sie ließen sich draußen an einem Tisch nieder. Göthe deutete auf die Fenster des ersten Stockwerkes: „Dort droben in dem Wirtshaussaal spielen sie manchmal Stücke in deutscher Sprache. Versuch dir einen Saal vorzustellen, dessen Wände verrußt sind, die schwach erleuchtete Bühne, gerahmt von einfarbig roten Vorhängen, hör das permanente Knarren der Stühle, das Geflüster, Gemurmel, Husten als ständiges Begleitgeräusch zu dem Sprechen, nein, Schreien der Darsteller, du empfindest sie nicht als störend. Das ist der Grund; auf dem die Stücke wachsen, die sie spielen.

Letzten Herbst sah ich hier ein Volksstück zum ersten Mal als Schauspiel, es handelt vom Magier Faust. Als Puppenspiel hatte ich es schon in Frankfurt gesehen, und auch hier bewegten sich die Akteure hölzern, als seien sie Puppen. Die Stimmen schienen sie geliehen zu haben. Dennoch, erst hier, halb im Ausland, ist mir deutlich geworden, was ich in ihm wiederfinde, das, was in dunklen Gewölben und Grüften in mir haust, auftaucht, wenn es seine Chance wittert, mich festhält, aber auch antreibt oder zur Flucht zwingt. Sie nennen es Teufel, Mephistopheles, Beelzebub, Samiel oder sonst wie, Namen, die ebenso wie die Aufmachung, in der sich diese Figuren zeigen, mehr verhüllen als deutlich machen. Ich aber will wissen, was sich da drunten rumtreibt, auch in mir selbst. Fast glaube ich, dass es etwas viel Gewöhnlicheres sein wird, als wir annehmen. Als Marie Antoinette zu Besuch war, hat man die Krüppel aus der Stadt abgeschoben, man glaubte, dass sie das Auge der Dauphine beleidigen könnten. Schade, es hätte ihr klarwerden können, was es außerhalb ihrer schönen Welt sonst noch gibt. Und wenn sie genauer hingeschaut hätte, dann wäre sie vielleicht darauf gekommen, dass Teufel sich am ehesten da breitmachen, wo man sie krampfhaft fernzuhalten sucht. Jetzt erst, Jakob, wo du hier bist, traue ich es mir zu, ein Schauspiel zu schreiben, das diesen alten Stoff neu gestaltet.“

Dunkelheit begann sich in der Häuserschlucht festzusetzen, der schmale Streifen Himmel über ihr war glanzlos grau, ebenso wie Lenzens verschwimmendes Gesicht. Göthe rückte näher zu ihm heran: „Als Wissenschaftler habe ich noch weniger Erfolg als unser Doktor Faustus. Meine Dissertation haben sie abgelehnt, weil ich in den Bannkreis geraten bin, in dem die Kirche dafür sorgt, dass sich nichts bewegt, was ihre Macht erschüttern und ihre Glaubwürdigkeit infrage stellen könnte.“

Von der Stadelgasse her kommend, schritt eine wohlgekleidete Bürgerfrau an ihnen vorbei, drei Schritte hinter ihr folgte die Magd.

„Gegen die Schwächsten und das Schwache, da sind sie alle stark“, fuhr Göthe fort. Das Mädchen, das ihr Neugeborenes am Halse fasst und zudrückt und schreit und hofft, dass sich die Finger, die schon nach ihrer Gurgel greifen, lösen werden. Hinweg mit ihr, brüllen sie, aus dem Licht der Sonne. Ihr alter Hass ist wach geworden, der Hass gegen das, was liebt und nachgibt und sich verliert.“

