Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

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AN LARRY CALLEN

Thompson schreibt Callen nach Island und berichtet von seinem unberechenbaren Auftreten bei den sonntäglichen Time-Life-Partys des Verlegers Henry Luce. Außerdem erklärt er, warum Briefeschreiben für ihn eine reinigende Wirkung hat.

14. Juli 1958

57 Perry Street

New York City

Lieber Larry,

eine weitere Seelenreinigung steht unmittelbar bevor, also heb Dir das hier am besten für eine der langen sonnigen arktischen Nächte auf – es ist nicht gerade die ideale Lektüre für tagsüber, wenn Du Besseres zu tun haben wirst.

Die Überschrift hier könnte zum Beispiel heißen: »Die mitternächtlichen Grenzüberschreitungen von HST – Studie über Alkoholismus und Kleptomanie.«

Du wirst es nicht glauben – aber Henry Luce macht jeden Sonntagabend eine Bar für seine Mitarbeiter, und es gibt Freigetränke. Kein Wunder also, wenn einer von Luces Mitarbeitern jeden Sonntag ziemlich finster dreinschaut, vor sich hin brabbelt und sturzbetrunken ist. Dieser Mitarbeiter bin ich. Es sind noch andere dabei, die aber im Vergleich zu mir viel zurückhaltender sind. Man könnte nun vermuten, dass Luces Mitarbeiter nur Gutes von ihm denken und niemals darauf kommen würden, irgendwelche Dummheiten mit seinem Eigentum anzustellen. Und – was glaubst Du?

Letzte Nacht bin ich gegen ein Uhr aus dem Gebäude gestolpert, geriet in den Sog der riesigen Bodenlüftung und begann zu taumeln. Zu den Trophäen, die ich mit mir führte, gehörten ein Wörterbuch der Synonyme, fünf türkische Sandwiches, ein Füller mit Federhalter, ein großer Aschenbecher, ein Exemplar von Winesburg, Ohio sowie ein Exemplar des Viking Portable Sherwood Anderson. Das alles befand sich in einer monströsen Box, die ich auf der Schulter trug – und stammte aus Luces Privatbesitz. Wäre ich geschnappt worden, hätte ich zweifelsohne meine Stelle verloren, und meine Mitarbeiterkarte wäre mit dem Hinweis »Wegen Diebstahls gekündigt« markiert worden. Nicht gerade eine Referenz für zukünftige Bewerbungen.

Momentan verstehe ich aber gar nicht, warum ich mich wegen all dem so schlecht fühle. Es war nur ein weiterer in einer langen Serie von »Thompsonismen«, die sich seit meinem zweiten oder dritten Lebensjahr entlang einer dunklen Linie ununterbrochen fortpflanzen. Wie das alte Sprichwort sagt: »Wer zum Schwert greift, wird mit dem Schwert umkommen.« Und so werde ich den seltsamen Verdacht nicht los, dass mir ein symbolischer Tod bevorsteht. Möglicherweise handelt es sich dabei nur um eines dieser merkwürdigen psychologischen Phänomene, die mit der Natur von Schuldgefühlen zusammenhängen – ich habe mit Jesus allerdings noch nicht genug Zeit verbracht, um es sicher sagen zu können. Vielleicht komme ich mit der Aufarbeitung meiner Schuldgefühle weiter, wenn ich anfange, sie zu verstehen; vielleicht.

Es war aber ja nicht nur dieser belanglose Klau; die ganze Nacht war beängstigend und auch schon wieder typisch für mich, und kam schon lange nicht mehr vor. Um fünf Uhr nachmittags fing ich an zu trinken, und es endete gegen fünf Uhr morgens, als ich auf meiner Couch zusammensackte. In diesen zwölf Stunden habe ich es fertiggebracht, mit mehreren meiner Kollegen in heftige, von Alkohol befeuerte Streitereien zu geraten; mich vor dem Mädchen, mit dem ich verabredet war, zum Idioten zu machen; ungefähr sechs Dollar für Taxifahrten auszugeben; eine ganze Flasche Scotch zu trinken; ungefähr fünf Mal in den Brunnen im Plaza zu fallen, bis mich die Polizei hinausschaffte; um ein Haar im Knast zu landen; mit den Besetzern eines ganzen Gebäudes an der Ecke Fifth Avenue/Fünfundfünfzigste auf­zu­wachen; im selben Gebäude sämtliche Mädchen einer Woh­nung, die ich dort kenne, zu terrorisieren; meine beiden Kumpanen, die mich auf dieser Odyssee begleiteten, zu brüskieren; und schließlich einen ganzen Tag zum Schreiben zu verlieren, um meinen Rausch auszuschlafen.

