Böse Affen

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Martin Sandved. Vom Dezernat für Kunstkriminalität. Kennengelernt bei den ganzen Verwicklungen um jenes Tagebuch der angeblichen Geliebten des Zeichners und Dichters Wilhelm Busch, das sich im Nachlass von Leos |23|Onkels gefunden hatte. Aus den Augen verloren, als der Fall gelöst war.

Ach, so ein Blödsinn. Leo drückte sich die Fäuste auf die brennenden Lider. Sie hatten sich nicht irgendwie aus den Augen verloren, sie waren wahrscheinlich beide einfach nur zu feige gewesen.

Wo mochte er gerade sein? Ermittlungen im Ausland, hatte es geheißen, Süditalien, Sizilien, irgendwo dort unten. Sie war sich nicht zu schade gewesen, in seiner Dienststelle anzurufen und nach ihm zu fragen.

Aber nur einmal, verteidigte sie sich vor sich selbst, schwang sich aus dem Bett, trabte in die Küche und goss sich noch ein Glas ein. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte sie sich wenigstens ein bisschen amüsieren. Und die verflixten Ohrstöpsel waren auch verschwunden.

Mitten in der Nacht schreckte sie hoch, weil der Bambus klingelte.

Der Bambus?

Stöhnend vergrub Leo ihren Kopf unter dem Kissen. Hätte sie bloß den Pfefferminztee nicht weggelassen. Wahnvorstellungen. Erst klingelnder Bambus, dann weiße Mäuse.

Es klingelte immer noch. Zögernd schob Leo das Kissen weg, tastete nach der kleinen Leselampe neben dem Bett und fasste das verrückt gewordene Grünzeug ins Auge. Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Blick scharf gestellt und ihr Gehirn die optischen und akustischen Signale synchronisiert hatte. Das Klingeln kam aus dem kaputten Kübel.

Leo scharrte die Erde weg. Das Klingeln wurde lauter, eine melodische Tonfolge wie von Klangstäben, in rascher Folge |24|angeschlagen. Ihre Finger stießen auf etwas Glattes. Verständnislos starrte sie auf den rechteckigen silbrigen Gegenstand mit dem Logo dreier schwarzer Affen. Einer hielt sich die Augen zu, der andere die Ohren, der dritte den Mund.

Smartphone, meldete Leos Gehirn. So ein Wundergerät aus Telefon, Computer, Videokamera und weiß der Teufel was noch in einem. Kein westliches Modell. Chinesische Schriftzeichen. Schickes Ding.

Und was hatte das schicke Ding in ihrem Bambus zu suchen?

Auch auf dem Display sprangen die drei Affen herum und hielten sich abwechselnd Mund, Ohren und Augen zu. Leo fand, dass sie etwas Hinterhältiges an sich hatten. Sie verschwanden, als das Klingeln endlich aufhörte. In der nachfolgenden Stille bemerkte sie, dass auch die Musik unten endlich verstummt war. Ratlos untersuchte sie die Symbole. Leo hatte gerade gelernt, mit ihrem eigenen neuen Handy umzugehen, technische Hinterhältigkeiten dieser Art überforderten sie, erst recht mitten in der Nacht und mit beginnenden Kopfschmerzen. Aber die rote Taste da sah vertraut aus. – So. Ausgestellt.

Wahrscheinlich Ken Zhang, dachte Leo. Er hatte das Ding verloren, als er den Bambus wieder aufgestellt und die Erde zurück in den Kübel geschaufelt hatte. Klar, so musste es gewesen sein. Hände abklopfen, weiterschlafen.

Selbst in ihrem benebelten Zustand ahnte sie, dass diese Erklärung außerordentlich idiotisch war. Aber es war immerhin eine Erklärung und auch nicht idiotischer, als Autoschlüssel an einen Käfigaffen zu verlieren oder Liebeskummer in Rum einzulegen. Sie würde Ken das Smartphone morgen |25|zurückbringen und fertig. – Morgen? Ihr Blick irrte zum Wecker. In drei Stunden. Stöhnend fiel sie zurück in die Kissen.

|26|2

Etwas zerknittert stapfte Leo die Treppe hinunter, als die Tür der Studentenwohnung schwungvoll geöffnet wurde und ein schlaksiger junger Mann vor ihr stand.