Er sprang auf, lief, Lenz immer einen Schritt voraus, die Lange Straß abwärts, bog rechts in die Spiegelgasse ein, in der er plötzlich stehen blieb: „Wie du weißt, bin ich oft bei den Medizinern zu Gast. Ich war dabei, als Lobstein Herders zugewachsenen Tränenkanal durchstach, wie er ein Rosshaar immer wieder, monatelang, hin- und herbewegen ließ. Ich sah die Tränen, die nicht abfließen konnten, spürte etwas von dem ständig wachen Schmerz, den er mit endlosem Wortschwall zu überdecken suchte. Ich merkte, wie diese Wörter weniger in ihm, denn da war das meiste schon fertig, als in mir etwas wachriefen, was schon in mir schlummerte, wie sie eine Kraft zu befreien begannen, die mein Leben weitertragen wird. Sie würde aus der Poesie kommen.“

Von der Straße her das Hallen von Schritten. In der Gasse niemand außer ihnen.

„Und was gewinn ich aus der Medizin? Ich seh mich im Theatrum Anatomicum stehen, vor mir das blutige Fleisch der zerstückelten Körper, der Geruch nach Spiritus und Verwesung. Die Erkenntnisse, die ich gewann, hielten sich in Grenzen. Ich merkte nur, wie meine Abscheu geringer wurde, sodass ich in Zukunft um solche Widerwärtigkeiten keine Bogen mehr zu schlagen brauche, um andere hoffentlich auch nicht, ich will mich nicht in Mäandern durchs Leben schlängeln.“

Lenz wandte sich ab, wollte weitergehen, blieb aber doch stehen. „Oft ist es besser, nicht auf geradem Weg zum erstbesten Ziel zu kommen. Zu Hause wiesen und schoben sie mich alle nur in eine Richtung: auf den Predigtstuhl, jede andere Möglichkeit schloss mein strenger und bigotter Vater aus. In Königsberg las ich Rousseau und besuchte auch die Vorlesungen Kants. Dennoch merkte ich zunächst noch nicht, dass ich der Theologie auswich, die widerspruchsvoller und einengender wurde, je mehr ich mich ihr näherte, deren Stoff mich am Ende nur noch mit Widerwillen erfüllte. Schließlich aber war es mir klar: Weg von der Theologie, weg von hier, übers Meer, über Land, in die Weite. Dass die Gebrüder Kleist einen Gesellschafter suchten, war die willkommene Gelegenheit zur Flucht. So bin ich hier gelandet.“

„Manchmal glaube ich, dass man gar keine Möglichkeit hat zu entkommen“, sagte Göthe. „Küsst du in tiefer Nacht und in einer Höhle, die noch nie zuvor ein Mensch betreten hat, ein Mädchen, schon grummelt es aus der Ecke, verdirbt dir die Freude, noch ehe du sie genossen. Sitzest du im Kämmerlein und schreibst ein Liebesgedicht an Belinda, dann rüttelt es an deiner Hand, verkrakelt dir den Lobgesang. Dennoch, Lenz, uns kriegen sie nicht klein. Wer es nötig hat, sich ins Verborgenste, Geheimste einzudrängen, der scheut die Einsicht des Herzens. Ich vertraue einer sanften Kraft, die aus der Natur und aus den Menschen und aus des Menschen Natur zu mir spricht. Spinoza hat mich an der Hand genommen, mehr noch Shakespeare, die führen mich dahin, wo aus Nebeln eine Ahnung des Göttlichen auftaucht. Vieles liegt hinter uns, wir haben uns noch nicht ganz von ihm gelöst, aber vor uns stehen ferne Ziele. Zwischen ihnen und dem noch nahen Anfang bleibt viel freier Raum für uns, auch für unsere Kunst.“

Er deutete zu den Gewerbslauben hinüber, in denen die Nacht sich breitmachte: Wenn das grelle Licht eines Blitzes die Gebäude, die Menschen kurz anpacken würde, um sie wieder zurückfallen zu lassen, nicht mehr in das zuvor noch matte Dunkel, jetzt ins Schwarze, das wäre Gott.“

Sie kamen zur Krämergasse, blieben stehen.