Geht man davon aus, dass der Verlauf dieser Nacht von bewussten Entscheidungen bestimmt war, kommt dabei eine Lebenshaltung zum Vorschein, die von einem Totalausfall von Struktur und Disziplin, von einer alles durchdringenden Selbstbezogenheit, von absoluter Verantwortungslosigkeit und einem vollständigen Mangel an Selbstkontrolle nicht nur geprägt, sondern geradezu verkörpert wird. Und was den Diebstahl unter dem Einfluss von Alkohol betrifft und was es damit auf sich hat, daran mag ich nicht einmal denken; sonst würde ich zu dem Schluss kommen, ich hätte mich selbst bloßgestellt.

Der Punkt dabei ist weniger, dass ich diese Dinge tue, als vielmehr: dass ich ja verstehe, was ich da tue, und es beim nächsten Mal trotzdem wieder so mache. So sicher es ist, dass diese Dinge passiert sind, so sicher ist es, dass sie sich verflucht nochmal wiederholen werden – vermutlich schon nächs­ten Sonntag.

Ich habe mich leer geschrieben. Es scheint sinnlos zu sein, sich überhaupt darüber auszulassen … oder vielleicht hat es ja doch einen Sinn: Etwas aufzuschreiben bedeutet für mich, es besser zu verstehen und mit größerer Klarheit zu überbli­cken. Ich schätze, das ist überhaupt einer der wahren Gründe fürs Schreiben: Dinge (das Leben) zu zeigen, wie sie wirklich sind, und so aus einem Chaos heraus Wahrheit freizulegen. Wo ich jetzt einen Moment darüber nachdenke – die bloße Tatsache, dass ich diesen Brief schreibe und einen Drang danach verspüre, zeigt die Bedeutung, die es hat, Wörter auf einem Stück Papier aneinanderzureihen. Wörter sind nur Werkzeuge, doch wenn man sie richtig verwendet, ist es möglich, dem eigenen Leben eine Ordnung zu geben – wenn man sich nichts vormacht und nicht die falschen benutzt. Und ich glaube, das ist der Grund, warum ich so viele Briefe schreibe: weil es der einzige Weg für mich ist – abgesehen davon, arbeiten zu gehen und literarische Texte zu schreiben –, klar auf das Leben zu blicken. Andernfalls bin ich so sehr mittendrin im Geschehen, dass ich nicht mehr merke, wie der Rest der Welt zu einem Bühnenbild für mein Leben verkommt. Das soll fürs Erste genügen. Ich erwarte nicht von Dir, dass Du auf all diese Fragen eine Antwort weißt; schreib mir einfach bei Gelegenheit und sag mir, wie die Dinge bei Dir auf dem Eisklotz [gemeint Island] vorankommen. Bis ich von Dir höre oder wir uns sehen, verbleibe ich …

paradoxerweise,

Hunter

AN SUSAN HASELDEN:

Haselden hat von Boston aus an Thompson geschrieben und sich von den Werken von Jack Kerouac und anderen Autoren der Beat Generation begeistert gezeigt. Thompson mag Unterwegs, findet aber die anderen Bücher Kerouacs schwach. Vor allem aber verachtet er Leute, die einen auf Beatnik machen – ein Virus, von dem er fürchtet, auch Haselden könne davon befallen sein.

