Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

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Vorwort des Herausgebers

Von Douglas Brinkley

Du kannst auf die Inspiration nicht

einfach warten. Du musst ihr mit

der Keule hinterherjagen.

Jack London

Am 22. November 1963, in der Mittagszeit, hörte Hunter S. Thompson die Nachricht von der Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy; seine erste Reaktion bestand darin, sich vor seine Schreibmaschine zu setzen. In einem Brief an seinen Freund William Kennedy (der für den Roman Ironweed zwanzig Jahre später den Pulitzer-Preis bekommen sollte) machte er seinem Ärger Luft. »Es gibt kein menschliches Wesen im Umkreis von fünfhundert Meilen, mit dem ich irgendetwas besprechen könnte – am wenigsten die Angst und den Schrecken, der nach dem heutigen Mord über mich gekommen ist«, schrieb Thompson zuhause in Woody Creek, Colorado. »Von jetzt an gelten nur noch miese Tricks. Diese wild gewordenen Irren haben den großen Mythos von der amerikanischen Anständigkeit zerschmettert.«

Die Phrase »Angst und Schrecken« wurde bald – ohne Verweis auf Søren Kirkegaard – zum Markenzeichen von Thompson: sein Kürzel für einen berechtigten Angriff auf eine maßlose, kaputte Konsumgesellschaft. Ob im Zusammenhang mit den Hell’s Angels, mit Richard Nixon oder Südostasien – »Angst und Schrecken« war für Thompson eine vielfältig einsetzbare Paraphrase, die den Tod des amerikanischen Traums wie eine Kapsel einschloss. Angst und Schrecken in Las Vegas (1971), ein Meisterwerk der Komik und längst ein Kultbuch, wurde 1996 von der Modern Library auf die berühmte Liste anschaffungswürdiger Ausgaben von Klassikern der Weltliteratur gesetzt, eingereiht zwischen Thackeray und Tolstoi. Auch das andere bekannte Werk von Thompson mit dem Kürzel im Titel – Angst und Schrecken im Wahlkampf (1973), wird zum angesehenen Kanon der Modern Library gehören; die New York Times hat es als »bisher beste Beschreibung des Gefühls, sich mitten im politischen Geschehen Amerikas wiederzufinden« gewürdigt. Und jetzt, im Jahre 1997, kommt The Proud Highway: Saga of a Desperate Southern Gentleman, die erste Folge einer auf drei Bände angelegten »Angst-und-Schrecken«-Briefsammlung. Unter den mehr als zweihundert Briefen befindet sich auch der eingangs erwähnte historische Brief an William Kennedy von 1963.

Die Briefe in vorliegendem Band machen nur einen Bruchteil der insgesamt etwa zwanzigtausend Briefe aus, die Thompson geschrieben hat, seit er ein kleiner Junge war. Ob in seiner Kinderstube in der Randsdall Avenue in Louisville, in einer Dachkammer in Greenwich Village oder auf einem mit Bier beladenen Frachtkahn, der über den Magdalena-Fluss in Kolumbien schippert – Thompson hat wie ein Besessener Post verschickt und fast jedes Mal einen Durchschlag auf Kohlepapier gemacht; in der Hoffnung, dass seine Briefe eines Tages als Dokument seiner eigenen Geschichte, aber auch als Zeitzeugnis veröffentlicht werden würden. »Das war noch vor dem Zeitalter des Xerox-Kopie­rers«, so hat Thompson seine vielleicht überraschend erscheinende Sammelwut kommentiert. »Mein Wunsch, alles aufzubewahren, hatte etwas von einer analen Fixierung.«

Die frühesten Briefe, die in Thompsons Owl Farm archiviert waren, stammen von 1947, als er als frühreifer Zehnjähriger damit anfing, über Sportereignisse aus der Nachbarschaft zu berichten und für seine eigene, vier Cent teure, aus zwei Seiten bestehende und von ihm selbst vervielfältigte Zeitung The Southern Star Abonnenten zu gewinnen. Mit zwölf bombardierte er den Herausgeber des Courier-Jour­nal in Louisville mit Leserbriefen, in denen er sich über die Ausrichtung der Zeitung beschwerte, die über alles Erdenkliche berichtete und von Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen bis zur Geschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs wahllos jedes Thema aufzugreifen schien. Thompson bewahrte auch die meisten seiner Schulhefte auf und selbst ein unregelmäßig geführtes Tagebuch, das naive Überlegungen und Lebensregeln eines Heranwachsenden enthält. Am Neujahrstag 1951 zum Beispiel notierte Thompson zehn Vorsätze, die er im kommenden Jahr umzusetzen hoff­te; auf Nummer eins der Liste hieß es: »Ruhiger werden!«, Nummer zwei lautete: »Bis März eine gute Frau finden«, und unter Nummer drei hieß es: »Immer schick angezogen sein.«