„Ja, Lenz, das wäre mehr Gott als dieser Schattenriss des Münsters, der in Nacht und Entfernung nur so tut, als sei er das Ewige und Unwandelbare. Nein, das Münster ist für mich nicht das große Zeichen, das für einen Gott steht; es ist ein Werk Erwin von Steinbachs, der aus sich heraus die Säulen, Bogen zum Himmel emportrieb, um ihm zu sagen: Hier bin ich, schau mich endlich an, tu nicht weiter so, als sei ich ein Nichts! Merkst du auch, Jakob, dass auf deinen Sohlen manchmal, immer öfter, kein Gewicht mehr lastet, dass du leicht und leichter wirst? Bald werden wir wie Marionetten über dem Boden schweben, nur dass uns oben keiner an Fäden dirigiert.

Der Mond, der im Dunst sich aufzulösen scheint, er macht mich froher als das abgezirkelte kalte Rund in klarer Nacht, der rosa Saum über den Häusern leuchtet für mich mehr als die strahlende Sonne, das Wasser der Ill weit dahinten, hinter vielen Mauern, dessen Kühle ich nur ahne, es erfrischt mich mehr als ein Bad in ihm. Dieser Geruch in der Luft, nicht zu sagen, was in ihm enthalten ist, ich weiß nur, was er mir mitteilt: Der Sommer liegt noch vor mir, vor uns, Jakob.“

Er umarmte Lenz, drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

„Bei dir kann ich es wagen, du bist nicht nur Wirklichkeit, und die soll uns nicht gefangen nehmen, nie. Du hast recht, man sollte Bogen machen, gerade um das Theatrum Anatomicum.

Fliegen möcht ich wie Faust, von Szene zu Szene, von Schauplatz zu Schauplatz. Das ist nichts für mich, das Wandern über Stolperpflaster, Wegestaub, vom leeren Krug zum halbvollen, vom hässlichen Mädchen zur Beinahe-Schönheit, die du umarmst, weil nur sie da ist, vom Heuschober zum Gasthaus, in dem du abends die Männer, die mit dir am Tische sitzen, mit schwungvollen Reden wegreißen musst von Melancholie und Missmut, in die sie dich hineinziehen würden.

Dann doch lieber gleich zum vollen Krug mit bestem Wein, zum Mädchen, dessen Züge klar und sicher von einem Genie gezeichnet scheinen, das Haus, von dem du weißt, dass es sich lohnen wird da einzukehren. Später, wenn sie die Federn meiner Flügel ausgerupft haben werden, dann werde vielleicht auch ich mich durchs Kleine und Enge hindurchquälen müssen, werde da ein Blatt oder eine Scherbe, dort einen Knochen auflesen und versuchen, daraus die Welt von unten her aufzubauen mit der Geduld eines Sisyphos.“

„Wann reiten wir beide nach Sesenheim?“, fragte Lenz. Göthe flüsterte: „Ich habe lange darüber nachgedacht, entschuldige, es kann nicht sein. Dich und mich zugleich zu lieben, das ist ihr nicht möglich. Und würde ich mich noch so sehr verstellen, sie müsste es auch bemerken, dass ich dich zum Nachfolger ausersehen habe. Das wäre demütigend für sie und in ihren Augen auch für mich. Wenn du bei ihr bist, will auch ich in ihrem Andenken dabeisein, und zwar nicht nur als Schuft. Es wird noch eine Weile dauern, bis du mit den Baronen nach Fort Louis ziehen wirst. Lass ihr so lange noch Zeit, über das hinwegzukommen, was ich ihr antun muss.“

„Bis dahin werde ich schöne Gedichte für sie schreiben“, sagte Lenz.

