Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

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Anmerkungen des Autors

Von Hunter S. Thompson

Das andere Wehe ist dahin; und siehe,

das dritte Wehe kommt schnell.

Offenbarung 11:14

Heute ist Freitag, der dreizehnte, in Louisville. Der Himmel ist bedeckt, der Blick von der Penthouse-Suite im Brown Hotel reicht nicht weit. Im ganzen Hotel gibt es nur ein einziges Fenster, das sich öffnen lässt – dieses hier in meinem Zimmer. Der Security-Chef hat es gestern mit einem Meißelhammer geöffnet, und der Hotelmanager jammerte und meinte, das sei die reinste Einladung zum Selbstmord.

Gestern war ein besserer Tag. Der Bürgermeister von Louisville hat den gestrigen Tag, den 12. Dezember 1996, offiziell zum Hunter-S.-Thompson-Tag erklärt. Mir wurde als besondere Auszeichnung der Stadtschlüssel überreicht, und die Sonne strahlte hell wie ein Feuerball … Gestern war ein interessanter Tag, im chinesischen Sinn, aber heute hat sich definitiv alles zum Schlechteren gewandt. Es gibt Gerüchte, dass es nachts ein Feuer und tumultartige Szenen gegeben habe, nach meiner Lesung gestern im Memorial Auditorium. Jugendliche Schlägerbanden sind Amok gelaufen und haben mein Umkleidezimmer abgefackelt, nur wenige Augenblicke, nachdem meine Mutter schleunigst in einer Limousine in Sicherheit gebracht worden war.

Der Abend war ein Riesenerfolg, hieß es, doch er hinterließ bei vielen Leuten Wunden und seltsame Hufabdrucke … Wie ein krudes mongolisches Sprichwort sagt: »Für jeden Moment des Triumphs, für jeden Augenblick von Schönheit müssen eine Menge Seelen zertrampelt werden.«

Ich bin im Brown Hotel kein Unbekannter. Man kennt mich hier gut, seit vierzig Jahren. Als ich fünf war, brachte mich mein Großvater am Ostermorgen in den Speisesaal, und wir schauten einem koreanischen Zimmermädchen dabei zu, wie es dem Gouverneur von Kentucky einen Eispickel in die Leiste stach. Das werde ich nie vergessen.

Solche Geschichten sind alles andere als erfreulich, doch die Vergangenheit lebt weiter. Und da wären wir auch schon bei der Tour de Force durch meine eigene Geschichte. Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand noch ruhig sitzen bliebe, wenn man seine intimen – und in manchen Fällen zweifellos belastenden – Korrespondenzen kistenweise aus verschlossenen Kellerarchiven hervorholen würde. Ich blieb tatsächlich ruhig, mein Freund, aber nur von fern, mit dem größtmöglichen inneren Abstand, und umso mehr gab ich mir Mühe, jetzt keinen Ärger mehr zu machen. Denn ich wollte im Dunkeln bleiben und so tun, als sei ich tot, und genau dafür haben mich andere auch schon gehalten. Mistah Thompson, er ist tot … Ja, wir haben verstanden: Arbeit und Leben und folgenreiche berufliche Schicksale des ein oder anderen wären leichter gewesen, wäre ich eines Nachts auf einer glänzenden Ducati abgezischt und nie mehr zurückgekehrt.

Es wäre eine andere Straße gewesen. Dies hier aber ist, wie wir uns schließlich entschieden haben, The Proud Highway.

Wenn ich jetzt auf diese gespenstische Sammlung starre und mich an all die Datumszeilen und Leute erinnere, die ich auf diesem von Ort zu Ort ziehenden Fest aus Gewalt, Leidenschaft und ständiger Revolution – die auf dem Höhepunkt der sechziger Jahre höchst lebendig war – getroffen habe, dann sind es zwei Dinge, über die ich mich wundere.