12. November 1958

57 Perry Street

New York City

Liebe Susan,

Du scheinst total abzudrehen, und ich weiß nicht, ob ich das zum Lachen oder zum Weinen finden soll. Ich glaube, es wäre am Besten, Du würdest zurück nach Louisville gehen und irgendeinen anständigen Typen heiraten, der mit beiden Beinen im Leben steht. Und – halte Dich fern von diesem gottverdammten San Francisco!

Und sicher, ich habe Be-Bop, Bars und weißes Pulver gelesen, und auch all den anderen Mist. Der Typ ist ein Idiot, ein esoterischer Knallkopf und intellektueller Dünnbrettbohrer. Das Dharma-Ding war nicht ganz so schlecht wie Be-Bop, Bars und weißes Pulver, beide sind ja nichts als jämmerliche Aufgüsse von Unterwegs – und, da fängt es schon an, selbst das ist nicht mal ein Roman. Wie es bei den Siamesen heißt: »Im leeren Kopf macht selbst eine Erbse fürchterlichen Krach.« So viel zu Mr K – der aus allem fein raus ist. Großartig für ihn … und all seine Lemminge. Wenn nicht bald jemand diesen Verrückten kalt macht, werden wir alle noch das Label »Die Generation des Dritten Sex« aufgedrückt bekommen.

Ich scheine gereizt zu sein … und das verbietet sich … denn gereizt zu sein heißt spießig zu sein … und spießig sein heißt einen Knall haben … und auch das verbietet sich. Es ist schwer herauszufinden, was man denn nun eigentlich tun soll … welches Label man sich anheften soll … und wir alle sind dazu verdammt, gelabelt zu sein … denn ohne Gemeinschaft gibt es keine Identität … und Identität ist alles … oder nicht?

Du kannst mit Deinen Freunden gerne bei mir absteigen, wenn ihr zu Thanksgiving runterkommt. Ich hatte schon seit einer Weile keine richtige Orgie mehr. Es wird großartig werden. Ruf auf jeden Fall an. WA9-XXXX. Jederzeit. Ich arbeite nur zweieinhalb Tage die Woche, und ich bin von ARMUT GEPLAGT. Bring Essen mit.

Ich will noch nach Boston fahren, ehe ich das Land verlasse, und das wird bald sein, und ich werde selbstverständlich bei Dir unterkommen müssen, aber ich ziehe mir einen Keuschheitsgürtel an und verspreche Dir, keinen Ärger zu machen. Ich weiß noch nicht, wann ich das nötige Geld beisammen habe. Wahrscheinlich nie – dann werde ich eben ohne Geld losziehen. Ah, gut, ich bringe meinen Rucksack mit und meine Schnur mit den Juju-Perlen … und ein paar Oden von Han Shan. Das wird Dich glücklich machen. […]

Das Leben hier ist ziemlich schräg, und aktuell versuche ich mir einen Job in Europa zu ergattern. Das ist nicht so einfach, doch ich werde es auf jeden Fall tun … und schlimms­tenfalls bei der Botschaft um Gnade winseln, wenn ich keine Arbeit finde.

Lass von Dir hören.

Und hüte Dich vor San Francisco.

Misstrauisch: Hunter

AN KRAIG JUENGER:

Bei Juengers Mutter ist Krebs diagnostiziert worden; als sein eigener Vater starb, war Thomp­son vierzehn.

22. November 1958

Time & Life Building

 

Rockefeller Center

New York

Lieber Kraig,

Dein Brief hat mich erschüttert, und es kommt mir ein bisschen albern vor, wenn ich sage, dass es mir leid tut, die Sache mit Deiner Mutter zu hören; denn solche Floskeln wirken unangemessen und gehören höchstens auf »Beileidskarten«. Aber Du weißt, dass es mir tatsächlich so schrecklich leid tut wie nur sonst was, und ich hoffe, dass es nicht so ernst ist, wie Du offenbar befürchtest. Es ist nicht zu fassen, dass diese Dinge immer denen passieren, die ich besonders mag – ich will es einfach nicht begreifen, warum es nicht die Nichtsnutze als erste erwischt. Hemingway hat wohl recht: »Die Besten sterben genauso wie die Liebenswürdigsten und die Mutigsten. Wenn du zu keinen von diesen gehörst, kannst du gewiss sein, dass auch du sterben wirst – mit dem Unterschied, dass keine Eile geboten ist.«