»Wunderschönen guten Morgen! Zu Ihnen wollte ich gerade!« Hellbraune Augen, dunkelblonde Haare, zu einer dieser Britpop-Frisuren mit Ponyfransen quer über ein Auge gestylt, Skiurlaub-Teint über einem weichen zimtfarbenen Rollkragenpulli – der ganze Typ schien golden zu schimmern. Dazu besaß er auch noch ein strahlendes Lächeln, dessen Zahnpastafrische Leo geradezu überwältigte und sie gleich noch ein bisschen mehr knittern ließ.

Bei genauerem Hinsehen waren seine Augen allerdings deutlich gerötet, die Schatten darunter verrieten eine Nacht mit zu wenig Schlaf. Aber das Lächeln blieb unvermindert hell und freundlich.

»Daniel Reimers, Ihr neuer Nachbar«, stellte er sich vor. »Wir sind gerade erst eingezogen und hatten noch keine Zeit, die Kennenlernrunde durchs Haus zu machen.«

Leo schüttelte seine Hand und murmelte ihren Namen. Im Hintergrund der Wohnung schlurfte ein schwarz gekleidetes Etwas mit langen Haaren vorbei.

»Mein Mitbewohner, Rico Metz«, erklärte Daniel Reimers, der ihren Blick bemerkt hatte. »Wir teilen uns die Wohnung.«

Schade, dass das hier keine Quizshow war. Die 10 000-Euro-Frage, wer von den beiden der Heavy-Metal-Fan war, hätte Leo ohne zu zögern beantwortet. Seltsames Gespann, die beiden.

|27|»Uns sind die Coffeepads für die Espressomaschine ausgegangen.« Der Blonde lächelte verlegen. »Könnten Sie uns vielleicht aushelfen?«

»Falls eine Filtertüte mit Kaffeepulver es auch tut.« – Coffeepads, tss.

Reimers strich sich das dichte Haar aus der Stirn.

»Ach so … nein, vielen Dank, vielleicht fahre ich doch noch schnell einkaufen. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen, Sie sehen aus, als hätten Sie es eilig?«

Was Leo nur bestätigen konnte, aber Radfahren war nun mal die beste Methode, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Das musste sie diesem smarten Typen allerdings nicht unbedingt auf die Nase binden.

Sie lehnte dankend ab, verabschiedete sich und eilte die Treppe hinunter. Es dauerte eine Weile, bis sich die Tür oben schloss.

Der Verkehr hatte zugenommen. Mannschaftswagen der Polizei standen an allen großen Kreuzungen, in den Nebenstraßen stauten sich die Autos, weil die Ampeln ungeschaltet waren und alle Messezubringer Vorfahrt hatten. Grüppchen von Chinesen und Japanern waren auf dem Weg zu den U-Bahnen. An der Haltestelle Peiner Straße standen fünf bibbernde indische Sikhs mit Aktenkoffern und Turbanen, aber ohne Wintermäntel, kalt erwischt von der Tatsache, dass die Temperatur an einem sonnigen Vorfrühlingstag in Deutschland nur knapp über null Grad lag. Leo war froh über Handschuhe und Wollmütze. Wie sie bei diesem Wetter die empfindlichen Lotusblumen unversehrt aus dem Gewächshaus in den Lieferwagen und von dort zum Stand schaffen sollte, war ihr ein Rätsel.

|28|Plötzlich schrillten Martinshörner über dem Autolärm. Verschreckte Autofahrer fuhren fast bis auf den Radweg, um eine Gasse für einen heranrasenden Löschzug der Feuerwehr zu bilden. Der Verkehr geriet nur kurzfristig ins Stocken, ein kollektives Gasgeben folgte, kaum dass der Löschzug durch war. Alle Ampeln standen auf Grün, nur die nicht, die Leo sicher auf die andere Straßenseite hätten lotsen können.