Der größte Teil der frühen Korrespondenz von Thompson – von der aufgrund des jugendlichen und persönlichen Charakters nichts in dieser Ausgabe enthalten ist – enthält Briefe, die er an seine Mutter Virginia schrieb, eine Bibliothekarin aus Louisville. Er schrieb ihr täglich, als er von Mai bis Juli 1955 im Jefferson County Jail wegen eines Diebstahls einsaß, den er nicht begangen hatte. »Die Polizei lügt«, schrieb er aus seiner Zelle. »Die Ungerechtigkeit greift um sich.« Nachdem er auf Bewährung freigekommen war, marschierte er in ein Rekrutierungsbüro der Luftwaffe und ließ sich auf die Warteliste setzen. Nach einigen Monaten Basis­training in San Antonio kam er in die Scott Air Force Base in Belleville, Illinois, wo er eine Ausbildung als Radiotechniker absolvierte und wo er bis September 1956 blieb. Daraufhin wurde er Sportredakteur des Command Courier, der Zeitung der Eglin Air Force Base (Pensacola, Florida); und erst von da an schrieb er regelmäßig wohldurchdachte Briefe, vor allem an seine alten Kumpane der angesehenen Athenaeum Literary Association. Durch Thompson wurde der Sportteil zu einem der besten des nördlichen Florida, und er machte sich in der Zeit mit allen handwerklichen Aspekten des Zeitungsmachens vertraut, von Layout, Fotografie und Nachrichtenschreiben bis zum Verfassen von Schlagzeilen und dem Bedienen einer Schreibmaschine. Auf seiner vertrauten Underwood schrieb er Artikel und Geschäftsbriefe und hielt die Korrespondenz mit seinem weitläufigen Freundeskreis aufrecht; nächtliches Briefeschreiben wurde zu einem Ritual, das er sich bis heute bewahrt hat. »Mit einer kleinen Reiseschreibmaschine sorge ich für mehr Wirbel als andere mit einem kompletten Fernschreibernetz«, schrieb er 1958 seinem Freund David Ethridge aus Louisville. »Und ja, Mann, nichts geht über einen ordentlichen Schlagabtausch.«

Die Persönlichkeit, die aus den frühen Briefen dieser Kollektion hervorscheint, ist die eines begabten selbstbewussten Einzelgängers, der dazu neigt, ein Außenseiter zu sein und sich in der schnell getakteten irrationalen Welt des Kalten Kriegs auf die Suche nach dem begibt, was sich hinter der Fassade befindet. »So wie sich manche Sinnsucher einer Religion zuwenden, verlässt sich ein Schreibender auf sein Handwerk und ist darum bemüht, selbst Sinn zu erzeugen, oder aber: er sucht im Chaos nach dem, was bedeutsam ist, um es zu ordnen«, schrieb Thompson einem Freund 1958. Für Thompson war Briefeschreiben seine eigene Art, die Dinge zu ordnen, und er kultivierte dabei eine Mischung aus literarischem Lebensstil und ungezügelter Reiselust, so wie es einst der Dichter Vachel Lindsay vorgemacht hat, der ganz Amerika durchquerte und Gedichtzeilen für gerade einmal einen Penny verfasste. »Ich glaube«, schrieb Thompson einer Freundin während seiner Zeit in der Air Force, »die bloße Tatsache, dass ich diesen Brief hier geschrieben habe und das Bedürfnis danach hatte, zeigt den Wert an, den es für mich hat, Wörter auf einem Stück Papier in die richtige Reihenfolge zu bringen.« Und weiter: »Und ich schätze, genau das ist der Grund, warum ich so viele Briefe schreibe, wie ich es tue, weil es – abgesehen von meiner täglichen Brotarbeit und abgesehen von literarischen Stories – die einzige Möglichkeit für mich ist, mit klarem Blick auf das Leben zu schauen. Andernfalls bin ich so sehr mittendrin im Geschehen, dass der Rest der Welt bloß noch zu einem Bühnenbild für mein Leben verkommt.«

