Böse Affen

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Bei Wang Li herrschte an diesem Abend Hochbetrieb. Als Leo ihr Rad am Imbiss vorbei in den Hof schob, wurde schon die Küchentür aufgerissen:

»Leo, kannst du helfen?« Su Jings rundes Gesicht war gerötet von Aufregung und Küchenhitze. Leo spähte an ihr vorbei in die Küche. Eine der alten Frauen saß am Tisch und zerlegte mit zittrigen Händen ein Hühnchen, während Wang Li am Herd stand. Dem sehnigen kleinen Mann mit dem zerfurchten Gesicht fehlten die rechte Daumenkuppe und das erste Glied des linken kleinen Fingers, was ihn aber nicht hinderte, akrobatisch mit schweren Eisenpfannen und brodelnden Töpfen zu hantieren. Andeutungsweise hatte Leo von früheren Problemen mit der chinesischen Mafia gehört, aber niemand sprach darüber und sie hütete sich, nachzufragen. Chinesische Kochmesser waren jedenfalls höllisch scharf, und Leo nahm sie nur mit äußerstem Respekt in die Hand.

Su Jing wirkte völlig aufgelöst.

»Die andere Tante ist bei Jian, er hat Zahnweh, und der ehrenwerte Onkel braucht dringend jemanden für das Gemüse, und ich muss bedienen!«

Im Handumdrehen fand sich Leo mit Schürze und Messer vor einem Berg Möhren, Paprika, Chinakohl, Pak-Choi-Salat und Pilzen wieder. Die Frau fürs Gemüse. Irgendwie ganz passend.

Wang Li lächelte, dass sein Silberzahn aufblinkte, und auch die alte Frau bedachte Leo mit einem freundlichen Nicken, |41|aber die seltsame Spannung zwischen ihnen und Su Jing war fast mit Händen zu greifen. Keiner sah den anderen an, und geredet wurde auch nicht. Eigenartig. Ob sie sich gestritten hatten?

Wortlos verschwand die junge Chinesin nach vorn in den Gastraum, wo sämtliche Tische besetzt waren.

Leo schnitt, hackte und säbelte, was das Zeug hielt und hatte kaum Zeit zum Luftholen. In Wang Lis Pfannen und Töpfen zischte und brodelte es, es roch nach heißem Öl, frittiertem Krabbenfleisch und scharfen Gewürzen, und bald rann ihr der Schweiß herunter. Nach einer Stunde war das Schlimmste überstanden und ausreichend Gemüse auf Vorrat in Schüsseln verteilt.

»Braucht ihr mich noch?«

Su Jing, die den ersten Schwung der bestellten Gerichte serviert hatte, ließ sich auf einen Stuhl fallen und schüttelte erschöpft den Kopf. »Danke, dass du geholfen hast. Jetzt kann ich weitermachen.«

»Auch von mir Dank«, sagte Wang Li vom Herd her mit einer kleinen Verbeugung, ohne Su Jing zu beachten. »Und jetzt etwas essen, bitte.«

Für gewöhnlich war das der Zeitpunkt, an dem Leo sich mit einem gefüllten Teller an den Küchentisch setzen konnte. In dieser seltsamen Atmosphäre stand ihr jedoch nicht der Sinn danach, ganz zu schweigen davon, dass sie nach dem Gemüse noch einen Berg von Gedanken abzuarbeiten hatte. Sie murmelte etwas von Müdigkeit und einem anstrengenden Tag, bekam ihr Essen in einer Aluverpackung in die Hand gedrückt und war froh, dass sie sich verkrümeln konnte.

Ob es an der Messezeit lag, dass alles so schräg lief? Illegale |42|Affen, Handys in Blumenkübeln, zugekiffte Tote in Lotusteichen, eine wie umprogrammierte Su Jing … Fehlte noch was? Ach ja, ihre Kündigung, auch nicht ganz unwichtig.

Leo legte das Smartphone vor sich auf den Tisch, während sie zu Abend aß. Wenn es kein Missgeschick gewesen war – und eigentlich konnte niemand so blöd sein, das zu glauben, jedenfalls nicht in nüchternem Zustand –, wenn Ken Zhang das Ding also absichtlich im Bambuskübel verscharrt hatte, dann wollte er entweder: dass es weggeworfen/entsorgt/in Vergessenheit geraten würde. Oder: dass sie es fand.

Vielen Dank, dachte Leo. Ein Ding, das Ken so dringend loswerden wollte, mochte sie auch nicht haben. Erst recht nicht, nachdem er tot war.

»Zugekifft ertrunken«, murmelte Leo. »Dass ich nicht lache.«

Sie schob den Teller beiseite, griff sich das Smartphone und schaltete es ein. Auf dem Display auf der Innenseite der Abdeckung erschienen kurz die drei Affen, danach ein blinkender Strich. Offenbar sollte sie eine PIN eingeben. Klasse. Das war’s dann also schon.

Nein. So schnell würde sie nicht aufgeben.

Leo erinnerte sich an Kens Blick. Hatte Angst darin gelegen? Etwas Dringliches, das sie verstehen sollte? Bloß was? Sie seufzte, lauschte dem Laut hinterher … und setzte sich kerzengerade auf.

Huaahh. Huang. Hue. Sollte das eine Botschaft gewesen sein? Vielleicht brauchte sie keine PIN, sondern ein Codewort. Das Black Ape besaß eine ausziehbare Tastatur, die Buchstabentasten waren neben dem lateinischen Alphabet auch mit chinesischen Schriftzeichen belegt. Leo hielt sich |43|an Latein und versuchte es mit Huah. Auf dem Display erschien eine Reihe Sternchen. Jetzt die OK-Taste drücken – Error.

Nächster Versuch. – Error.

