Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

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1960

»Die feuchtheiße Luft ließ sämtliche Formen von Abartigkeiten prächtig gedeihen. In den engen Gassen der Altstadt von San Juan liefen scharenweise Päderasten herum, die auf Schritt und Tritt obszön kicherten. Die Bars und Strände und selbst die besten Wohnviertel quollen nur so über vor Vergewaltigern, Lesben, Straßenräubern und Menschen, die geistig und sexuell jenseits von Gut und Böse zu sein schienen. Sie lauerten irgendwo im Schatten, und es spülte sie wie Schaum durch die Straßen; ständig fingerten sie an etwas herum und schnappten um sich, wie irre gewordene Ladendiebe, denen in der tropischen Hitze das Hirn weggefault war.«

Hunter S. Thompson, The Rum Diary

AN SANDY CONKLIN:

Sandy Conklin promoviert 1959 am Goucher College in Maryland und zieht dann nach New York City, um dort als Sekretärin bei Nuclear Research Associates zu arbeiten, einer Organisation, die Atomtests überwacht. Ihre Mitbewohnerin Eleanor heiratet Eugene McGarr, der in seiner Zeit als Bürobote bei Time ein Kumpel von Thompson war. Anfangs sind Thompson und Conklin nur befreundet, doch sie verlieben sich bald ineinander.

26. Januar 1960

San Juan

Nun, meine kleine Prinzessin. Ich weiß wohl, was es heißt, »körperlich aufgewühlt« zu sein. Auch wenn es einem länger vorkommt, ist es jetzt noch nicht mal einen Monat her. Hoffen wir, dass die Zeit bis zum 11. März ein bisschen schneller vergeht.

Über Deinen Brief habe ich mich wahnsinnig gefreut; wenn ich auch sagen muss, dass mich Dein neu gefundener Mutterinstinkt einen Moment lang etwas beunruhigt hat. Trotzdem ist es natürlich gut zu wissen, dass Du ein sonniges Herz hast.

Das Leben hier ist großartig – sagen wir ab Montag, wenn ich mein Geld bekomme. Gerade sind die Vorratskammern einigermaßen leer. Heute aber haben sich die Ereignisse geradezu überschlagen, nachdem ich zwei journalistische Aufträge gleichzeitig an Land gezogen habe. Die nächsten Wochen wird also die Hölle los sein; obendrein kommt noch die Arbeit für Kramer, und in meinen wenigen freien Minuten werde ich mich darum kümmern müssen, meine kleine Strandhütte herzurichten. Ich krieg das schon alles hin, bis Du kommst.

Und so sieht mein Tag aus (im neuen Leben von HST): aufstehen um halb zehn, Türe aufreißen und im Atlantik baden, um erstmal die Augen aufzukriegen, Spaziergang am Strand (mit dem bärtigen Barmann und Nachbarn von nebenan), um im Intercontinental von San Juan zu frühstücken – frische Ananas, Toast, Marmelade, vier Tassen Kaffee. Um zwei Uhr Treffen mit dem Beauftragten für Glücksspiel, um Neuigkeiten aus der Welt der Casinos zu erfahren – meinem nächsten Thema. Um halb fünf ins Rada Hotel, Gespräche über den frisch reingekommenen Auftrag. Zum Essen um halb sieben in die Altstadt, um neun nach Rio Pedras, um Post zu holen. Auf dem Rückweg Deinen Brief lesen, dann ausziehen und nackt runter an den Strand, mit Pfeife und einem Glas Brandy. Rauchen, Brandy trinken, schwimmen, unter die Dusche und jetzt diesen Brief an Dich schreiben. Später werde ich noch die Story über Hahnenkämpfe zu Ende bringen. Dann ins Bett. Und morgen keine Termine. Nur Meer, Sonne, Rum.

Das Leben hier – Du glaubst es erst, wenn Du es selbst gesehen hast. Kaum vorstellbar, dass es von Dauer sein wird. Vielleicht werde ich sogar einen Scooter haben, bis Du da bist, wenn es in dem Tempo weitergeht. Natürlich gibt es auch ein paar Dinge, die auf die Nerven gehen. Kein warmes Wasser in der kleinen Hütte, kein Geld, immer nur mit dem Bus unterwegs, ein alter Cordmantel, der inzwischen ziemlich heruntergekommen aussieht. Wäre ich kein Journalist, würde ich niemals durchkommen, so wie ich hier herumlaufe – in diesem überteuerten und zugleich sehr konventionellen Walhall. Sobald ich meine Finanzen im Griff habe, wird sich das alles ändern. Wann? Weiß der Himmel.