Manchmal aber – nachdem er zum Beispiel im Oktober 1958 seine ehrwürdige Entlassung von der Air Force erhalten hatte – schrieb Thompson Briefe einfach zu seinem Vergnügen; um sich an Wörtern zu berauschen, um im sprachlichen Umgang locker zu bleiben und Schreibblockaden zu vermeiden. Versessen darauf, als Romancier ganz vorne dabei zu sein, bearbeitete er seine Underwood wie einen Steinway-Flügel und tippte ganze Passagen aus Der große Gatsby und Wem die Stunde schlägt ab – in dem Versuch, den Klang jener Prosa einzufangen, die er so sehr verehrte. Einige der frühen Briefe sind unübersehbar ehrgeizige Übungen, die darin bestehen, Schriftsteller von John Dos Passos bis Lord Buckley oder William Styron zu imitieren. Mit zwanzig war Thompson davon überzeugt, der F. Scott Fitzgerald seiner Generation zu werden; er trug seine ausufernde Kollektion von Briefen in Koffern mit sich herum, in dem Glauben, sie seien eine finanzielle Rücklage für schlechte Zeiten. »Eben habe ich zwei von den Briefen noch einmal gelesen, die ich Dir nach Island geschickt habe«, schrieb er 1959 seinem Air-Force-Kumpel Larry Callen 1959. »Vielleicht bringe ich meine Sammlung heraus, bevor ich berühmt werde – nicht erst hinterher.«

Zusammengenommen zeigen die frühen Briefe einen hand­werklich vortrefflichen Autor; und einen jugendlichen Outlaw mit einer nonkonformistischen Haltung, inspiriert von seinen Lieblingsfiguren in Der ewige Quell von Ayn Rand, Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger, Siddharta von Hermann Hesse oder Auf Messers Schneide von Somerset Maugham. Dabei folgte Thompson stets kompromisslos seinem eigenen Rhythmus und seiner eigenen Stimme. »Ich habe vor nichts Angst und lege es auf nichts an«, schrieb er 1958 einer Freundin. »Ich bin wie ein Psychopath in einem Völkerballspiel, der abwartet; mein Atem geht schnell, während die Idioten überlegen, wer als nächster auf mich werfen soll, und dann springen sie alle zur Seite, nur aus dem Grund, weil ich es bin, der in der Mitte steht.« Die Briefe machen klar, das sich Thompson bewusst zu einem amerikanischen Adam stilisiert hat, einer Figur, die der Kritiker R.W.B. Lewis so definiert hat: ein »auf sich selbst gestelltes und aus sich selbst heraus agierendes Individuum, bereit, sich mit allem und jedem auseinanderzusetzen kraft der eigenen, ganz speziellen und nur ihm selbst innewohnenden Ressourcen«. Die Autoren, die Thompson in seinen Zwanzigern am meisten bewunderte – Ernest Hemingway, Jack London, Henry Miller – waren nicht Teil einer literarischen Bewegung oder eines elitären Clubs, sie waren so etwas wie ihre eigenen rollenden Salons. »Ein guter Autor steht über jeder Bewegung«, schrieb Thompson, »und ist weder Anführer noch Mitläufer. Ein guter Autor ist – ein glänzender weißer Golfball auf einem Feld voller windgeschüttelter Gänseblümchen.« Dass Thompson dann 1960 nach Big Sur zog, war kein Zufall. Er wollte in der Nähe von Henry Miller sein, dessen radikale Offenheit er mehr als alles andere bewunderte.