1) Wo sind all die Leute, die die gleichen Dinge wie ich gemacht und die gleichen wahnsinnigen Briefe wie ich geschrieben haben, manchmal sogar aus denselben verrückten Städten und mit den gleichen verzweifelten Gefühlen, die ich selbst hatte und gut kannte, Gefühle, unter denen ich wirklich litt – denn ich war jung und gestört und arrogant und definitiv zu keiner Arbeit zu gebrauchen, und wenn, dann nur mit dem nötigen Sicherheitsabstand? … All das stimmt, woran diese Briefe nicht den geringsten Zweifel lassen, und es war eben kein Zufall, dass ich damals in jedem Job, den ich hatte, gefeuert und in jeder Wohnung, in der ich zu leben versuchte, geräumt worden bin.

Und 2) Wo sind jene, die mir geholfen und mich versteckt und die gleichen Risiken auf sich genommen haben wie ich – auf dieser Underground-Hochgeschwindigkeitsstrecke, die damals, in jenen Tagen, beinahe überall verlief, ganz gleich, wohin man gerade unterwegs war? Ich denke an all ihre Geschichten und Mythen und ausgefeilten furchteinflößenden Briefe, die niemals irgendwo erschienen sind und auch in Zukunft nirgends erscheinen werden, sieht man einmal von Familienalben ab.

Manche dieser Leute kommen in den Briefen hier vor, andere bleiben im Dunkeln – entweder aus guten Gründen oder aus überhaupt keinem vernünftigen Grund. Ich sitze jetzt in diesem Grand Hotel und weiß, dass es morgen eine Menge Ärger geben wird, Untersuchungen, die mit diesem Feuer und dem Körper eines Teenagers zu tun haben, der laut Gerüchten im Parkhaus gefunden wurde, und es scheint so, dass sich diese Leute noch irgendwo da draußen herumtreiben müssen, bereit für das unausweichliche dritte Wehe, das gewiss schnell kommen wird.

Louisville, Kentucky

13. Dezember 1996

1958

»Silvester in Manhattan. Es weht eiskalten Regen über die dunkle Straße. Hoch über der Stadt, in Dunst und Regen, schwirren lange gelbliche Lichtstrahlen in großen Bögen durch das Schwarz. Sie kommen vom Empire State Building her – diesem riesenhaften phallischen Symbol, Monument jenes stolzen Traums von Macht, der der Geist von New York ist. Darunter, im gedämpften Neonlabyrinth der Stadt, eilen die Menschen umher: irgendwo … überall … nirgendwo …«

Hunter S. Thompson, Prince Jellyfish

AN FRED FULKERSON:

Obwohl er keinen Job hat, genießt Thompson das Leben in Manhattan. Er liest Im Wendekreis des Krebses von Henry Miller und schaut sich nach einer lohnenswerten Beschäftigung um. Verglichen mit Jersey Shore sieht die Stadt gleich noch einmal besser aus. Seine Stelle als Sportredakteur beim Command Courier in der Eglin Air Force Base hat zwischenzeitlich sein Kumpel Fulkerson übernommen.

2. Januar 1958

110 Morningside Drive

New York, New York

Lieber Fred,

also, halt Dich gut fest, kann ich nur sagen – ich muss Dir nämlich eine ziemlich fiese Geschichte erzählen: eine Geschichte von Terror und Tortur, Scham und Schmerz, Armut und Perversion …

An Heiligabend habe ich mich in einem Vorort von Chicago freiwillig und unter Alkoholeinfluss zu einem verabscheuungswürdig grausamen homosexuellen Vergehen in vier Fällen bekannt und wurde daraufhin am Neujahrstag zu 73 Jahren Haft in einem Gefängnis in Joliet verurteilt. Nach der Urteilsverkündung kannte ich kein Erbarmen mehr, erschlug einen der Geschworenen sowie drei Wachen und flüchtete im Schutz der Nacht. Mittlerweile bin ich als Zuhälter an der Upper West Side in New York beschäftigt, mittendrin im puerto-ricanischen Viertel. Es dauerte gerade einmal drei Wochen und ich wurde morphiumsüchtig, entwickelte eine Abhängigkeit von Cheddar-Käse-Extrakt und komme von drei weiteren Formen sexueller Perversion nicht mehr los. Ich brauche moralische Unterstützung – schicke Geld und eine Gideon-Bibel an Emanuel Hunteros Nama, 110 Morningside Drive, Apt. 53, New York, New York […]

Jetzt aber mal im Ernst, es ist der reinste Horror hier. Ich war die letzten zehn Tage ununterbrochen betrunken, mein Geld schmilzt dahin, die Polizei klebt mindestens einmal am Tag ein Ticket an meinen Wagen, und allmählich habe ich den Verdacht, dass ich wohl oder übel arbeiten muss, um über die Runden zu kommen. Die Aussichten sind tatsächlich finster.