Gute Idee von Dir, mir Sachen mit PanAm herzuschicken, nur dass ich dann keinen Gepäckschein hätte, den ich möglicherweise vorzeigen muss. Es könnte kompliziert werden; wenn es sich anders hinbekommen lässt, gib mir Bescheid, und ich schick Dir eine Wunschliste – vor allem ein paar Pfund Tabak, der hier unmöglich aufzutreiben ist. Und ja, unbedingt einige Bücher, auf die Schnelle fällt mir das neue von Mailer (Reklame für mich selber) ein, und von Dostojewski über die Psychologie des Spielens; über Spieler, die besessen sind [Der Spieler]. Kennst Du es? Die Bibliothek hier ist unglaublich schlecht. Das Aktuellste, was ich finden konnte, war S. Maugham. […]

Das wär’s soweit. Gleich fallen mir die Augen zu, und ich muss noch das Ding über den Hahnenkampf machen. Von draußen hört man das Klatschen der Brandung, und das schrecklich bläuliche Deckenlicht lässt das Ganze hier wie eine Zelle aussehen; morgen, wenn ich diesen Brief aufgebe, wird die Sonne wieder leuchten. Ach ja, ich hab die Kleidung ganz vergessen; ist alles gut angekommen. Danke mucho – oder vielen Dank. Oder so. Mit meinem Spanisch ist noch nicht allzu viel los. Werde Dir bald wieder schreiben, und dann erfährst Du auch, wie es in mir drinnen aussieht. Dafür wär jetzt nicht der richtige Moment.

Gute Nacht

Hunter

AN ANGUS CAMERON, ALFRED A. KNOPF:

Nachdem er für Prince Jellyfish eine Reihe förmlicher Absagen von New Yorker Verlagen erhalten hat, ist Thompson dem Lektor Angus Cameron höchst dankbar, dass der sich Zeit für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Manus­kript genommen hat.

22. März 1960

c/o Semonin

San Juan Star

San Juan, Puerto Rico

Angus Cameron

Knopf Inc.

501 Madison Ave., NYC

Sehr geehrter Mr Cameron:

Ich bin Ihnen für die klugen und hilfreichen Anmerkungen in meinem Manuskript sehr dankbar. Nur wenige Lektoren, da bin ich sicher, hätten sich überhaupt die Zeit genommen, um ein derart aufschlussreiches Ablehnungsschreiben auszuarbeiten, und ebenso wenige wären in der Lage gewesen, ihre Gedanken so elegant und stilsicher zu Papier zu bringen wie Sie. Es heißt immer, die meisten Lektoren seien Dumm­köpfe, Kretins und geistlose Schlappschwänze, die auf krummen Wegen in ihre Jobs hineingerutscht sind, was sie einzig der ihrem Wesen nach genauso trägen wie inzestuösen Verlagsbranche zu verdanken haben. Ha! Wenn ich das so sagen darf, Mr Cameron – gäbe es mehr Lektoren, die Briefe wie Sie schreiben würden, würde all den Leuten, die diese erbärmlichen Dinge verbreiten, ihr Gelächter im Halse steckenbleiben. Woher nehmen die sich eigentlich die Frech­heit, so daherzureden?

Wie auch immer – wir müssen noch eine Entscheidung zu PRINCE JELLYFISH treffen, stimmt’s? Ich habe wie ein Irrer versucht, das Ding zu Ende zu bringen. Doch seit letztem September geht es rund, das Paar, das mich beherbergt und versorgt, hat die Scheidung eingereicht, in New York wurde ich von Straßenräubern zusammengeschlagen, in Virginia Beach landete ich hinter Gittern und in Louisville wurde ich wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen; dann brachte man mich in einem Flugzeug nach San Juan, wo sich der Typ, der mich als Sportredakteur angeheuert hatte, als bankrotter Lügner herausstellte. All das hat mich beim Vorankommen mit dem Buch auf gewisse Weise aufgehalten. Doch jetzt bin ich bereit, wieder Fahrt aufzunehmen; die Schreibmaschine ist verrostet und voller Sand, aber ich habe beim San Juan Star ein Farbband mitgehen lassen, es kann also losgehen, und ich werde dieses verdammte Ding abschließen, das ich, so kommt’s mir vor, in einem anderen Leben einmal begonnen habe. Ich sehe das richtig, dass wir es der Agentin Elizabeth McKee schicken? Mich würde es zwei oder drei Monate kosten, ihre Adresse zu finden, denn die befindet sich irgendwo in den Catskills in einem Karton voller Papierkram. Ich vermute, dass sie irgendwo in den East Sixties wohnt (beneidenswert, was?), und für einen Ihrer Mitarbeiter sollte es ein Leichtes sein, sie ausfindig zu machen. Ich lege eine Nachricht an McKee bei; sollte Ihnen das zu viel Mühe machen, schicken Sie bitte alles an mich zurück, ich würde mich dann lieber selbst darum kümmern. In diesem Fall aber würden Sie allerdings bald ein Päckchen mit Seeigeln in Ihrem Briefkasten finden; um diese ganz auszukosten, nehmen Sie einfach in jede Hand einen und drücken Sie fest zu.