Als sie sich bis zu Parkplatz West 44 durchgekämpft hatte, wollte man sie nicht durchlassen, Polizei und Feuerwehr hatten alles abgesperrt.

»Bombendrohung«, sagte ein Wachmann, der neben dem Verkehrsschild herumstand, an das sie ihr Rad anschloss.

»Nicht schon wieder«, stöhnte Leo. Hoffentlich schnappten sie diesen blöden Wichtigtuer endlich. Sie beschwatzte einen der Feuerwehrleute, sie zu ihrem Lieferwagen zu lassen, sie wollte schließlich nur vom Parkplatz runter und nicht rauf.

Zu ihrer Erleichterung kam sie trotz aller Widrigkeiten einigermaßen pünktlich bei der Gärtnerei an, und weil die Chefin nicht da war, gab es vorläufig auch keine Vorwürfe wegen des am Abend nicht zurückgebrachten Lieferwagens. Es dauerte fast eine Stunde, bis Leo alles eingeladen hatte, und noch einmal eine halbe Stunde, bis sie sich durch den Verkehr wieder zurück zur Messe gekämpft hatte.

Was? Was hatte der Typ da gerade gesagt? Leo drehte das Radio lauter. Ein unerträglich gut gelaunter Moderator – »Auch heute wieder live von der CeBIT!« – verkündete, die erneute Bombendrohung auf der Messe West habe sich auch heute wieder als schlechter Scherz entpuppt. Polizei und Feuerwehr bäten dringend um Mithilfe, nützliche Hinweise zur |29|Überführung des Telefonbombers würden auch live in dieser Sendung entgegengenommen.

»Und hier die Nummer …«

Blabla.

»Bleiben Sie bei uns, wir informieren Sie bombensicher, haha!«

Leo drehte den Ton ab.

Als sie Parkplatz West 44 erreichte, hatte sich die größte Aufregung gelegt. Der Löschzug der Feuerwehr rückte gerade ab, die hatten wahrscheinlich langsam die Nase voll. Bei den dunkelgrünen Mannschaftswagen des Sonderkommandos herrschte noch ein wenig Unruhe, zwei Spürhunde mit Maulkörben hingen gespannt an ihren Leinen, ein paar Beamte eilten zurück in Halle 24.

Leo achtete nicht weiter auf sie. Nachdem sie die Autoschlüssel diesmal besonders sorgfältig in der Jackentasche verstaut hatte, wuchtete sie die Wanne mit dem Lotus aus dem Wagen. Zuerst war der Stand von Mister Kong dran. Wenn sie sich ranhielt, konnte sie bis zum Mittag auch noch die restlichen Pflanzen verteilen, die Konferenzräume wären dann ein Kinderspiel.

Während Leo durch die Messehalle lief und in Gedanken den Arbeitsplan durchging, fiel ihr auf, dass die meisten Stände verlassen dalagen, obwohl der Alarm aufgehoben und die Arbeiten noch nicht abgeschlossen waren.

Die Menschentraube vor Stand C.53.1 war dagegen nicht zu übersehen. So viele Leute! Und so eine gespenstische Stille?

Dann stand sie vor dem gelben Absperrband, das rings um das kleine Becken gespannt war. Sehr langsam setzte sie die Wanne mit dem Lotus ab.

|30|Nein. Das konnte nicht wahr sein.

Im stillen Wasser trieb reglos ein Mann mit dem Gesicht nach unten, die Arme ausgebreitet. Die schwarzen Haare schwebten federfein um seinen Kopf, die Füße ragten über den Beckenrand. Sie steckten in roten Sneakern.

 

In Leos Ohren rauschte es, und es dauerte einen Moment, bis sie registrierte, dass im allgemeinen Schweigen ein erstickter kleiner Laut hören war. Es war der Biber-Handwerker, der ihr mit dem Bambus geholfen hatte; vergeblich versuchte er, ein Schluchzen zu unterdrücken. Mit bis zu den Knien durchnässten Hosen stand er ein paar Schritte abseits von den anderen und zitterte, als wäre er an einen Stromkreis angeschlossen. Aber er bemühte sich, die Fragen des Polizeibeamten an seiner Seite zu beantworten.