An Weihnachten bin ich hier also angekommen, und ich muss Dir ja nicht extra sagen, dass ich diesen bekloppten Ort in Pennsylvania nicht mehr ausgehalten habe – dort fing ich auch mit dem Trinken an. Meine Abreise aus Pennsylvania war denn auch ein wenig überhastet, nach einer wüs­ten Orgie mit der jungen Tochter von einem der Redakteure. Sie ist am gleichen Tag nach Chicago abgereist, an dem ich mich nach New York aufgemacht habe. Am Freitag vor Weihnachten waren wir noch die ganze Nacht zusammen unterwegs gewesen, haben den Wagen ihres Vaters auf einer einsamen Straße in ein Schlammloch gesteuert und beim Versuch, ihn mit einem Traktor wieder auf die Straße zu ziehen, die vordere Stoßstange heruntergerissen – um uns dann mit Ram’s Head Ale endgültig die Kante zu geben. Wie es immer so ist, brachte dieser kleine Skandal die Gefühle des ein oder anderen ganz schön in Wallung. Mir blieb gar keine Wahl, als mich sofort aus dem Staub zu machen; ich wollte vermeiden, von einem puritanischen Mob geteert und gefedert zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einen großen Teil der lokalen Bevölkerung mit ein paar spöttischen Artikeln über den bemitleidenswerten Zustand des Basketballsports an der Highschool von Pennsylvania verärgert, und das Techtelmechtel mit dieser jungen Lady wäre nur der letzte Vorwand für die Bastarde von Quäkern gewesen, den sie gebraucht hätten, um mich zu entmannen. […]

Da es ist einigermaßen schwierig ist, eine Karriere als Sportjournalist in Festanstellung bei der New York Times zu starten, sieht es so aus, dass ich fürs Erste gezwungen bin, woanders Arbeit zu finden. Bis September werde ich ein bisschen Geld zurücklegen müssen, und sollte ich keinen passenden und einigermaßen bezahlten Job in Manhattan finden, denke ich gerade ernsthaft darüber nach, auf einem Schiff anzuheuern. Allerdings bin ich momentan darauf aus, die lasterhaften Freuden von Metropolis auszukosten. Ich habe noch genug Geld für zwei verkommene Wochen, und erst dann werde ich mich ernsthaft ranhalten müssen, was einen Job angeht.

 

Da fällt mir ein, tu mir bitte den Gefallen und frag bei Col. Campbell nach, ob er den Brief an Vanderbilt bekommen hat. Ich hab von denen neulich einen Brief gekriegt, in dem es hieß, sie hätten nur ein Empfehlungsschreiben erhalten (von Wayne Bell). Wenn Campbell den Schrieb nicht sofort weiterschickt, wird nichts daraus. Und richte John Edenfield einen schönen Gruß von mir aus und frag ihn, ob er mich nicht in seinen heimatlichen Gefilden an irgendeinen Bekannten vermitteln könnte, der vielleicht eine gut bezahlte Stelle weiß. Ich werde dreifaches Glück brauchen, um all diese Strafzettel bezahlen zu können.

Im Moment bin ich auf der Suche nach einer jungen Frau, die sich damit anfreunden könnte, mit mir eine Wohnung zu teilen. Die Zukunftsaussichten sind, mal abgesehen von Geld, tatsächlich verlockend. Nur das Papier wird gerade knapp. Deshalb stecke ich es jetzt lieber in einen Umschlag und sage nur noch: mach’s gut …

Hunter

AN HENRY EICHELBURGER:

Eichelburger studiert im dritten Jahr Biologie und Zoologie an der Tulane University. Thompson knüpft mit seinem Brief an einen Abend an, den er mit »Ike« im French Quarter verbracht hat und von dem er nun hofft, im Nachhinein profitieren zu können. An jenem Abend prahlte Eichelburger mit Frauen, die er während eines Sommers in New York aufgerissen hatte.