Lass mich unbedingt wissen, wie es mit ihr weitergeht, und Du kannst Dich darauf verlassen, dass ich Verständnis dafür habe. Mein Vater ist nicht mehr unter uns, wie Du weißt. Ich möchte nicht enttäuscht klingen, nachdem Du jetzt während der Ferien wohl doch nicht nach New York kommen wirst, aber Du weißt wohl, dass ich eben auch nicht wirklich glücklich darüber bin. So oder so – entscheide nach dem, wie es sich für Dich am besten anfühlt, und lass es mich wissen.

Hier ist gerade nicht viel los. Ich habe Dir in dem Brief von letzter Woche alles Erzählenswerte geschrieben. Wenn Du ein wenig zur Ruhe gekommen bist, schreib mir. Und lass nicht die Phantasie mit Dir durchgehen. Schon vielen wurde ein Tumor mit einem operativen Eingriff entfernt, ohne dass dieser bösartig gewesen wäre. Also, versuche ruhig zu bleiben. Bis bald. Und ja: Sei nicht voreilig mit Deinen Schlussfolgerungen.

Love, Hunter

AN ANN FRICK:

Während seiner Schichten bei Time feilt Thomp­son an seinem literarischen Stil, indem er Der große Gatsby und In einem andern Land vollständig abtippt und dabei akribisch den Bau der Sätze studiert. Fasziniert davon, dass sich Thompson so intensiv mit amerikanischer Literatur beschäftigt, schrieb ihm Frick einen langen Brief, in dem sie ihn um Empfehlungen für ihre Literaturliste bat. Sie ist diejenige unter seinen Freundinnen, die Hunter einmal heiraten will.

19. Dezember 1958

Time & Life Building

Rockefeller Center

New York

Liebe Ann,

das hier ist eine geliehene Schreibmaschine, und vermutlich mache ich vier Millionen Tippfehler, also nimm’s mir nicht übel und verlier nicht die Geduld.

Um bei Deinen Fragen zu bleiben:

… zur letzten Woche: Schöne neue Welt (Huxley), Der große Gatsby (Fitzgerald), In einem andern Land (Hemingway), The Organization Man (Whyte), Alle meine Träume (Jaffe) – letzterer fällt etwas aus der Reihe, doch der wird jedes Mädchen interessieren, das vorhat, nach New York zu kommen und dort zu arbeiten. Und ja, die Fortsetzung meiner Liste folgt keiner Systematik; die erwähnten Bücher sollte niemand verpassen, so sehe ich das, aber ich könnte noch bestimmt hundert weitere nennen, was nicht besonders ergiebig wäre. Es ist jedenfalls phantastisch, dass Du ein bisschen angefixt bist, und ich werde das für zukünftige Briefe im Hinterkopf behalten. Vielleicht ist es uns ja schon gelungen, Deinen Geist aus dem Sumpf zu ziehen!

Mein Talent zum Tanzen – wie Du es ausgedrückt hast – hat sich in den letzten Jahren nicht weiterentwickelt, einfach weil ich nicht einmal Gelegenheit hatte, auch nur daran zu denken, geschweige denn, es zu tun. Meine vier Jahre in der Tanzschule waren ungefähr so nützlich wie meine zwei Jahre Klavierunterricht, und ich kann gar nicht verstehen, wie eine dermaßen vergeudete Kindheit so viel Spaß machen konnte. Wenn Du nun das Gefühl hast, ich sollte eines von beiden angehen, lade ich Dich – in Vorfreude – dazu ein, mich dabei zu unterstützen. Ich kann Dir versichern, dass ich weder dem Klavierspiel noch der Tanzfläche abgeneigt bin. Ich mache mir nichts daraus, bin aber auch nicht dagegen: eine großartige Haltung für einen Mann in meiner Situation, wie ich finde.