»Nein, wir waren doch alle draußen … ja, wegen der Bombendrohung … ich bin dann zurück … ja … nein, ich weiß nicht … vielleicht war ich einer der Ersten, kann sein … ich hab gleich die 110 angerufen … nein … ja … aber das habe ich Ihnen doch alles schon gesagt!«

Leos Blick irrte zurück zu der leblosen Gestalt im Wasser. Wie konnte das sein? Wie konnte man in diesem lächerlichen kleinen Teich ertrinken? Sicher, grundsätzlich war das in der kleinsten Pfütze möglich, aber …

Ein Polizist kam auf sie zu, es war Nummer zwei von der Messestation, der auch schon wegen der Affengeschichte angerückt war.

Mechanisch beantwortete Leo die Fragen, die er offenbar auch den anderen schon gestellt hatte. Nein, sie hatte nichts gesehen oder gehört, sie war doch eben erst zum Dienst erschienen.

|31|Ringsum wurde es unruhig, als Verstärkung anrückte, zwei Beamte in Zivil, ein junger Mann, eine ältere Frau, vermutlich die Kommissare, jemand von der Messeleitung, dazu noch ein Arzt. Ein Mann mit einer professionell aussehenden Kamera trat vor.

»Keine Fotos!«, sagte die Kommissarin scharf, woraufhin der Zurechtgewiesene gehorsam die Kamera wieder senkte und etwas von »nur zufällig hier« und »Termin mit der Messeleitung« murmelte. Er lächelte beschwichtigend; der Messemann an seiner Seite wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn.

»Personalien sind aufgenommen?«, fragte die Kommissarin ihren uniformierten Kollegen. »Gut. Wer hat den Toten gefunden?«

Leos Handwerker trat vor.

»Okay. Sie bleiben hier, alle anderen gehen bitte.« Ein ungeduldiges Handwedeln in Richtung der neugierigen Zuschauer.

Leo machte sich an ihrer Wanne zu schaffen und sperrte die Ohren auf. Solange man sie nicht energischer davonscheuchte, wollte sie so viel wie möglich mitbekommen.

»Haben Sie den Toten angefasst? Irgendwas verändert?«

»Ich wollte ihn da rausholen … aber er war schon …«, stammelte der Handwerker.

»Ist schon gut.« Die Kommissarin tätschelte ihm den Arm und schlug einen etwas sanfteren Ton an. »Der Arzt kann Ihnen etwas zur Beruhigung geben. Wir reden gleich noch.«

Auf ein Zeichen ihres Kollegen wurde Ken Zhang aus dem Wasser gefischt und auf eine Folie gelegt. Der Handwerker gab erneut ein ersticktes Quieken von sich.

|32|»Das hat er nicht verdient«, murmelte er vor sich hin. »Ich war das mit den Affen, ich hab den Anruf gemacht«, sagte er, als er Leos Blick auffing. Er sprach so leise, dass es niemand anderes hören konnte, aber offenbar drückte ihn sein Gewissen, und er musste sich dringend Erleichterung verschaffen. »Wegen der armen Affen, das war doch wirklich nicht in Ordnung, das müssen Sie doch zugeben, deshalb habe ich angerufen, aber das hier … das hier … wie schrecklich!« Er presste eine zitternde Hand auf den Mund.