9. Januar 1958

110 Morningside Drive, Apt. 53

New York, New York

Lieber Ike,

ich bin mir sicher, dass Dich dieser Brief in bester gesundheitlicher und finanzieller Verfassung erreicht und Du kurz davor bist, Deans Liste zu erklimmen. Anders kann ich es mir bei Dir kaum vorstellen, Du weißt schon ...

Im Ernst, bestimmt hast Du längst die Adresse des Absenders bemerkt und erleichtert aufgeatmet, da ich jetzt nicht mehr einfach so bei Dir zuhause vorbeikommen kann … Also, kommen wir gleich zur Sache.

Es handelt sich um eine ziemlich biologische Angelegenheit, und da solltest Du Dich ja bestens auskennen. Kurz gesagt: Ich bin für unbestimmte Zeit in New York und sexuell so ausgehungert, dass es zum Verzweifeln ist. Wenn ich mich recht entsinne, hast Du den ganzen Sommer hier in der Stadt verbracht, und zwar in einer Wohnung mit lauter umtriebigen jungen Frauen. Wo ist diese Wohnung? Ich muss es wissen. Und ich würde ebenso gerne wissen – so schnell, wie Du eben einen Brief aufgeben kannst: sämtliche Namen, Treffpunkte, Adressen usw., die einem jungen Lebemann weiterhelfen könnten, der auf dieser überbevölkerten Insel umherstreift. Komm schon, ich weiß genau, dass Du haufenweise ungenierte Frauen kennst, die ich auf meine eigene ganz spezielle Weise trösten könnte. Kein Mensch aus Fleisch und Blut steht hier den Sommer ohne ein Minimum an Körperkontakten durch. Und ja, ich meine es genau so, wie ich es sage: Solltest Du außerdem irgendwelche Trinker, Penner, Nutten etc. kennen – lass mich auf keinen Fall hängen. Ich bin hier angetreten, um mir meinen Weg zu Glück und Ruhm zu erschreiben – und dafür brauche ich vielfältiges Anschauungsmaterial. Ich erwarte Deine Kontakte mit der nächsten Post.

Der andere Grund, warum ich überhaupt hier bin, hat damit zu tun, dass ich nicht das Geld habe, um es woanders zu versuchen. Erst hatte ich genug, aber jetzt ist es futsch. Ich bin gezwungen zu arbeiten.

Den letzten Monat habe ich zusammen mit drei Jurastudenten verbracht, einer von ihnen war mit mir in Eglin. Ich wohne jetzt in der Nähe der Columbia, habe aber vor, in den nächsten zwei Wochen weiterzuziehen. Wenn Du einen guten Tipp hast, wo sich’s wohnen lässt, gib mir Bescheid. Am liebsten wär mir natürlich das Village, aber ich würde auch woanders hingehen, Hauptsache billig: die Idee ist, ein bisschen Geld auf die Seite zu legen, damit ich nächsten Herbst an die Uni kann … nicht, dass die Uni das höchste der Gefühle wäre, aber es gibt ein paar Dinge, die ich mir eher in einem akademischen Umfeld als in einer alkoholgetränkten Bohème-Szenerie aneigne. Wie es umgekehrt Dinge gibt, die ich niemals an einer Schule, sondern nur in einer Bohème-Szenerie lernen würde. Ich schätze, das weißt Du inzwischen.

Ab sofort bin ich also ohne Job. Innerhalb einer Woche muss ich was gefunden haben. Ich habe da beim Time Magazin etwas am Laufen, aber das ist noch völlig unsicher, und es könnte gut sein, dass ich Flugzeuge beladen muss oder etwas in der Richtung; wenn es nur Geld bringt. Wenn Du eine Idee hast, wo ich Arbeit bekommen könnte, gib mir schnellstens Bescheid. […]

Hunter

AN SALLY WILLIAMS:

Sally Williams zog von Eglin, wo sie mit ihrem Vater, einem Oberst lebte, nach Mobile, Alabama, um dort als Kosmeti kerin zu arbeiten. Thompson feiert hier das Leben als »Slacker«.