 

Ein Dauerthema in diesem Band seiner Gonzo-Briefe sind Thompsons Angriffe auf die Mainstreampresse; er betrachtete ihre Vertreter als unterwürfige Sprachrohre des Rotary Clubs, der US-Regierung und des Establishments der Ostküste. Den unter dem Dach der New York Times versammelten angeblichen objektiven Journalisten zog er den subjektiven Journalismus von Autoren wie H. L. Mencken, Ambrose Bierce, John Reed oder I. F. Stone vor. Nachdem er 1959 vom Daily Record in Middletown (New York) gefeuert worden war, weil er einen Süßigkeitenautomaten eingetreten hatte, schrieb Thompson jene Zeilen, die womöglich so etwas wie sein Lebensmotto sind: »Ich versuche so gut wie möglich genau das Leben zu führen, an das ich glaube.« Und in derselben Notiz stellte er zwei Grundregeln für angehende Autoren auf: »Erstens: Zögere niemals, Gewalt anzuwenden, und zweitens: Missbrauche deine Vertrauenswürdigkeit, wo immer es die Sache wert ist. Wenn du dich daran hältst, und wenn es dir gelingt, einen kühlen Kopf zu behalten, hast du eine Chance, es zu schaffen.«

Es ist schwer zu sagen, wann genau es mit dem sogenannten New Journalism losging. Sicher zeigen die Jahre 1965 und 1966, wie sie im ersten Band The Proud Highway beschrieben werden, dass der New Journalism von einer Reihe wagemutiger Autoren eingeläutet und von einem breiten Publikum dankbar aufgenommen wurde. Während für Gay Talese, Jimmy Breslin, Truman Capote, Tom Wolfe, Norman Mailer, Terry Southern – prominente Bekannte von Thompson – das Magazin Esquire und die Herald Tribune aus New York den Nährboden für New Journalism bildeten, lehnte Thompson dieses in seinen Augen banale Schlagwort ab. Er fand den Begriff »impressionistischer Journalismus« treffender. Lange bevor sich George Plimp­ton einen Fußball schnappte und The Paper Lion schrieb, bewunderte Thompson es, wie Ernest Hemingway, Stephen Crane oder Mark Twain literarische Techniken mit Reportageelementen kombinierten und bei der Beschreibung von Ereignissen mit Nachrichtenwert die Bedeutung einer persönlichen Beteiligung des Autors hervorhoben.

Als ich die Korrespondenzen von Thompson las und seine Notizbücher durchging, wurde mir klar, dass George Orwells Mein Katalonien – sein Bericht aus erster Hand über den Spanischen Bürgerkrieg – und Erledigt in Paris und London – sein Bericht über die Notgemeinschaft mit aus der Welt gefallenen Obdachlosen – die wohl wichtigsten Einflüsse für Thompsons Technik und Stil waren. Wenn es Orwell gelungen war, mit heruntergekommenen Säufern im absoluten Dreck zu leben und darüber zu schreiben, dann würde Thompson das auch können – und sich unter Schmugglerbanden in Aruba mischen, Bordelle in Brasilien aufsuchen oder sich Motorradgangs in Kalifornien anschließen; selbst wenn es mit dem Risiko verbunden war, verprügelt oder eingesperrt zu werden. Damit Journalismus gegen Literatur bestehen könne, glaubte er, müsse eine Story die Zeit überdauern. »Literatur ist eine Brücke zur Wahrheit, die für den Journalismus unerreichbar bleibt«, schrieb Thompson 1965 an den Herausgeber Angus Cameron. »Fakten sind Lügen, wenn sie nur aneinandergereiht werden.«

Es gab einige, die in den fünfziger und sechziger Jahren impressionistischen Journalismus praktizierten und die er dafür bewunderte: A. J. Liebling, der über Medien, Grantland Rice, der über Sport, James Baldwin, der über Rassismus und Norman Mailer, der über existenzielle Ängs­te schrieb. Doch keiner von ihnen, so fand er, fing die explosive sinnliche Kraft von journalistischen Abenteurern wie Orwell, Hemingway oder London ein, die unmittelbar ihre persönlichen Erlebnisse schilderten.

In jungen Jahren gab es bei Thompson immer wieder diese sardonischen Spielchen, die darin bestanden, andere über­trumpfen zu wollen: William Faulkner lud er in seine eiskalte Hütte im Tal des Hudson River ein, um »Hühner zu stehlen«; Nelson Algren warf er vor, bösartig wie Nixon zu sein; Norman Mailer riet er, bloß gut aufzupassen, was hinter seinem Rücken passiere, denn »HST« sei gerade dabei, den »Großen Puerto-ricanischen Roman« zu schreiben. Und jagte Hemingway mit einem Gewehr in der Hand Großwild am Kilimandscharo, dann schlich Thompson mit einem Bowie-Messer einem Wildschwein in Big Sur hinterher. Bestellte der Ginger Man von J. P. Donleavy fünf Gläser Whiskey auf einmal, waren es bei Thompson fünf Flaschen. Er wollte unbedingt mit einer Story rüberkommen, die so krass war und einem dermaßen die Augen verdrehen würde, dass Das Herz der Finsternis im Vergleich dazu wie eine Gute­nachtgeschichte aussehen würde – allerdings gehörten für ihn auch Humor und ein Augenzwinkern dazu.