„Lass das lieber bleiben“, riet Göthe. „Sie werden misslingen, Friederike ist noch zu weit von dir weg. Treib dich später nicht ständig bei ihr herum. Wenn ich in ihrer Nähe bin, gelingt mir kein Gedicht, erst wenn ich zurück bin in Straßburg und bei dir.“

„Du hast recht“, sagte Lenz, „zwei genügen nicht, wenn Liebesgedichte entstehen sollen, bei dir etwa muss Herder dabei sein.“

„Vergiss dich selbst nicht. Erst seit du da bist, gelingen sie mir so, wie ich es mir immer gewünscht habe. Kein Wunder, du bist der erste geniale Dichter, der mir leibhaftig gegenübersteht.“

„Der leider noch nichts geschrieben hat, was diesem Anspruch genügt.“

„Du wirst es aber schreiben, das zählt mehr, als wenn du es schon geschrieben hättest.“

Vor ihnen öffnete sich ein lang gestreckter schmaler Platz, an dessen Ende das französische Theater hoch aufragte. Besucher eilten durch die Lindenallee dem Eingang zu.

Göthe blieb stehen.

„Schau dir diesen Giebel an, dieses Portal, unser kleines und schäbiges deutsches Theater würde erdrückt, wenn es danebenstünde. Aber, Gott sei es gedankt, sieht man hier um den Platz noch glanzvollere Prunkfassaden, und unser Wirtshaustheater bleibt in der winkligen alten Stadt versteckt, wo die Menschen wohnen, zu denen es spricht und deren Sprache es ausleiht. Wenn du aber hier hineingehst, dann kommst du dir klein vor. Die Schauspieler auf der Bühne tragen weite, faltige Gewänder, sie zeigen dir, dass sie sich von dir unterscheiden, ihr Sprechen und Schreien ist wie ein stumpfer Sturm, du hörst sein Heulen, aber du spürst ihn nicht auf der Haut. Sie strecken ständig ihre Arme aus, ihre Hände greifen nach etwas, und sie bekommen nichts zu fassen.“

Göthe parodierte mit gekünstelten Gebärden die Schauspieler, Lenz schaute so ergeben zu ihm auf, dass Passanten stehen blieben und zu ihnen hinblickten, auch noch, als Göthe weitersprach. „Nur einer der Schauspieler, Auresne heißt er, wirft sich, auch was die Sprache seiner Hände, seines Körpers, seines Gesichts angeht, nicht so nach draußen, er bleibt näher bei sich selbst. Bei ihm spürst du etwas von der Angst, dem Neid, dem Hass, der Missgunst, die Molière, Racine, Corneille in ihre Stücke hineingelegt haben. Wo aber bleiben die Gefühle, die sie nicht kennen, die vielleicht noch gar keinen Namen haben, die in uns beiden zu Hause sind? Wir müssen sie zum Sprechen bringen.

Ort, Zeit und Handlung haben die Dichter in ihren Stücken so eng eingegrenzt, wie sie es selbst sind in diesem Höflings- oder Bürgerleben, aus dem wir doch herauswollen, heraus aus diesem Bezirk, geschlossen wie der um das Schloss zu Versailles: Der Garten von Hecken und Zäunen umzogen, innerhalb derer man sich auf ausgemessenen Pfaden bewegt; die Personen, die sich da begegnen, kennen sich, wissen, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Was sie sich zu sagen haben, hängt mit etwas, was davorliegt, eng zusammen und weist auf etwas, das bald folgen wird, voraus, aber es gibt kein Entrinnen. Hinter der schönen Ordnung lauert im Gebüsch ein ordinärer Teufel, über den sie lachen, wenn er sich einmal flüchtig zeigt, während sie in Gruppen vorbeipromenieren, der sie aber anfällt, wenn sie sich nachts allein vorüberschleichen wollen. Bald wird er die Welt der Tyrannen und ihrer Schranzen zu sich herübergezogen haben.

 

Ja, Lenz, Straßburg ist für uns der richtige Ort, hier haben wir sie vor Augen, die alte Welt der Franzosen, von der wir uns lösen wollen, die noch ältere der Deutschen, der wir dennoch näherstehen, deren Stücke wir aber umschreiben, neu schreiben werden. Keine dieser Welten kann uns ganz zu sich herüberziehen, zwischen den Fronten bleiben wir frei.