In großer Zuneigung und Bewunderung verbleibe ich

mit allerbestem Dank,

Hunter S. Thompson

AN LAURIE HOSFORD:

Thompson und Conklin treffen Vorbereitungen, um nach Spanien zu segeln und mit Eugene und Eleanor McGarr ein neues Leben anzufangen.

25. Mai 1960

Loíza Aldea

Puerto Rico

Liebe Laurie,

ich schreibe Dir diesen Brief mitten in den Vorbereitungen für einen unmittelbar bevorstehenden Aufbruch nach Spa­nien. Die Puerto-Ricaner wollen mich für ein Jahr ins Gefängnis stecken – wegen Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Aber nicht mit mir. Sie werden mich jagen müssen wie einen schwarzen Sträfling.

Auf jeden Fall habe ich jetzt eine Lebensgefährtin. Eine Frau mit Klasse, weiß, diszipliniert, spricht passabel Spanisch. Sie wird nach Spanien mitkommen. Ein Freund von mir aus New York lebt dort mit seiner Frau; in einem Haus mit zwölf Zimmern an der Küste, in der Nähe von Gibraltar. Von dort aus geht es dann weiter – in alle Richtungen.

San Juan ist völlig am Ende. Die höchsten Lebenshaltungskosten der westlichen Hemisphäre, nur Caracas ist teurer. Ich lebe gute zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt, in einem Vier-Zimmer-Häuschen am Strand; Scooter, kein Job, schreibe als Freier für US-Zeitungen, schreibe literarisch, außerdem so viele Mücken, dass ich kaum atmen kann, Frau ist hier und kocht, kein Geld, umherziehender Künstler aus New York lebt auch hier, hat ein Segelboot, Leben ist hier alles in allem nicht übel.

 

Ich habe mich mit Negern, Eidechsen und dem Postinspektor angefreundet. Meinem ehemaligen Chef werde ich den Vorstand der Gewerkschaft auf den Hals hetzen. Fabelhafte Sonnenuntergänge. Schreckliches Essen. Rum ist billig. Esse eine Menge Reis und noch mehr Spaghetti, trinke Regenwasser. Wir sind die einzigen Weißen in der spanischsprachigen Neger-Gemeinde von Loíza Aldea. Langweilig wird es nie.

Was zum Himmel aber soll die »Antwort auf das Leben« sein, von der Du da brabbelst? Schreib das doch mal auf, das würde mir helfen, Dich in solchen Dingen besser zu verstehen. In meinem Fall ist das Leben jedenfalls ein wildes Karussell; langsam fühle ich mich wie ein riesiger ausgehungerter Hase, der inmitten eines Rausches von Habgier und Gewalt von einem Flecken der Erde zum nächsten springt.

Versuch doch mal einen Freund von mir [aus Eglin] zu kontaktieren, er heißt Banks Shepherd. Ist Kapitän und wird wahrscheinlich über das Warenkaufbüro erreichbar sein. Wenn nicht, schau im Telefonbuch nach: William Banks (oder W.B.) Shepherd. Schwer zu sagen, ob Du ihn mögen wirst – probier’s einfach.

Seit Dezember keine Zeile von Ann Frick. Sealey hat bis heute nicht auf meine beiden Briefe reagiert, und solange er sich nicht meldet, werde ich es dabei belassen. Weißt Du, was zum Teufel der eigentlich so treibt?

Mein nächster Brief wird wahrscheinlich aus Spanien kommen, also schreib mir dahin und halte Dich ran. [...]