Kein neuerer amerikanischer Autor ist so umstritten wie Hunter S. Thompson. Sein von Mythen umranktes öffentliches Bild erregt bisweilen mehr Aufmerksamkeit als seine acht publizierten Bücher. Nicht weniger als vier Biographen wurden in den letzten sechs Jahren über ihn geschrieben, mehrere Dokumentarfilme erzählen seine Lebensgeschichte. Garry Trudeau hat in den letzten zwanzig Jahren in seinem Comic Doonesbury mit der an Thompson angelehnten Figur Uncle Duke seinen Lebensunterhalt bestritten. Neben Batman und Green Hornet2 ist Thompsons Konterfei – ohne seine Zustimmung – als Actionfigur vermarktet worden, ganz zu schweigen von den Angst-und-Schrecken-in-Las-Vegas-T-Shirts, die an der Ecke Haight and Ashbury mit Jerry Garcia, Mick Jagger und Kurt Cobain konkurrieren. In seinem Buch On Writing Well von 1980 bezeichnet William Zinsser Thompson als Amerikas »acidgetriebenen Men­cken«; NBC-Nachrichtensprecher John Chancellor nannte ihn »Billy the Kid auf Speed«; und in der Boulevardpresse ist Thompson so populär wie in den Hörsälen der Universitäten – wenn auch das Interesse an seinem Alkohol- und Marihuanakonsum in beiden Fällen größer zu sein scheint als an seinem Werk. Wie aber diese Briefe hier zeigen – vor allem, wenn er an Freundinnen oder an seine Mutter schreibt –, verbirgt sich hinter der öffentlichen Person ein oftmals nachdenklicher Mensch. »Ich habe noch keine Droge gefunden, die auch nur annähernd so high macht wie am Tisch zu sitzen und zu schreiben«, bemerkte Thompson 1989 bei einem der Gespräche für ein Buch über sich.

Wie in The Proud Highway dokumentiert, scheiterte der traditionelle Journalismus in Thompsons Augen gerade dann, wenn es um eine angemessene Berichterstattung der wirklich großen Themen gegangen wäre: die Nixon-Ken­ne­dy-Debatte, die Ermordung von JFK, die forcierte Vietnam-Politik von LBJ, das politische Comeback Nixons. »Die Presse kann mir Johnson nicht schmackhaft machen«, schrieb er im Februar 1964 einem Freund. »Man riecht es, dass mit ihm etwas nicht stimmt.« Wie sein Held Bob Dylan im spöttischen Refrain von »Ballad of a Thin Man« nahelegte (»Irgendwas geht hier vor / Aber du weißt nicht, was es soll / oder, Mister Jones?«), war die etablierte Presse hilflos, wenn es darum ging, über Kundgebungen des Black Panther, Grateful-Dead-Konzerte oder LSD-Kool-Aid-Par­tys zu berichten. Hunter S. Thompson tat es. »Zuletzt handelten meine Artikel von Oben-ohne-Tänzerinnen, Müll im Hafenbecken, Marihuana, Karate und einer im allgemeinen zur Veröffentlichung ungeeigneten Mischung aller möglichen unvorhersehbaren Sujets«, schrieb er 1965 einem Freund. Thompson war ein Interpret der Gegenwartskultur. Mit einem Bein stand er im journalistischen Mainstream –wenn er etwa für das Unternehmen Dow Jones schrieb –, mit dem anderen steckte er tief im psychedelischen Underground. »Ich bin hier draußen unterwegs, um herauszufinden, welche Art von epidemischem Stillstand den amerikanischen Traum befallen hat«, notierte er in einem Brief an einen New Yorker Redakteur.