17. Januar 1958

110 Morningside Drive, Apt. 53

New York, New York

Mein verrücktes Huhn,

genau, ich bin’s wieder: wahrscheinlich sehr zu Deiner Überraschung, sofern Du zu den Menschen gehörst, denen ich zuletzt geschrieben habe. Denn offenbar erwecke ich nicht den Eindruck, einer von der Sorte zu sein, von dem man jemals wieder etwas hört … außer natürlich, wenn er zufällig Geld braucht.

Wie auch immer: Mir war gar nicht klar, dass ich so viele merkwürdige, zynische Bekannte habe. Jeder will mich zu einer Religion bekehren, mir Sympathie entgegenbringen, Hoffnung spenden, Geduld aufbringen, jede Art von idiotisch-priesterlicher Fürsorge, damit ich für die finsteren Zeiten der Arbeitslosigkeit gerüstet sei.

Arbeitslos, hol’s der Teufel: Ich finde es großartig. Es gefällt mir, den Tag zu verschlafen und nichts zu tun zu haben, außer zu lesen, zu schreiben und ins Bett zu gehen, wann immer mir danach ist. Es gefällt mir, morgens aufzuwachen und mich auf der Stelle wieder hinzulegen, wenn das Wetter mies ist. Kurzum, ich bin in einer Situation, die kaum besser sein könnte: allerdings unter der Voraussetzung, genug Geld für Essen und Miete zu haben.

Hab ich aber nicht … und deshalb muss ich arbeiten: Aber was soll’s? Soll ich heulen und um Vergebung bitten? Soll ich mich zu Tode schämen und meine Seele unendlichen Qualen aussetzen, die nur durch das Mitleid der halben Welt gelindert werden können? Nein, das wäre das Letzte. Ich bin es leid, Briefe zu kriegen, in denen mir gesagt wird: »Kopf hoch«, ich solle »mich aufrichten«, »nicht den Mut verlieren«, »beten und tugendhaft sein« und Bücher von Horatio Alger lesen. Es gefällt mir, arbeitslos zu sein. Ich bin faul. Es gibt haufenweise Jobs, aber ich habe verdammt noch mal keine Lust darauf. Es ist ganz einfach: Du arbeitest in Fort Walton, weil du ein guter Sportjournalist bist … und du hängst in New York herum, weil du kein so guter Sportjournalist bist. Alles ist relativ … und hier kommt meine Ode:

»Ah, lebt dort ein Mann, seine Seele geplagt, der niemals zu sich selbst gesagt, als er wohlig in seinem Kuschelbett lag:

Zur Hölle die Miete … ich trink jeden Tag!«

Lass uns die Gläser erheben auf die animalischen Freuden, auf Eskapismus, Regen auf dem Dach und Instantkaffee, auf die Arbeitslosenversicherung und auf Bibliotheks­ausweise, auf Absinth und großherzige Vermieter, auf Musik und warme Körper und Verhütungsmittel … und auf das »gute Leben«, was immer es sei und wo immer es sich zufällig findet.

Lass uns bis auf die Knöchel ausziehen und alle Sinnenfreuden auskosten: Lass uns über die Welt lachen, wie sie sich durch Atompilzwolkenbrillen spiegelt … und ich gehe davon aus, dass auch wir lieber die Miete zahlen: Zwangsräumung ist, gleich nach Hunger, der schlimmste Begriff des Wörterbuchs.

Hier hast Du es also: das Bekenntnis eines Slackers zu den Vergnügungen des Daseins. Ich sollte es vierzig Mal abtippen und es an alle schicken, die mir ihr Beileid aussprechen, beiliegend das Motto des Monats: »Jeder zehnte Cent zur Rettung von Hunter.«

Ich werde Dich wissen lassen, wenn ich im letz­ten Sta­dium der Erniedrigung angelangt bin … Arbeit: dürfte in naher Zukunft unausweichlich sein, aber ich werde mein Bestes tun, einen Job zu finden, der leicht von der Hand geht. Dann wär’s auch an der Zeit für Dich, mich besuchen zu kommen. Bis zum Sommer dürfte ich hier sein. Und auch Dir würde ein bisschen Erholung gut tun.