Und richte Shirley aus, dass sie sich ruhig dieser »unerschlossenen Energie« widmen soll. Ich hab keine Ahnung, was das bedeutet – aber es klingt beunruhigend.

Cheers:

Hunter

AN DIE NEW YORK TIMES:

Thompson kann es nicht lassen, auf eine Anzeige in der New York Times zu antworten, in der »Journalisten (2), die nach Fakten graben«, gesucht werden.

11. September 1960

c/o Conklin

107 Thompson St.

New York City 12

Z8822, New York Times

Sehr geehrter z8822:

Hey, wenn Sie nur wüssten, wie ich nach Fakten grabe. Mann, ich nehm sie so ungefähr schon mit ins Bett; das gibt mir einen Kick wie nur sonst was. Mann, ich bohre mich schon am frühen Morgen in die Negerstraßen hinein und lechze förmlich nach Fakten. Den ganzen Tag über wühle ich mich durch Kaskaden von unsinnigem Gequatsche und bin ganz wild darauf, die reife saftige Frucht, die sich im Innersten all dieses Geschehens befindet, endlich in Händen zu halten.

Wenn Sie sich das klar machen würden, z8822, dann müssten Sie eigentlich sagen: »Äh – Mann, wann können Sie anfangen?«

Und ich würde auf meine coole und kluge Art antworten: »Na gut, mein Freund, dann fangen wir doch am besten gleich mal mit den wichtigsten Fakten an: Ich brauche Minimum hundert Dollar die Woche, allein schon für Jack Daniel’s; kriegen Sie das hin?«

Kann aber auch sein, dass der Setzer bei der Times ein Hipster ist, und was Sie eigentlich sagen wollten, ist: »Journalisten (2), die Fakten auswerten«; oder »Journalisten (2), die Fakten aufbereiten«.

Egal, in der Anzeige steht »Journalisten (2), die nach Fakten graben«, und das war der einzige Grund, warum ich mich bei Ihnen mal genauer erkundigen wollte.

Für einen kompetenten Journalisten wie mich gehört es zum Berufsalltag, »nach Fakten zu graben«. Ebenso grabe ich nach Geld, Jack Daniel’s und einem rasanten Job. Wenn Sie der Meinung sind, dass wir ins Geschäft kommen könnten, dann schießen Sie los – per Brief, Telex oder Telefon, und Sie werden von mir all den Kram bekommen, der sonst in einem ordentlichen Lebenslauf drin steht. Lebensläufe lehne ich prinzipiell ab, ich habe seit drei Jahren keinen mehr geschrieben.

So weit, so gut. Melden Sie sich am besten bis 16. September, denn ich habe ein Jobangebot an der Westküste und muss denen bis dahin Bescheid geben. Wenn ich bis zum Mittag des besagten Datums nichts von Ihnen gehört habe, gehe ich davon aus, dass Sie dieser Brief mehr geärgert hat als angesichts des Charakters der Anzeige zu vermuten gewesen wäre.

Schicken Sie mir aber bitte auf alle Fälle meine Unterlagen zurück.

Besten Dank,

Hunter S. Thompson

AN SANDY CONKLIN:

28. Oktober 1960

San Francisco

Liebe Prinzessin,

der heutige Tag ist ein Wendepunkt auf der großen Jagd nach einem Job in San Francisco; es hat sich herausgestellt, dass ich in dieser Stadt vor Januar nichts Vernünftiges bekommen werde. Wenn Du wissen willst, warum das so ist, frag mich das nochmal in Deinem nächsten Brief. Wenn nicht, dann mach Dir einfach nichts weiter draus.

Am Montag werde ich meinen Daumen Richtung Süden ausstrecken – Carmel, Monterey, Big Sur – und vielleicht schaffe ich es sogar bis nach Los Angeles. Was immer auch passiert, es wird in Ordnung gehen. Ich mach mir darum keine Sorgen, denn ich habe keinerlei Pläne. Ich will es nur bis an die Küste schaffen und jenes Kalifornien sehen, von dem immer alle reden. Ich versuche so weit zu kommen, wie mich jemand mitnimmt, werde am Strand schlafen (Schlafsack) und schlimmstenfalls um Essen betteln. Deine fünfzehn Dollar sind mein Glücksbringer, und Gott allein weiß, wo das alles enden wird; es ist, in dieser elenden Phase von Frustrationen, immerhin ein Aufbruch – was könnte da besser sein.