Gonzo-Journalismus ist der Begriff, der am häufigsten mit Hunter S. Thompson in Verbindung gebracht wird und der erst 1970 in das amerikanische Wörterbuch aufgenommen wurde. Es war Bill Cardoso, ein Reporter des Boston Sunday Globe, der nach der Lektüre von Thompsons »Das Kentucky Derby ist dekadent und degeneriert« in Scanlan’s Monthly ausgerufen hatte: »Das war Gonzo pur!« Einige behaupten, der Begriff stamme aus dem Italienischen und bedeute Verrückter, doch Cardoso besteht darauf, dass das Wort seinen Ursprung bei den Iren im Süden Bostons habe und denjenigen bezeichne, der nach einem nächtlichen Trinkmarathon als Letzter noch stehen könne. Als rein literarische Kunstform betrachtet ist für Gonzo die Unmittelbarkeit des Textes entscheidend – der Reporter und seine Recherche stehen im Zentrum des Geschehens. Hingekritzelte Notizen, transkribierte Interviews, Auszüge aus Zeitungsartikeln, Bewusstseinsstrom, wörtlich wiedergegebene Telefongespräche und Faxseiten – all das sind Bestandteile eines radikal-subjektiven Gonzo-Journalismus. »Es ist eine Form der Reportage, der eine Idee von William Faulkner zugrunde liegt: die beste Fiktion ist sehr viel wahrer als jede Art von Journalismus«, so Thompson. Herbert Mitgang, Kritiker der New York Times, beschrieb Gonzo ganz einfach als alles, was Hunter S. Thompson eben veröffentlichte: »Gonzo ist sein eigenes journalistisches Markenzeichen und hat sich seinen Weg sogar ins neue Lexikon von Random House gebahnt, in dem es mit Begriffen wie bizarr, verrückt, exzentrisch umschrieben wird. Er ist der einzige in dem Lexikon, der in Verbindung mit Gonzo-Journalismus genannt wird.«

Obwohl sich Thompson eisern den Ruf erarbeitet hat, Herausgeber einzuschüchtern und Agenten zu feuern – die bei ihm »blutsaugende Zehnprozenter der amerikanischen Gesellschaft« heißen –, ist ein großer Teil der Korrespondenz in The Proud Highway an Redakteure und Herausgeber gerichtet, die hellsichtig genug waren, um Thompson zahlreiche Chancen zu geben; insbesondere Clifford Ridley vom National Observer und Dwight Martin von The Reporter. Beide schrieben Thompson, dass sie seine Briefe sogar noch besser als seine Stories fänden und er auf dem besten Weg sei, der nächste Lincoln Steffens zu werden. Doch in seiner langen literarischen Laufbahn gab es allen voran einen Redakteur, den Thompson bedingungslos bewunderte: Carey McWilliams von The Nation.

McWilliams wurde auf Thompson erstmals im August 1962 aufmerksam. Der legendäre Redakteur las jene Serie außergewöhnlicher Berichte, die ein trinkfester Autor von Lateinamerika aus an den National Observer geschickt hatte, einer erst kurz zuvor von dem Unternehmen Dow Jones gegründeten Wochenzeitung. McWilliams hatte einen Riecher für neue Talente und war von Thompsons Draufgängertum beeindruckt; von seiner Fähigkeit, »tief in eine Geschichte einzudringen«, wie er das in der Reportage »Ein leichtsinniger Amerikaner in einer Schmugglerhöhle« vorgeführt hatte. Einige Jahre später, nachdem Thompson den National Observer verlassen hatte, weil sich die Redaktion seiner euphorischen Besprechung von Tom Wolfes Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby verweigert hatte, beauftragte ihn McWilliams, für The Nation über das von Mario Savio gegründete Free Speech Movement in Berkely zu schreiben.

Thompson nahm das Angebot an. Es war zugleich der Anfang einer außergewöhnlichen Korrespondenz, die sich in diesem Band wiederfindet. Von Mitte der sechziger Jahre an schrieb Thompson beinahe wöchentlich Briefe an McWilliams, die von allem Möglichem handelten: von Ken Keseys Verhaftung wegen Besitzes von Marihuana bis zur Ermordung von Malcolm X, von Flüchtlingslagern im Salinas Valley bis zur »verflüssigten Gitarre« von Jimi Hendrix, vom Aufstieg Ronald Reagans bis zum Niedergang Lyndon Johnsons. »Die Zerstörung Kaliforniens ist ein logischer Höhepunkt der Ausbreitung Richtung Westen«, schrieb Thompson in seinem Apartment in Haight-Ashbury, 318, Parnassus Street, an McWilliams. »Der Redwood-National­park, die Autobahnen, die Drogengesetzgebung, Rassenunruhen, Was­serverschmutzung, Smog, das Free Speech Movement und jetzt Reagan als Gouverneur – das alles ereignet sich mit einer mathematischen Logik. Kalifornien markiert in jeder Hinsicht das Ende der Idee Lincolns, Amerika sei ›die größte und letzte Hoffnung des Menschen‹.«