»Ja«, sagte Leo. »Sie haben recht. Mit beidem.«

Vom Gang her näherte sich jemand mit festen kleinen Schritten und Leo wurde grob zur Seite geschoben. Mister Kong hatte den Ort des Geschehens erreicht, zückte seine Visitenkarte und verlangte Aufklärung. Anders als sein toter Assistent sprach er ein durch seinen starken Akzent nur schwer verständliches Deutsch, was ihn aber nicht daran hinderte, sehr selbstbewusst aufzutreten. Er wirkte eher erzürnt als bestürzt, als der Arzt sich über den schrecklich bleichen Ken Zhang beugte und die Kommissare ihrerseits begannen, Fragen zu stellen. Leo schnappte Satzfetzen auf, Wörter wie »Eröffnung«, »Zeitdruck«, »Katastrophe« schwirrten durch die Luft. Der jüngere Kollege der Kommissarin fragte nach etwaigen Überwachungskameras, dem Sicherheitsdienst, dem verantwortlichen Halleninspekteur. Es schien, dass alle draußen gewesen waren, nachdem die Halle wegen der Bombendrohung geräumt werden musste. Dann waren die Sprengstoffexperten mit ihren Hunden gekommen, sie hatten nichts Verdächtiges gefunden. Und als die ersten Arbeiter zurück in die Halle geströmt waren, hatte Ken Zhang bereits im Teich gelegen.

|33|Mister Kongs Blick fiel auf Leo, die sich immer noch mit dem Lotus in der Wanne beschäftigte und die Pflanzen sinnlos, aber sorgfältig hin- und herrückte.

»Wann kann sie hier weitermachen?«, fragte er mit einem Rucken seines Kinns in ihre Richtung. »Heute Abend muss alles fertig sein.«

Er hatte sie also bemerkt und als Arbeitskraft eingeordnet. Leo stellte sich den anderen vor.

Ein gleichmütiges Schulterzucken der Kommissarin war die Antwort. »Erst muss unsere Arbeit hier getan sein.«

Der Arzt trat hinzu. »Auf den ersten Blick sieht alles nach Ertrinken aus«, sagte er.

»Ich habe es gleich gesagt«, ereiferte sich der Vertreter der Messeleitung, »wir hätten das gar nicht zulassen dürfen, ein Wasserbecken hat hier nichts zu suchen!«

Mit schneidender Stimme klärte Mister Kong ihn darüber auf, dass die ordnungsgemäß eingereichte Baubeschreibung für den Stand samt Bauantrag bewilligt worden sei, man habe sich an alle Richtlinien gehalten, und wozu denn die berühmte deutsche Gründlichkeit nütze sei, wenn einer dem anderen widerspräche? Die Wörter konnte er kaum aussprechen, aber die Grammatik gehorchte ihm. Und er kannte seine Rechte.

Der Messemann verfärbte sich rot und setzte zu einer Entgegnung an, die Leo jedoch nicht mitbekam, weil ihre Aufmerksamkeit dem Arzt gehörte.

»Ich sagte: Auf den ersten Blick«, präzisierte er. »Keine äußeren Anzeichen von Gewalteinwirkung. Aber das hier steckte in seiner Anzugjacke.«

Er hielt ein Plastiktütchen mit dürrem graubraunen Kraut hoch; die Kommissarin griff danach.

|34|»Cannabis?«

Der Arzt nickte. »Möglicherweise ein Unfall unter Drogeneinfluss. Eine Tüte zu viel in der Nacht, heute Morgen dann sechs Füße und vor jedem ein kleiner See, und schwupps hineingestolpert in den einzigen echten. Vor maximal zwei Stunden, würde ich sagen. Die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt.«

»Sechs Füße? Spricht hier jemand aus Erfahrung?«, knurrte die Kommissarin. »Trotzdem wäre ich dir dankbar, wenn du die Schlussfolgerungen uns überlassen würdest.«

Schulterzuckend zupfte sich der Arzt die dünnen Latexhandschuhe von den Fingern. »Ich muss noch ein paar Tests machen, dann wissen wir es genau. Hier bin ich jedenfalls fertig.«

»Bitte, da hören Sie es«, mischte sich Mister Kong ein. Doch trotz der Äußerung des Arztes verweigerte die Kommissarin vorläufig die Standeröffnung; Leo hatte den Eindruck, dass sie das vor allem tat, um Kong zu ärgern. Die sich daraus entwickelnde Debatte um Schädigung des Ansehens, Folgen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, den möglichen Schaden für die Messe AG und andere brisante Themen verfolgte sie nicht mehr, es wartete schließlich genug Arbeit auf sie, und außerdem musste sie dringend über etwas nachdenken. Mit der Anweisung, sich für Fragen zur Verfügung zu halten, wurde sie entlassen. Die Wanne mit dem Lotus durfte bleiben.