Zuletzt habe ich mehr Interviews geführt, als es jeder halbwegs vernünftige Mensch aushalten würde. Und musste dermaßen viel Unsinn über mich ergehen lassen, dass ich spüre, wie das alles meinen Hals wieder hinaufsteigt; ich brauche jetzt einfach ein bisschen frische Luft. Jetzt kann ich auch die Selbstmorde an der Golden Gate Bridge verstehen; ich verstehe die Betrunkenen und die Nutten und die geistlosen Hedonisten, die die Bars und die Wohnungen im traurigen Telegraph Hill bevölkern. Diese Stadt hier ist nur eine Erweiterung von Alcatraz; wer einmal hier gelandet ist, steckt fest und kommt nicht mehr weg; denn die Menschen, die nach San Francisco fliehen, haben entweder nicht den Mut oder nicht die Zeit, noch mal neu anzufangen. Also versuchen sie, aus einer falschen Entscheidung irgendwie das Beste zu machen; und sie stehen das so lange wie möglich durch, indem sie so viel trinken, dass Schmerz und Enttäuschung und Frustration gedämpft werden – und wenn es dann immer noch weh tut, springen sie.

Ich dagegen werde nur einen kleinen entspannten Ausflug machen. Wenn mir das Geld ausgeht, komme ich wieder zurück und schau mich nach einem Job als Parkwächter um. Sollte sich auch das als unrealistisch erweisen, werde ich durch die Wüste wandern, bis nach Glenwood Springs. Paul ist schon dort und hat vor, in Aspen bis Januar auf dem Bau zu arbeiten. Ich habe so meine Zweifel, dass ich es da länger als eine Woche aushalten würde, aber mal sehen. Mehr dazu nach meiner Rückkehr aus dem Süden.

Bone & McGarr wollen beide bis 1. Dezember aus der Wohnung ausziehen. Bis dahin müssen wir irgendwas unternehmen. Mir ist klar, dass das meine Sache ist, stell Dich also darauf ein, wieder loszuziehen – in jede mögliche Himmelsrichtung.

Im Moment sind es nur zwei Dinge, die ich mir wirklich wünsche – Dich und Zeit zum Schreiben. Den Leuten hier tue ich leid; sie können sich nicht vorstellen, was aus mir werden soll, und begreifen erst recht nicht, warum mir das nichts ausmacht. Das ist so traurig, dass es mich schon wieder zum Lachen bringt. Ich komme mir vor wie der Mann mit dem großen Geheimnis. Man sagt mir, dass ich Liebe brauche, und ich lächle still. Man sagt mir, dass ich ein Ziel brauche, und wieder muss ich lächeln. Nie würde ich ihnen verraten, wie glücklich ich bin, weil ich weiß, dass wir beide bald wieder zusammen sein werden – und dann könnten die Leute kein Mitleid mehr mit mir haben und würden sich noch schlechter fühlen als sonst. Wirklich, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit Dir im Bett zu liegen, so lange, wie wir wollen, ein Dach über unseren Köpfen zu haben, was zu essen in unseren Mündern und in Ruhe gelassen zu werden. Das große Ding, das sind wir selbst, alles andere sind Belanglosigkeiten. Nur noch drei Wochen; leg Deine Yankee-Dollars auf die Seite; sie könnten den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Love, H

1961

»Jetzt, wo er dreiunddreißig war und wie fünfzig aussah, sein Geist gebrochen und sein Körper vom Alkohol aufgedunsen, zog er von einem Land ins nächste, verdingte sich als Reporter und machte jedes Mal so lange weiter, bis er gefeuert wurde. Normalerweise wirkte er abstoßend, doch in seltenen Momenten blitzte seine ins Stocken geratene Intelligenz auf. Sein Denken jedoch war vom Trinken und von seinem ausschweifenden Lebenswandel schon so im Verfall begriffen, dass es sich, wenn er es anwarf, wie eine alte Maschine verhielt, die in Fett schwamm und dabei kaputt gegangen war.«

Hunter S. Thompson, The Rum Diary

AN FRANK M. ROBINSON, ROGUE:

Endlich bringt Thompson eine größere Geschichte in einem überregionalen Magazin unter: in Rogue, einem Männermagazin, das in seiner Ausrichtung mit dem Playboy vergleichbar ist. Er bekommt stattliche 350 Dollar für das folgende Porträt des wahren Big Sur, das mit seinen berühmten »Bädern« zum neuen In-Treffpunkt der Homosexuellen aus San Francisco geworden ist.