Hier nun die Punkte auf meiner »Sorgenliste«:

1. Geld

2. Geld

3. Geld

danach flacht es etwas ab …

4. die Sorge, dass ich nicht so stark bin, wie ich mir einbilde und mich in Folge dessen auf die idiotische Realität einlasse und mir einrede, meine Schwäche sei ein Zeichen von »Reife«.

5. die Sorge, dass ich niemals mehr jemandem über den Weg laufen werde, bei dem es so »stimmt«, dass ich mich verlieben könnte, oder vielleicht sollte ich besser sagen: »um zusammen glücklich zu sein«.

6. die Sorge, dass ich in einem Land mit halbgebildeten Flagellanten (schlag diesen Begriff nach, es wird Dir guttun) lebe, die eine »freie, gleiche, standardisierte, selbstzufriedene und im Zerfall begriffene Gesellschaft« geschaffen haben und alles dafür tun wollen, dass sich nichts daran ändert; dies steht in krassem Widerspruch zu dem, wie ich leben will, ohne dabei meine Selbstachtung zu verlieren.

7. meine weiteren Sorgen sind unbedeutend und kommen und gehen von Tag zu Tag. Was sind Deine »Sorgen«?

[...] Lass Dir abschließend gesagt sein, dass Du »nicht gewöhnlich« und sicherlich nicht »glatt« bist.

Love, Hunter

1959

»Ich lebte dort seit etwa einem Jahr, als der Keller allmählich absackte. Die Regengüsse des Frühlings und der schmelzende Schnee drückten zu sehr gegen die dreckigen steinigen Wände, die wie fauliges Fluss­ufer bei Flut dahinbröckelten; langsam, aber sicher stürzten sie in den sumpfigen Morast, der mit jedem Tag vier, fünf Zentimeter tiefer wurde. Der Vermieter war zu träge, um den Schaden selbst zu beheben und lehnte es fast drei Wochen lang ab, tätig zu werden. Erst als der Schlamm den Heißwasserboiler unter sich zu begraben drohte, fand selbst der alte Dreckskerl, dass es höchste Zeit ist zu handeln.«

Hunter S. Thompson

The Almost Working Artist

(unveröffentlichte Short Story)

AN VIRGINIA THOMPSON:

Nachdem Time ihn wegen Gehorsamsverweigerung gefeuert hat, bekommt Thompson endlich den Job, den er sich immer gewünscht hat. Er wird Reporter beim Middletown Daily Record in Upstate New York. Da er unbedingt mobil sein will, schreibt er seiner Mutter und versucht sie zu überreden, ihm Geld zu leihen – für einen schwarzen Jaguar von 1951, der 550 Dollar kosten soll.

31. Januar 1959

Middletown, New York

Liebe Mom,

tut mir leid, dass ich nicht geschrieben habe, aber ich hatte einen triftigen Grund, den Du sicher verstehen wirst, wenn Du diesen Brief gelesen hast. Ich habe es glaub ich schon kurz in meinem Telegramm erklärt, hier kommt nun die ganze Geschichte.

Ich war seit einigen Tagen wieder zuhause, machte mir Gedanken über meine Jobsituation, redete mit allen möglichen Leuten darüber, und dann rief mich jemand vom Arbeitsamt an und meinte, er habe für mich eine interessante Stelle bei einer Zeitung in Middletown, New York. Ich zögerte zuerst, hatte aber gerade so wenig Geld, dass ich beschloss, mir die Sache genau anzusehen.