Gehen wir weiter, Jakob. Wir werden uns nicht anbinden lassen, an keinem Ort, wir werden uns auf nichts festlegen lassen. Vor allem aus dieser zähen, klebrigen Zeit werden wir uns befreien, indem wir neue Stücke schreiben. Da kannst du springen, vom Heute zum Gestern ins Übermorgen und zurück zum Uralten, zurück zu den Rittern und Hexen, auch von den alten Griechen zu uns Deutschen. Kurz soll unser Leben sein? Wir weiten es aus, kann sein, wir werfen noch einen Blick hinter die Grenzen der Zeit, wenn das Glück es gut mit uns meint.

Wenn die Luft in der Stube abgestanden ist, muss man das Fenster aufreißen. Abschied nehmen müssen wir von vielem.“

Es entstand eine längere Pause, sie gingen zurück in die engen Gassen.

„Wenn das so leicht wäre“, sagte Lenz.

Ob sie den stumpf gewordenen Geist der Zeit in eine Richtung, ein Umfeld hätten lenken können, wo er nicht nur in den Köpfen etwas bewegt, hatten wir gefragt. Was sie hier vorgebracht haben, hört sich vielversprechend an. Warten wir’s ab, sie sind Dichter, sie müssen fliegen können.

Die Dichter fliegen zum Bastberg

Sich von den Bedingungen der rüden, der banalen Wirklichkeit, der Bindung, der Fesselung an sie zu lösen, das versuchen Dichter immer wieder. Freilich gelingt ihnen das nur mithilfe des Wortes in virtueller Weise. Göthe und Lenz versuchen ihren Geist so zu beflügeln, dass der Körper nicht zurückbleibt. Wie weit kommen sie?

Nach dem Absprung nahm Göthe die Beine in eine parallele Stellung zurück, breitete die Arme wie Flügel aus. Mit den Fußspitzen streifte er noch den Wipfel einer Linde, dann glitt er sanft auf das Münster zu. Den zu ihm hinaufstarrenden Passanten in den Straßen schenkte er keinen Blick. Er sah nur die jungen Leute, die ganz oben auf dem Umlauf des Turmes saßen, mit den Beinen ins Leere strampelten und Weinkrüge schwenkten. Es drang Gejohle zu ihm herüber. Er flog im Bogen um den Turm herum; als er ihnen am nächsten gekommen war, schrie er Juhuuu und flog zurück zu den Linden, berührte wieder eine mit den Füßen, forderte den unten auf dem Weg stehenden Lenz durch einen Wink mit der Hand zum Mitkommen auf.

Göthe zeigte nach unten. Lenz bemerkte erst jetzt einen massigen, achteckigen Kirchturm und in der Nähe ein Fachwerkhaus. Göthe steuerte darauf zu, aber knapp oberhalb des Dachfirstes bog er nach links ab und flog in Richtung Gebirge weiter. Lenz jedoch landete vor dem Haus auf der Straße. Er hatte zwei Mädchen im Auge gehabt, die sich an einem Ziehbrunnen zu schaffen machten. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um sie über einer Mauer und zwischen den aufgesetzten Palisaden wieder zu Gesicht zu bekommen. Als er bei einer die langen schweren Zöpfe sah, die bis zu einer schlanken Taille hinabhingen, wusste er, dass er es mit Friederike zu tun hatte, aber nicht zu tun bekam, denn die junge Dame nahm einen Eimer mit Wasser auf und trug ihn zum Eingang des Hauses. Er sah von der Seite jetzt auch eine Stupsnase, die klaren Linien des Mundes. Die Schwere der Last zog ihren Körper zur Seite, aber auf ihrer Stirn war keine Falte zu sehen.

Als sie im Haus verschwunden war, bog er um die nächste Straßenecke. Nach einigen Sätzen, die nur verkürzte Riesenschritte waren, stieß er sich kräftig ab und war bald schon wieder bei Göthe angelangt. Der schaute ihn verwundert an.