»BIG SUR: DER GARTEN DER AGONIE«

Wenn auch nur die Hälfte der Geschichten über Big Sur stimmt, hätte der Ort längst ins Meer abrutschen müssen; und es wären dabei so viele Wahnsinnige und Degenerierte ertrunken, dass eine Schiffsbrücke aus Körpern entstanden wäre, die bis nach Honolulu reichen würde. Die Vibrationen all der Orgien hätten die gesamte Bergkette von Santa Lucia zum Einsturz gebracht und die Zerstörung von Sodom und Gomorrha wie das kleinliche Werk eines Geizkragens aussehen lassen. An den westlichen Ausläufern würde das Land schlicht das Gewicht all der Sexfanatiker und Kriminellen, die hier angeblich leben, nicht tragen können. Die Erde selbst würde sich auftun und vor Ekel würgen – und über die langen steinigen Böschungen würde eine gespenstische Armada aus Nudisten, Schwulen, Junkies, Vergewaltigern, Künstlern, Flüchtlingen, Vagabunden, Dieben, Verrückten, Sadisten, Eremiten und jedem erdenklichen menschlichen Abschaum herabsteigen.

Sie alle würden samt und sonders sterben – und, wenn es gerecht zuginge, würde es einer Armee von Touristen und Schaulustigen genauso ergehen. All die Leute, die hierher kommen, »weil es so kickt«, würden das Schicksal der dem Untergang geweihten Bewohner teilen; jeder aber, der den Großen Rutsch überleben sollte, würde sein Ende spätestens bei den Killerwalen finden. Die Liste der Opfer wäre ein furchterregendes Dokument. Neben den Bewohnern vor Ort würde sie Voyeure aller Art enthalten – hunderte freischaffender Päderasten und Legionen von Möchtegern-Orgienmeistern.

Nichts davon jedoch wird vermutlich passieren, denn fast alles, was man über Big Sur hört, sind Gerüchte, Legenden oder glatte Lügen. Es ist ein Paradies für jeden, der sich gerne an Mythenbildungen beteiligt, und die ganze Gegend ist so vielfältig und weitläufig, dass die Phantasie schnell der Versuchung erliegt, schon beim bloßen Hinschauen verrückt zu spielen.

In Wahrheit ist Big Sur ein Walhall – ein Ort, von dem viele schon gehört haben, über den aber kaum jemand irgendetwas zu sagen weiß. In New York erzählen sie einem, es sei eine Künstlerkolonie, in San Francisco reden sie von einem Nudistencamp, und wer dann schließlich selbst nach Big Sur hereinrollt und seine Augen weit aufreißt, um irgendwo einen nackten Künstler zu erspähen, ist sehr wahrscheinlich einfach nur enttäuscht. Jedes Wochenende muss sich Dick Hartfort, Besitzer eines Dorfladens, mit Leuten herumschlagen, die auf der Suche nach »Sexorgien«, einem »wilden Handgemenge von Betrunkenen« oder der »Straße zu Henry Millers Haus« sind – als ob sie nur Miller finden müssten, und alles andere würde dann schon laufen. Einige der Besucher bleiben eine Woche, streifen durch die Gegend, stellen Fragen und tauchen immer gerade da auf, wo man sie am wenigsten erwartet – schließlich ziehen sie wieder ab, von wo immer sie herkamen, und oft maulen sie, Big Sur sei »verdammte Wildnis, sonst nichts«.

 

Nun ja, für den größten Teil trifft das auch zu, und die geographischen Grenzen sind so wenig greifbar, dass Lillian B. Ross – die zu den ersten Schriftstellern gehörte, die hier lebten – einmal meinte, es sei »kein Ort, sondern ein Bewusstseinszustand.« Sollte das leicht mystisch klingen, muss man bedenken, dass der Landstrich Big Sur – und der ist gemeint, wenn man von Big Sur spricht – ungefähr zwölf Kilometer in der Länge und dreißig in der Breite misst, und hier vielleicht dreihundert Menschen in den Bergen und an der Küs­te verstreut leben. Die »Stadt« selbst besteht aus Postamt, Dorfladen, Tankstelle, Werkstatt und Res­taurant und liegt knapp zweihundertfünfzig Kilometer südlich von San Francisco auf dem Highway One.

Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Gegend so verlassen und verloren wie ein x-beliebiger Fleck in Amerika. Diese Zeiten sind vorbei. Es musste so kommen – Big Sur ist »entdeckt« worden. Das Life Magazin nannte es »Die raue romantische Welt an den Rändern« und präsentierte zur Beglaubigung eine Fotostrecke auf neun Seiten. Und das war’s dann. Auch ein Henry Luce schätzt Einsamkeit – nur will er das dann auch seinen fünf Millionen Lesern mitteilen. Und an manchen Wochenenden sieht es so aus, als seien diese fünf Millionen tatsächlich alle auf einmal hier und sprudelten förmlich über vor Fragen:

»Wissen Sie, wo’s zur Künstlerkolonie geht? Ich bin aus Tennessee und muss mir das mal ansehen.«

»Hör mal, du weißt doch bestimmt, wo hier das Nudistencamp ist?«

»Darf ich Sie was fragen? Meine Frau und ich, wir schauen uns hier nach einem Haus um, das wir mieten wollen, zehn Zimmer, für die Wochenenden. Hätten Sie da vielleicht einen Tipp?«

»Wie geht’s, Meister? Es muss hier irgendwo eine Marihuanafarm geben – aber wo?«

»Guten Morgen, Sportsfreund. Ich stör Dich doch hoffentlich nicht. Ich … äh … also, weißt Du, wie man hört, macht ihr hier Jim-Dandy-Partys und so, und da frag ich mich, ob ich mitmachen darf, wenn ich ein paar Flaschen Schnaps mitbringe.«

Sprüche wie diese haben Miller halb wahnsinnig gemacht: »Ah – ha! Sie also sind Henry Miller! Also, ich bin Claude Fink, und ich bin hergekommen, um mit euch allen Sex und Anarchie hochleben zu lassen.«

Die meisten Leute, die von Big Sur gehört haben, wissen nichts darüber, außer eben, dass Henry Miller hier lebt – und für die meisten ist das auch völlig ausreichend. Sie haben nicht den geringsten Zweifel, dass jeder Ort, an dem Miller sich länger aufhält, eine Art sexuelles Mekka sein muss. Die bloße Vermutung führte schon dazu, dass sich Dutzende nach Big Sur locken ließen; wenn dann aber auch noch jemand einen Artikel über den Kult um Sex und Anarchie schrieb, den Miller hier angeblich veranstaltete, kamen sie aus der ganzen Welt, um dabei zu sein. Seit fast zehn Jahre geht das nunmehr so, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Die Ironie der Geschichte ist, dass Miller eigentlich herkam, um sich zurückzuziehen und in Einsamkeit zu leben. Als er sich 1946 hier niederließ, war er noch kaum bekannt. Seine wichtigsten Bücher (Im Wendezeichen des Krebses & des Steinbocks, Sexus, Plexus, Nexus, Der Schwarze Frühling etc.) kamen hier in den Staaten auf den Index (bis heute). In Europa, wo er seit den frühen Dreißigern lebte, genoss er einen Ruf als einer der wenigen unbestechlichen und kompromisslosen amerikanischen Autoren. Nachdem die Nazis Paris überrollt hatten, wurde sein Konto gesperrt, und er sah sich gezwungen, zurück in die Vereinigten Staaten zu gehen.

Seine Verachtung für dieses Land zeigte sich in allem, was er schrieb, und seine Vision von der Zukunft Amerikas war bestenfalls eine zweischneidige Angelegenheit. In Die Welt des Sexus, einem verbotenen und kaum bekannten Buch von 1940, formuliert er es so:

»Wenn die Welt der Neutren kollabiert – und diese stellt den größten Teil der Bevölkerung –, wird folgendes passieren: Sie werden den Sexus entde­cken. In der Periode der Dunkelheit, die darauf folgt, werden sie sich aufreihen wie Schlangen oder Kröten und sich in einem endlosen unzüchtigen Karneval gegenseitig anknabbern und bekauen. Sie werden sich, mit Hammer und Zange, in der Erde vergraben. Und werden alles ficken, was in Reichweite ist, ein Schlüsselloch genauso wie einen ekligen Leichnam. Alles auf diesem Kontinent ist möglich. Er war schon in den allersten Tagen der Schauplatz von grausamsten Praktiken, von Blutvergießen und schrecklicher Folter, von Sklaverei, Brudermord und sakralen Orgien, von Stoizismus, Hexerei und Lynch­morden, von Plünderungen und Brandschatzungen, von Habgier, Vorurteilen, Bigotterie und so weiter … All dies mussten wir schon mitansehen, bis auf den Ausbruch der Sexualität, der der letzte Ausbruch sein wird – gleich einer Flut, die jeden Automaten fortspült. Amerika, diese gewaltige und komplizierte Maschine, wird zugrunde gehen. Ein Polarlicht wird diese einsame dunkle lange Nacht ankündigen. Und auch wenn es heißt, es werde sich eines Tages ein besserer Menschentypus entwickeln – schon möglich. Doch wenn das passiert, wird es von Grund auf sein. Mag der gegenwärtige Bestand einen wundervollen Dünger ergeben, der neue Mensch wird daraus nicht hervorgehen.«