Lass von Dir hören und schreib mir, wann Du kommst. Bis dahin …

… auf ein Neues:

Hunter

AN VIRGINIA THOMPSON:

Es ist womöglich Thompsons entscheidende Erfahrung auf seinem Weg in den Journalismus, als ihn Time als Büroboten anheuert. Auch wenn er nur fünfzig Dollar pro Woche verdient, macht er die unbezahlbare Erfahrung, für das größte amerikanische Wochenmagazin arbeiten zu dürfen.

23. Januar 1958

110 Morningside Drive, Apt. 53

New York, New York

Liebe Mom,

nachdem Du in Deinem letzten Brief geschimpft hast, dass ich nichts von mir hören lassen würde, kann ich nur mutmaßen, dass meine letzte Sendung auf dem Postweg verloren gegangen ist oder dass ich vergessen haben muss, eine Briefmarke draufzukleben. Genau heute vor einer Woche habe ich Dir einen ausführlichen Brief geschrieben und Dich auf den neuesten Stand gebracht, Dir in allen Einzelheiten mein Alltagsleben geschildert und sämtliche offenen Fragen beantwortet, die mir eingefallen sind.

Zu dem Zeitpunkt lagen die Dinge noch in der Schwebe: Die finanzielle Lage war absolut düster, und es sah so aus, als hätte sich jeder Hoffnungsschimmer über den Winter Richtung Süden verzogen. Es war nicht gerade lustig, Hunger zu haben und irgendwie durchkommen zu müssen.

Ah, aber heute ist es anders: Sogar die Sonne ist rausgekommen, die Luft ist warm, und das Pendel hat doch noch in meine Richtung ausgeschlagen. Du solltest wissen, dass ich jetzt einen Job habe: mit Vertrag und allem, was dazugehört. Am 1. Februar fange ich an, was völlig in Ordnung ist. Ich will’s Dir gerne erklären.

Damit Du verstehst, welchen Triumph ich da errungen habe, musst Du Dir klarmachen, wie es hier zugeht:

Nach New Yorker Standards bin ich komplett unerfahren: Nach den Vorgaben des Zeitschriftenverbands zählt alles mit einer Auflage von unter Fünfzigtausend wie eine Schülerzeitung. Mir steht also das Wort »Anfänger« auf die Stirn geschrieben.

Und für »Anfänger« gibt es im Journalismus genau zwei Glücksfälle: die Stelle eines Büroboten bei der New York Times sowie die Stelle eines Büroboten beim Time Magazin. Das Gehalt ist in beiden Fällen lächerlich gering, und die Konkurrenz nahezu unglaublich. Stell Dir vor, ich musste drei einstündige Bewerbungsgespräche durchstehen; musste meine Lebensgeschichte in allen Einzelheiten erzählen und mich einer umfangreichen ärztlichen Untersuchung unterziehen, um die Stelle zu bekommen – was der Fall ist … Bürobote bei der Time Inc. Doch alles wäre vergeblich gewesen, wenn nicht genau im richtigen Moment einer der bisherigen Boten seine Kündigung bekanntgegeben hätte. Jedenfalls habe ich den Job jetzt: 51 Dollar die Woche. Mittwoch und Donnerstag halbtags. Freitag und Samstag Vollzeit (8 Std.), am Sonntag zwölf Stunden. Montag und Dienstag frei.

Das Büro, in dem ich arbeiten werde, befindet sich im Rockefeller Center, eine der ersten Adressen überhaupt. So habe ich den sprichwörtlichen Fuß in der Tür, und es ist eine der besten Türen in dieser Branche. Ob ich oder ob ich nicht aufsteige, bleibt natürlich abzuwarten. Die Konkurrenz, wie ich schon sagte, ist hart. Drei Büroboten bin ich bislang begegnet: Einer hat in Harvard graduiert, der zweite in Yale, der dritte spricht neun Sprachen. Einer von den Ehemaligen hat neben der Arbeit bei Time vierzehn Theaterstücke geschrieben, und er ist nur gegangen, weil er mit einer seiner Produktionen am Broadway gelandet ist. […] Ich kenne die offizielle Liste der Büro­boten hier, die später Karriere gemacht haben, kenne aber nicht die Liste derer, aus denen Suffköpfe geworden sind, und ich stelle mir vor, dass auch sie ziemlich lang sein muss.