Sie flogen über zahllose Wege, die zu anderen Zielen führten. Bäche, von Bäumen und Büschen begleitet, schlängelten sich durch die Ebene, später bestimmten flache Talmulden ihren Lauf. Auch ihnen folgten die beiden nicht. Rechts unten ein endloser Forst, auch kleine Wäldchen tauchten auf, geformt wie Wolken. In Buchsweiler landeten sie in einer engen Gasse, Göthe zuerst, Lenz blieb fast an einem Erker hängen, stieß sich mit den Händen von ihm ab, geriet in eine Schräglage und stürzte bäuchlings auf das Pflaster.

Göthe half ihm auf die Beine und klopfte ihm den Staub aus den Kleidern: „Du siehst, fliegen ist leicht, wenn du das, was schwer macht, nicht beachtest, nicht diese Kraft der Erde, wenn du den vielen Dingen und Menschen da unten auch nicht zu nahe kommst, denn sie wollen dich zu sich hinabziehn. Der Geist, vor allem in seiner höchsten Form, der Kunst, entwickelt eine Anziehungskraft, die die andere aufhebt. Wenn wir stark sind, kann sie uns nicht mehr anhaben als dem Vogel der Wind. Wir fliegen.“

„Dir hat es das Leben leicht gemacht“, sagte Lenz, „ich habe nichts, nicht mal einen Beruf, ich werde getrieben, gejagt, mich bedrückt das Elend in der Welt, das auch meines ist. Wenn ich gegen es ankämpfe, bleibt etwas von ihm an mir hängen, und wenn ich in mein Inneres hinabschaue, da gibt es schlimme Bezirke, ich spüre ständig den Sog, der von ihnen ausgeht. Zwischen Freude und Trauer, Lust und Leere, Vertrauen und Enttäuschung versuche ich das Gleichgewicht zu halten, den Absturz zu vermeiden, nur an dir zweifle ich nicht.“

„Du bist ein Genie, lieber Jakob. Neben einem hohen Berg gibt es Abgründe. Teile von ihm können in sie hinabstürzen, nie der ganze Berg. Hat dich das Böse in der Welt je an der Existenz Gottes zweifeln lassen?“

„Manchmal schon.“

„Mich meistens. Aber jetzt zweifle ich nicht an uns, nicht an dir.“

Sie schritten schweigend durch das Städtchen, Göthe, einige Schritte voraus, schaute suchend in Höfe und Fenster. Vorbei gingen sie an überhängenden Häusern, sich ausbauchenden Mauern, an den Balkenmustern der Fachwerke, die sich nie zu weit mit starrer Geometrie einließen, an dem steinernen Kopf einer schönen Dame, die vielsagend und gefährlich zu ihnen herunterlächelte. Zwei Ecken weiter, da stand sie vor ihnen, unter einem Erker, von dem Holzköpfe mit Ringen im Mund auf sie herabschauten, eine Schönheit, strahlender, als Lenz es für möglich gehalten hätte, in schlichtem roten Kleid.

Die beiden Dichter blieben stehen, erstarrt, Göthe kam als Erster wieder frei: „Kennst du mich noch? Ein Jahr mag’s her sein, da fragte ich dich nach dem Weg zum Bastberg. Ich hab ihn noch immer nicht gefunden.“

„Ach, der Herr, der zwar auf den Berg, vor allem aber nach Saarbrücken wollte. Was man nicht sucht, kann man nicht finden.“

„Doch, gesucht hab ich ihn schon, wenngleich ich zugeben muss, dass hier in Buchsweiler und auch anderswo mir etwas nicht aus dem Sinn geht und mich verwirrt. Wo ich hinwill, da komm’ ich nicht hin, und wo ich hinkomm’, da will ich nicht hin.“

„Sie armer Hans. Das sind die Hexen vom Bastberg, die haben sich schon in manchen Kopf geschlichen und ihn durcheinandergebracht. Schlagt euch die aus dem Sinn und nicht nur die, dann liegen alle Wege offen vor euch, wenn euch auch nicht alle Tore offenstehn.“