Offen gesagt stellte sich heraus, dass es eine der besten Angebote war, die jemand in meinem Alter im Journalismus zur Zeit kriegen kann – oder vielleicht sollte ich sagen: in dem Alter, das im Bewerbungsbogen vorgeschrieben ist. Der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit – zu den erschreckenden praktischen Erwägungen, die sich daraus er­geben, komme ich noch – liegt in meiner »Vorgehensweise«; oder anders gesagt: wie ich versucht habe, an die Stelle heranzukommen. Ich bewarb mich also vor dem Hintergrund, dass ich 1) einen Universitätsabschluss habe, 2) 23 Jahre alt bin und 3) über umfangreiche Erfahrungen als Reporter verfüge. Natürlich ist nichts davon wahr, und ich machte mich darauf gefasst, jeden Moment »enttarnt« zu werden; dann wäre ich nur noch irgendein Dahergelaufener gewesen, der unberechenbar und unerwünscht ist. Und das ist der Grund, warum ich nicht geschrieben habe. Dir davon zu erzählen, was für einen großartigen Job ich jetzt habe, um kurz darauf schreiben zu müssen, dass ich gefeuert wurde, das kam definitiv nicht in Frage. Ich habe fast niemandem davon erzählt. Ich habe es nicht einmal zugelassen, mich selbst auch nur das kleinste bisschen darüber zu freuen, aus Angst vor dem plötzlichen Absturz, der sich jederzeit würde ergeben können. So war die ganze Sache also ein monströses Pokerspiel, das irgendwie funktioniert hat. Hier die Kurzfassung:

Als ich von meinem ersten Interview zurückkam, ging ich runter, um mich mit Lou Miller vom World-Telegram zu unterhalten. Du kennst den Brief, den ich daraufhin geschrieben habe. Er enthält die letzten optimistischen Gedanken und Worte, die ich von mir gegeben habe, seit ich in Middletown angekommen war, um die zweiwöchige Probezeit zu beginnen. Na gut, am Donnerstag sagten sie mir dann, meine Arbeit sei »erstklassig«, und sie würden mich dabehalten wollen – allerdings unter der Voraussetzung, dass ich ein Auto hätte, und zwar besser heute als morgen.

Ehe ich darauf zurückkomme, lass mich Dir erklären, um was für ein Unternehmen es sich hier handelt. Middletown Record ist eine innovative Zeitung, die erst seit zweieinhalb Jahren existiert. Es ist die landesweit einzige Zeitung, die im Offsetverfahren gedruckt und bei der mit Fotosatz gearbeitet wird. Das Blatt boomt und wurde bereits in Time, Editor & Publisher und einer Menge anderer Branchenblätter porträtiert. Ein Einziger in der Nachrichtenredaktion ist über 35, die meisten sind zwischen 23 und 30. Das Verbreitungsgebiet umfasst drei Bezirke, die Zeitung verfügt über drei Büros. Die meisten der Reporter legen im Durchschnitt täglich etwa 120 Kilometer zurück, und alle sind gleichermaßen Autoren wie Fotografen. Ich habe ihnen na­türlich gesagt, dass auch ich ein erfahrener Fotograf bin, und wundersamerweise kam ich anderntags mit einem Foto an, das so gut war, um es auf die Seite eins zu schaffen (liegt bei). Ich werde mir eine eigene Kamera zulegen müssen, aber das soll uns jetzt nicht weiter aufhalten.

Jedenfalls sind die Leute, mit denen ich hier arbeite, alle jung, verdammt klug, kommen aus allen Ecken des Landes und sind allesamt am Durchstarten. Der Record ist eine der bes­ten kleinen Zeitungen des Landes; es ist eine der besten Chancen, die sich gerade bieten. Die gesamte Situation erscheint mir großartig, und auch wenn ich wegen meiner ge­tricksten Bewerbung ein wenig unentspannt bin, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, um hier wieder rauszufliegen. Denn nach Ablauf der Probezeit wird der Record wohl kaum noch meinen biographischen Hintergrund überprüfen.

So, wie die Dinge also gerade stehen, habe ich einen phantastischen Job, bekomme siebzig Dollar die Woche und sitze noch dazu in den Startlöchern für eine Stelle als Reporter bei World-Telegram. Meine Lage war ehrlich gesagt noch nie so gut, seit ich Sportredakteur beim Command Courier gewesen bin.

Und jetzt geht’s ans Eingemachte.