Ken Zhang und Drogen? Wie absurd. Es wäre übertrieben gewesen zu behaupten, sie hätte den chinesischen Assistenten gut gekannt, aber Leo hatte ihn nie anders als sehr nüchtern |35|und intelligent erlebt; ein höflicher, ehrgeiziger junger Geschäftsmann, der es zu etwas bringen wollte.

Irgendetwas war faul an der ganzen Geschichte.

Und das Smartphone! Sie hatte es völlig vergessen. Leo tastete nach der Innentasche ihrer Jacke, in die sie das rätselhafte schicke Ding gesteckt hatte. Jetzt würde es keine Gelegenheit mehr geben, es Zhang zurückzugeben. Wenn es überhaupt ihm gehörte. Aber wem sonst?

Sie sah noch einmal die gestrige Szene vor sich, wie Kong seinen Assistenten heruntergeputzt hatte und wie nervös der schon vorher die ganze Zeit gewesen war. Er hatte Angst gehabt.

Vor Mister Kong konnte man sich auch fürchten. Vielleicht gab es so etwas wie ein Fieser-Chef-Gen. Falls ja, besaß Irene Sorghut es ebenfalls.

Leo war gerade fertig mit den Konferenzräumen, als sie auftauchte.

»Frau Heller. Wie kommen Sie dazu, sich einfach über alle Anweisungen hinwegzusetzen?«

Wieso alle, dachte Leo. Es war doch nur eine?

»Der Lieferwagen hat abends wieder auf dem Hof der Gärtnerei zu stehen, verstanden! Und die Sackkarre ist auch verschwunden, wie ich gehört habe. Glauben Sie, ich habe eine kleine Fabrik im Keller, um die Dinger auf Vorrat zu produzieren? Die Kosten für eine neue werde ich Ihnen selbstverständlich vom Lohn abziehen.«

Oh. Na ja, das konnte ja hoffentlich nicht so viel sein.

»Und jetzt die Autoschlüssel, wenn ich bitten dürfte.«

Leo suchte noch nach einer einigermaßen passenden Antwort, als Irene Sorghut ihren letzten Schuss abfeuerte. »Im |36|Übrigen brauchen Sie morgen nicht wieder zum Dienst zu erscheinen.«

Kommentarlos ließ Leo die Schlüssel in die ausgestreckte Hand fallen und blickte Irene Sorghut mit einer Mischung aus Schreck, Wut und Erleichterung hinterher. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass eine diplomierte Gartenarchitektin reichlich überqualifiziert für diesen Job war. Aber immerhin war es Arbeit gewesen.

Hoffentlich war der Lieferwagen vom Parkplatz verschwunden, bevor sie in Versuchung kam, einen der Reifen zu zerstechen.

Leo brachte es nicht fertig, einfach zu verschwinden. Der Lotus konnte nichts dafür, dass er in der Gärtnerei dieses Giftzahns herangezüchtet worden war, er musste aus der Wanne raus und endlich ins Wasser. Sie ging zurück in Halle 24, um die Lage am Stand zu peilen. Das Absperrband war verschwunden, offenbar hatte die Kommissarin doch ein Einsehen gehabt. Und irgendwer hatte Leos Arbeit bereits erledigt, die Lotusblüten trieben im Wasser und sahen hübsch aus. Überhaupt hatte sich der ganze Stand wie durch Zauberei in eine durchdachte Anlage verwandelt, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Der asiatische Miniaturgarten zog jedenfalls sofort die Aufmerksamkeit auf sich, ebenso das riesige Banner mit den drei Affen und dem Schriftzug Black Ape One. Kong Solutions, das in der Zwischenzeit über die gesamte Rückwand des Standes ausgebreitet worden war.