Dies sind die Worte, die nachhallten, als er nach Big Sur zog, und sie verfolgten ihn regelrecht. Kaum hatte er sich hier angesiedelt, um aus einem »Alptraum mit Air-Condition« auszusteigen, wie er es nannte, waren unzählige Leute hinter ihm her und wollten ihm die Hand schütteln, ihn um Rat fragen und bedrängten ihn mit ihren eigenen Visionen und Mutmaßungen. Tag für Tag, Jahr für Jahr kämpften sie sich die steile staubige Straße zu seinem Haus in Partington Ridge hoch, wo Miller doch nur seine Ruhe haben wollte; denn wenn da oben ein freizügiger Karneval am Laufen war, wollten sie verdammt noch mal ein bisschen mitmischen. Beizeiten konnte man meinen, dass halb Greenwich Village auf seinem Rasen kampierte. Junge Ladies, mit nichts als einem Regenmantel bekleidet, zogen mitten in der Nacht vor seiner Haustür ihre Show ab, wilde Türken kamen per Anhalter aus New York und hatten alles, was sie besaßen, in ihren Reisetaschen dabei, Drifter aus allen Ecken des Landes schlugen hier auf, mit Säcken voller Essen und Whiskey, und sogar von Paris aus hatten es mittellose Franzosen bis hierher geschafft.

Miller ließ nichts unversucht, um sich dem Ansturm zu widersetzen, aber es half alles nichts. Mit seinem Ruhm wuchs auch die Zahl der Besucher beständig an, von denen viele nicht einmal seine Bücher kannten. Literatur interessierte sie nicht, sie wollten Orgien. Umso geschockter waren sie, als sie auf einen ruhigen, akkuraten, auf Moral bedachten Mann trafen – und nicht auf das Partysexmonster, von dem man sich die ganzen Geschichten erzählte. Die Orgien blieben aus, und die enttäuschten Groupies zogen weiter nach Los Angeles oder San Francisco. Oder aber sie blieben in Big Sur und versuchten, ihre eigenen Orgien aufzuziehen. Manche lebten in hohlen Bäumen, manche stießen auf verlassene Hütten, und einige streiften mit ihren Schlafsäcken einfach auf den Hügeln umher und lebten von Nüssen, Beeren und wild wachsenden Senfkörnern. Diejenigen, die nicht blieben, streuten auf ihren weiteren Wegen ihre Geschichten; sie wurden jedes Mal, wenn sie jemand weitererzählte, umso ausschweifender. Und so kamen immer noch mehr Leute, was Miller bis an den Rand der Verzweiflung brachte. Er stellte ein unübersehbares und unmissverständliches Warnschild oben an seiner Zufahrt auf, kultivierte ein bewusst unhöfliches Auftreten, um Besucher abzuschrecken, und versuchte mit allen möglichen Tricks, die Lage seines Wohnortes zu verschleiern. Vergebens. Am Ende überrannten sie ihn, und Big Sur war spätestens von da an auf der Karte der nationalen Sehenswürdigkeiten verzeichnet. Heute kommen sie noch immer, obwohl Miller längst seine Sachen gepackt hat und nach Europa geflohen ist; gut möglich, dass es für ihn Ferien auf Lebenszeit sind.

Eine besondere Ironie liegt darin, das Miller mehr über Big Sur geschrieben und es mehr gepriesen hat als jeder andere Schriftsteller. 1946 verfasste er einen Essay mit dem Titel Das ist meine Antwort, der schließlich in seinem 1958 publizierten Buch Big Sur und die Orangen des Hieronymus Bosch erschien – lange nach der ersten Invasion.