 

McWilliams war es auch, der Thompson beauftragte, über die Hell’s Angels zu schreiben. Ergebnis: »Motorcycle Gangs: Losers and Outsiders«, eine Titelgeschichte, die am 17. Mai 1965 erschien und einem freien Journalisten Ruhm und einen lukrativen Buchvertrag einbrachte. »Carey war mehr als jeder andere für den Erfolg von Hell’s Angels mitverantwortlich«, schrieb Thompson. »Er ermutigte mich in jeder Hinsicht.« Oder wie er einem befreundeten Reporter 1966 sagte: »Für Carey McWilliams schreiben zu dürfen ist eine Ehre … Er zahlt nicht viel, aber was soll’s … Wenn deine Geschichte in The Nation erscheint, fühlst du dich gereinigt.«

Die erste Auflage von Hell’s Angels war schon vor der offiziellen Veröffentlichung ausverkauft. Als das Buch 1967 auf die Bestsellerliste kam, blieb es dort über Wochen und hielt sich bis zum Ende des Summer of Love. »Jeder Biker des Landes muss sich ein Exemplar gekauft haben«, mutmaßte Thompson über seinen Erfolg, der scheinbar über Nacht gekommen war. Das Buch bekam in zahlreichen großen Zeitungen begeisterte Kritiken. Richard Elman notierte in The New Republic, dass Hell’s Angels »einen Geist nahe eines Rimbaud’schen Deliriums ausstrahlt … dem sich zu nähern nur wenigen Genies vorbehalten ist … Es dürfte sich lohnen, die zukünftige Entwicklung des Autors Hunter S. Thompson genau im Blick zu behalten.« Studs Terkel bezeichnete das Buch in der Chicago Tribune als »großartig und furchteinflößend«, während Eliot Fremont-Smith Thomp­son in der New York Times einen »geistreichen, wachen und originellen Autor« nannte. Sogar Thompsons Heimatblatt, das Courier-Journal in Louisville – das 1955 eine Lügengeschichte über seinen polizeilichen Arrest veröffentlicht hatte – sparte nicht mit Lob: »Soziologisch interessant, und das in einem Stil, der nur den wenigsten Soziologen gelingt. Ein erfahrener, anspruchsvoller Autor, der noch jung ist. Thompson durchdringt sein Thema, er versteht etwas von den sozialen und psychologischen Motiven dieser bunt zusammengewürfelten Truppe von Außenseitern.«

Bei der Zusammenstellung der Briefe für The Proud Highway wurde mir klar, dass Thompson – sobald man seinen aufrührerischen Geist und seine Anmaßungen einer Prüfung unterzogen hat – aus heutiger Sicht ein öffentlicher Moralist ist; einer, der Puritanismus in jeder Ausformung attackiert und dann und wann sogar prophetische Fähigkeiten aufblitzen lässt. Ob er Lyndon Johnson wegen des Vietnamkriegs beschimpft, ob er schon 1965 prophezeit, dass Ronald Reagan eines Tages ins Weiße Haus einziehen wird oder ob er sich über die Gegenkultur von Haight-Ashbury lustig macht – mit klarsichtigen, messerscharfen Kritiken erweist sich Thompson als eine der lebendigsten Stimmen seiner Generation. »Sein Stil wird irrtümlicherweise für übertrieben gehalten, als eine Ausgeburt von blühender Phan­tasie und Drogenkonsum, aber das war nicht anders zu erwarten«, schrieb Edward Abbey über Thompson. »Es ist wie immer in diesem Land – wenn du ihnen die Wahrheit erzählst, belächeln sie dich nur.«

Eine Auswahl der Briefe für diesen Band zu treffen war eine Aufgabe, die einen zur Verzweiflung treiben konnte. Für jeden veröffentlichten Brief wurden fünfzehn aussortiert. Einer von Thompsons beeindruckenden Qualitäten ist die geradezu akademische Präzision seiner Arbeit, und da sind auch seine frühen Briefe keine Ausnahme. Er verachtet sprachlichen Missbrauch, und es kommt selten vor, dass er ein Wort falsch schreibt oder ein Komma falsch setzt. (Wenn er es doch einmal tat, nahm ich mir die editorische Freiheit, dies zu korrigieren.)