Wie gesagt brauche ich ein eigenes Auto, wenn ich die Stelle nicht innerhalb von zehn Tagen wieder los sein will. Normalerweise wäre das auch gar kein Problem. Ich könnte mir von der Bank einen Kredit geben lassen und mich nach einem guten zuverlässigen Wagen für um die 500 Dollar umschauen. Folgendes aber würde passieren, wenn ich zur Bank ginge: 1) einen Fragebogen ausfüllen – was würde ich bei der Frage angeben, wie alt ich bin? Sage ich, dass ich 21 bin, dann drück mir die Daumen – noch dazu in einer Kleinstadt wie Middletown –, dass nicht irgendeine Bemerkung über »diesen ungewöhnlich jungen Reporter« die Runde bis zum Management des Record macht. Das wäre das Ende des Lieds. Bleibe ich dagegen konsequent und gebe 23 an, setze ich mich dem Verdacht aus, »einen Kredit unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu erschleichen«, eine Anklage, die ich lieber nicht riskieren möchte. Die Bank wird sicher Dokumente zur Identifikation verlangen, und wenn nicht, wird dies an anderer Stelle passieren, und inzwischen habe ich gelernt, zwischen annehmbaren und unannehmbaren Risiken zu unterscheiden.

Hier kommt nun also, nachdem ich etwa vierzig Stunden immer wieder darüber nachgedacht habe, der Plan, den ich Dir vorschlagen möchte. Ich habe einen Wagen ausfindig gemacht, einen verdammt guten, und zwar für 550 Dollar. Eine Schrottkarre kann ich mir nicht leisten, da ich mir mit einem Wagen, den ich für die Arbeit brauche, keine ständigen Pannen erlauben kann. Ich würde mir 350 Dollar von Memo leihen – 300 zu den 50, die Du mir hoffentlich schon geschickt hast. Ich würde sie mir von ihr leihen wie von einer Bank – mit sechs Prozent Zinsen und rückzahlbar in einem Zeitraum von zwölf Monaten, also 30 Dollar im Monat. (Nein, richtig ist: 31 Dollar im Monat.)

 

Es wären nur 350 Dollar, die ich jetzt bräuchte, denn ich habe bereits mein Apartment für 200 Dollar vermietet, die ich nächst­e Woche bekommen werde. Dieses Geld wäre nutzlos, wenn ich nicht weitere 350 Dollar dazubekäme. Tatsächlich wären es sogar ein bisschen mehr als 350 Dollar, damit ich die erste Zahlung für die Versicherungspolice von Jack [Thompson] leisten kann. Eine Versicherung vor Ort scheidet aus, das kostet hier um die 270 Dollar, und das wäre mir definitiv zu viel. Das heißt wiederum, dass ich den Wagen bei euch anmelden muss, aber das ist kein Problem. Wenn er erst einmal angemeldet ist, warte ich ein wenig, und dann lass ich ihn auf New York umschreiben. Ich schick Dir einfach die Papiere, wenn ich den Wagen habe, und Du kannst mir die Bescheinigung schicken.

Ich bin mir in dieser Sache jetzt absolut sicher, und eher würde ich durchs Feuer gehen als diesen Job verlieren zu wollen. Sollte ich gezwungen sein, das Ganze bei der Bank zu machen, dann mach ich es eben, aber, was eine Absicherung des Jobs angeht, wäre das wie Russisch Roulette spielen. Verliere ich den Job wieder, nähme ich mir auch die Chance auf einen Startschuss beim World-Telegram, und dann könnte ich mich gleich arbeitslos melden. Mit 70 Dollar die Woche ist es kein Problem, Memo das Geld im Laufe eines Jahres zurückzuzahlen, und ich gebe Dir mein Ehrenwort, dass sie jeden Cent zurückbekommen wird. Ich habe genug gesehen, um mir sicher zu sein, dass ich diesen Job will, und ich werde ihn nicht verlieren, sobald ich einen Wagen besitze und mich eingelebt habe. Es ist einfach eine zu gute Chance, um sie aus Geldmangel sausen zu lassen.

Bitte antworte schnellstmöglich. [...] Ich habe keine Zeit zu verlieren, und für den Wagen bleibt mir nur eine Woche. Tausend Dank im Voraus, wenn Du das hinkriegst.

Love, H