Black Ape? Schwarzer Affe? Klang wie etwas, das man rauchen konnte. Und das einem anschließend üble Halluzinationen bescherte.

|37|Leo starrte es an. Das gleiche Logo wie auf dem Smartphone in ihrer Tasche.

Zwei Mitarbeiter Kongs, die sie vorher noch nicht gesehen hatte, waren eifrig damit beschäftigt, letzte Stäubchen von den glänzenden Oberflächen zu wischen und etwaige Fingerabdrücke von den ausgestellten Handys wegzupolieren, alle mit diesem auffälligen Affen-Logo.

Eine nervöse Spannung lag in der Luft, das Gerücht, dass die Kanzlerin und ihr Wirtschaftsminister bereits eingetroffen seien, flog von Stand zu Stand. Mister Kong war nirgends zu sehen, aber vermutlich würde er jeden Moment hier aufkreuzen. Zeit zu verschwinden. Leo warf einen letzten Blick auf das Banner und tastete nachdenklich nach Ken Zhangs Handy in ihrer Tasche.

Draußen vor der Messehalle blieb sie einen Moment unschlüssig stehen. Ein Polizeihubschrauber flog über dem Messeschnellweg, kam näher und begann, dröhnend über dem Messegelände zu kreisen. Leo bog in die Europaallee ein.

In der Polizeistation hatte die neue Schicht begonnen. Eine junge Frau mit rot gefärbtem Stoppelhaar saß hinter einem Computer, ein älterer Mann telefonierte.

Der rote Igel sah vom Bildschirm auf. »Ja bitte?«

»Ich hab nur eine Frage, wegen des Toten in Halle 24 … wegen Ken Zhang.«

Die Polizistin blickte freundlich, aber wachsam.

»Weiß man inzwischen schon, ob er … ich meine, wie er …« Plötzlich konnte Leo die einfache Frage nicht mehr formulieren.

»Die Todesursache?«

Leo nickte.

|38|»Warum interessiert Sie das?«

»Er war ein Kollege«, behauptete Leo. Es gelang ihr, einen selbstverständlichen Tonfall zu treffen. »Und zwar ein sehr netter«, fügte sie vorsichtshalber noch hinzu.

Der Beamte hatte sein Telefonat inzwischen beendet und wandte sich um. »Wie ist Ihr Name?«

 

»Leonore Heller.«

Er durchblätterte einen Papierstoß.

»Wir können Ihnen keine …« setzte seine Kollegin erneut an, doch offenbar hatte die Prüfung der Unterlagen ein interessantes Ergebnis; möglicherweise stand auch nur Leos Name auf irgendeiner verdächtigen Liste.

»Wie war denn die Party?«, fragte der Polizist.

»Was für eine Party?«

»Nun kommen Sie schon. Haben Sie als nette Arbeitskollegin nicht mal den einen oder anderen Joint mit Herrn Zhang geraucht? Vielleicht auch letzte Nacht? Natürlich ohne die zugegeben vage Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass jemand ertrinken könnte, weil er völlig zugekifft ist. Leider ist genau das passiert.« Der Blick, den er Leo zuwarf, war rasiermesserscharf.

»Zugekifft?«, echote Leo dümmlich, während ihre Gedanken rasten.

»Zugekifft. Stoned. Der Zustand, den man nach intensivem Genuss von Haschisch erreicht«, fiel die Rothaarige ein. »Oder von anderen Drogen. In diesem Fall ein mordsmäßiger Joint. Solche Formen der Freizeitgestaltung sind Ihnen natürlich völlig unbekannt, nehme ich an.«

Falls das eine sarkastische Bemerkung sein sollte, war sie an Leo verschwendet.

|39|»Es gab keine Party, jedenfalls nicht mit mir. Und außerdem bevorzuge ich Rum«, sagte sie mechanisch und ließ einen irritierten Igel und dessen kopfschüttelnden Kollegen zurück.