Die Briefe in The Proud Highway werden hier – mit Ausnahme von Streichungen, um den Lesern unnötige Wiederholungen oder unerhebliche Details zu ersparen (mit eckigen Klammern gekennzeichnet) – so abgedruckt, wie Thomp­­son sie getippt hat. Es wurden lediglich einige Adressen weggelassen, um die Privatsphäre der betreffenden Personen zu schützen. Wesentliches Ziel ist Verständlichkeit; gleichzeitig sollen Thompsons Eigenheiten bewahrt werden: sein Sprachrhythmus, sein Zorn, die Höhenflüge seiner Imagination und die ihm eigene Wärme. Den meisten Briefen ist eine knappe editorische Notiz vorangestellt, um einen historischen Kontext herzustellen und die erzählerische Kontinuität zu wahren.

Um eine Bestandsaufnahme dieser wahren Fundgrube zu ermöglichen, hat das Eisenhower Center for American Studies der Universität von New Orleans das Hunter S. Thompson Letter Project ins Leben gerufen. Zur vorrangigen Aufgabe der Mitarbeiter des Zentrums gehört es, sämtliche Facetten der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erforschen. Nachdem ich eine Woche mit Thompson auf der Owl Farm verbracht habe, war ich überzeugt, dass diese Korrespondenz für die Geschichte des Nachkriegsjournalismus sowie für Literatur, Politik und populäre Kultur von größter Bedeutung ist. Da das Eisenhower Center bereits die Richard Nixon Project Papers des Historikers Stephen E. Ambrose beherbergt, ist es nur folgerichtig, dass das Zentrum auch ein Projekt finanziert, das dem Erzfeind unseres 37. Präsidenten verpflichtet ist.

Neben den Briefen hat Thompson Hunderte von Notizbüchern in der Owl Farm archiviert, darunter handgeschriebene journalistische Notizzettel und zwei unveröffentlichte Romane: Prince Jellyfish (1959-1960) und The Rum Diary (1961-1966), die beide zu seiner besten frühen Prosa zählen. Das Archiv enthält außerdem ein Dutzend unveröffentlichter Short Stories wie Hit Him Again Jack, Wither Thou Goest und The Cotton Candy Heart sowie eine Reihe vollständig ausgearbeiteter und noch unveröffentlichter Gonzo-Stücke über so unterschiedliche Sujets wie die Bluegrassmusik von Bill Monroe, den Triumph Jimmy Carters im Weißen Haus oder die Invasion Ronald Reagans in Granada 1983. Als respektabler Fotojournalist, der von Robert Frank und Walker Evans beeinflusst wurde, legte Thompson in den frühen Sechzigern auch hier großen Wert auf seine handwerkliche Entwicklung, und so befinden sich im Archiv einige Hundert seiner schlichten Schwarzweißbilder. Doch maßgeblich sind die Pappkartons mit seinen Briefen.

Zusammengenommen ergeben die Briefe in The Proud Highway eine inoffizielle Geschichte von zwei Dekaden im öffentlichen Leben Amerikas. Eine Geschichte, die sehr viel persönlicher ist als die üblichen, auf Skandale abzielenden Biographien über ihn, und auf gewisse Weise sind sie aufschlussreicher als seine eigenen publizierten Texte aus jenen turbulenten Tagen. Denn die Briefe dokumentieren mehr als nur die Zeit, in der sie entstanden sind. Sie erzählen auch von ihrem Autor, und damit sind sie beides zugleich – die Memoiren von Hunter S. Thompson über die Jahre, die ihn prägten, wie auch Erinnerungen an das Aufflammen der Gegenkultur in den sechziger Jahren, von der er so kunstvoll Zeugnis abgelegt hat.

New Orleans, Louisiana

14. Dezember 1996