Time bezahlt auch die Hälfte der Gebühren (bis zu dreihundert Dollar im Jahr) für die Hochschulen vor Ort – wahr­scheinlich ein Zugeständnis aus Schuldgefühlen. Fünfzig Dollar die Woche, das ist natürlich nicht viel, noch dazu in New York.

Wenn es noch nicht zu spät ist, werde ich unbedingt versuchen, zum nächsten Semester auf die Columbia zu kommen. Noch weiß ich nicht, ob Time die Hälfte der Gebühr am Anfang oder am Ende des Semesters bezahlt. Allerdings könnte es so oder so gut sein, dass mir das Geld ausgeht. Und hier wieder die berühmte Frage: Wie flüssig ist Memo3 in dieser Hinsicht? Wenn Time nach dem Prinzip der Rückerstattung verfährt, werde ich nicht genug haben, um mich in der Columbia einschreiben zu können, ganz gleich in welchem Fach. Es wäre dann höchstens noch möglich, dass ich in einem Schreibkurs in einem der anderen Studierpaläste hier in der Stadt unterkomme. Mehr dazu beim nächsten Mal.

 

Letzte Woche war die Armut geradezu erdrückend. Seit ungefähr zehn Tagen habe ich überhaupt kein Geld mehr, wirklich harte Zeiten. Ich werde es schon irgendwie schaffen – mit einigen schmerzhaften Wunden, die meine jugendlich optimistische Seele davonträgt. Wenigstens weiß ich jetzt, warum es Leute gibt, die bei A&P einkaufen.

Allein schon über meine Armut zu sprechen deprimiert mich immer ein wenig. Sollte es noch irgendwelche weiteren Gelddinge zu regeln geben, werde ich mich bei Dir zu einem späteren Zeitpunkt melden. Bis dahin lassen wir es damit bewenden.

Richte Davison Glückwünsche von mir zu seiner Nominierung für die nationale Auswahl aus. Schön zu wissen, dass er und sein Kumpel John bis zum Schluss mit dabei sind. Hat sich Dave schon endgültig für ein College entschieden? Wie hat ihm der Besuch bei Vandy gefallen? Und gibt es Neuigkeiten zum Geschäft mit Grantland Rice? […]

Jetzt, wo ich eine einträgliche Beschäftigung gefunden habe, muss ich mich auch darum kümmern, eine passende Bleibe zu finden. Ich werde heute oder morgen nach Green­wich Village fahren und mich über die Angebote informieren: vermutlich ist die Auswahl bei meinem Gehalt nicht allzu groß … Wohnungen mit fließend kaltem Wasser und so etwas. Aber das lässt sich alles hintanstellen, bis etwas Besseres auftaucht: Bis dahin werde ich entweder bleiben, wo ich bin und mir in Ruhe etwas im Village suchen, das mir gefällt, oder ich komme hier in der Umgebung unter.

Übrigens war es kein bisschen mein Plan, mich »zur Ruhe zu setzen«, als ich von Jersey Shore weggezogen bin. Ich hatte beschlossen, nach St. Louis zu fahren und wollte in Louisville bloß einen Zwischenstopp einlegen, um Urlaub zu machen – nicht mehr. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass es, zumindest bislang, ein sehr viel klügerer Schachzug war, nach New York zu gehen. Wenn mein Job begonnen hat, werde ich so »unabhängig« sein, wie man es nur sein kann: Und wenn ich mit fünfzig Dollar die Woche New York überstehe, weiß ich, dass ich überall durchkomme.

Damit soll es gut sein für heute. Und bitte, keine Klagen mehr, ich würde nicht schreiben. Das hier ist mein längster Brief seit vielen Monaten.

Love,

Hunter