Und wenn sich das Ding nach dem dritten Versuch endgültig ausschaltete? Sie musste es riskieren.

Versuch. – Error. Keine Sperre. Sie machte weiter.

Versuch. Versuch. Versuch. Error. Error. Error.

Es klappte weder mit Huang noch mit Hue, auch nicht mit allen anderen fantasievollen Wörtern, die Leo eingab. Wahrscheinlich war es wirklich nur ein Seufzer gewesen.

Wieder sah sie Ken vor sich, spürte seinen Blick.

Es musste ein Wort geben, das sich so ähnlich anhörte wie das, was sie verstanden hatte. Sie stellte ihren Computer an, fahndete bei Google nach einem Chinesisch-Wörterbuch und landete tatsächlich einen Treffer. Es gab ein Internetwörterbuch, netterweise kostenfrei. »Hua« tippte sie ins Suchfeld, und eine Liste von mindestens vierzig Wörtern erschien, mit Akzenten in allen Variationen. Sah eines so aus, als ob es passen könnte? Huàng, huáng, huang. Nervös, gelb, Lüge.

»Huang«, probierte Leo halblaut. Es klang, als würde sie eine Murmel auf der Zungenspitze balancieren. Sie fütterte den schwarzen Affen mit den neuen Wörtern, inklusive der diversen Akzente. Error.

Leo bezwang ihr Verlangen nach einem Schluck Rum und starrte auf die Lexikonseite. Hinter der westlichen Schreibweise standen jeweils noch die chinesischen Zeichen.

Vielleicht hatte Ken die Tastaturbelegung seines Handys auf Schriftzeichen eingestellt. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um die Miniaturversionen auf der Smartphone-Tastatur |44|zu erkennen. Verflixt schwer auseinanderzuhalten, aber nach dem dritten Versuch klappte es: Sie war drin.

Gelb. Das Codewort war gelb, das Zeichen dafür eine unverständliche Strichelei. Leo fühlte sich, als hätte sie sich gerade ins Pentagon eingehackt.

Sehr schön. Und jetzt? Bevor sie darüber nachdenken konnte, erwachte der schwarze Affe zum Leben. Leo hätte das Smartphone vor Schreck beinahe fallen lassen. Wieder das metallische Geklingel, eine Handynummer wurde angezeigt, darunter zwei Schriftzeichen. Rangehen? Ausstellen? Abwarten? Leo biss sich auf die Lippe. – Nervös. Huàng.

Das Klingeln brach ab, als sie gerade so weit war, den Anruf anzunehmen.

Sie stieß die Luft aus und merkte, wie sie schwitzte. Sie riss die Balkontür auf und trat hinaus ins Dunkel. Die Luft war feucht und nicht mehr so kalt, der Himmel hatte sich bedeckt. Aus der Wohnung von Paul Ostermann fiel Licht in den Hof, der Messegast war offenbar angekommen. Unten in der Küche hielt sich jetzt nur noch Wang Li auf, die Tante hatte sich zurückgezogen. Su Jing kam aus dem Vorratsraum, Wang Li sagte etwas, sie wandte sich ab.

Leo atmete tief ein und aus.

Sie konnte jetzt alles auf sich beruhen lassen und das Handy beiseite legen. Und dann die ganze Nacht wach liegen, weil du vor Neugier platzt, ja?, kommentierte ihre innere Stimme. Und die hatte recht. Sie wollte wissen, wer angerufen hatte. Auf jeden Fall wusste dieser Jemand noch nicht, dass Ken Zhang tot war.

Leo musste eine Weile herumprobieren, dann gelangte sie in die Liste mit den entgangenen Anrufen. Und stellte fest, |45|dass die letzten vier Anrufe von der gleichen Nummer kamen; auch der mitten in der Nacht.

Sie drückte auf Rückruf.

Geistesabwesend schaute sie zu den hellen Fenstern von Wang Lis Küche, während sie dem leisen Tuten an ihrem Ohr lauschte. Es wurde fast von ihrem Herzklopfen übertönt.

Sie sah Su Jing in ihre Schürzentasche greifen. Die Küchentür ging auf. Su Jing kam heraus. Sie schloss die Tür, bevor sie ihr Handy aus der Tasche zog. Leo sah und hörte, verstand aber nicht. Alles geschah gleichzeitig, und ihr Gehirn hinkte hinterher. Es war Su Jings Stimme, die an ihr Ohr drang. Unverständliche Worte, leise, geflüstert, erleichtert, aufgeregt, besorgt, alles zusammen.

»Ken?«

Leo lauschte stumm.

»Wèi! Ken!«

Leo unterbrach die Verbindung und hörte im gleichen Moment, wie sich die Balkontür von Ostermanns vermieteter Wohnung öffnete. Su Jing hob den Kopf. Unwillkürlich wich Leo einen Schritt zurück und verwünschte sich augenblicklich für diesen dummen Reflex. Mit dieser kleinen Bewegung zog sie überhaupt erst die Aufmerksamkeit auf sich.

»Guten Abend«, sagte Mister Kong mit einer angedeuteten Verbeugung erst in Leos, dann in Su Jings Richtung.

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»Kennst du den Typen?«

»Wen?« Su Jing sah nicht auf. Noch nie hatte Leo einen Menschen derart konzentriert fegen sehen.

»Na, den Geschäftsmann, an den Paul vermietet hat.«

Stummes Kopfschütteln. Konzentriertes Fegen.

»Ich dachte nur; weil er doch aus China kommt. Ich an seiner Stelle wäre froh, wenn Landsleute im gleichen Haus wohnen und hätte bestimmt schon Kontakt aufgenommen.«

Su Jing stieß den Besen in eine Ecke, wo er klappernd umfiel. »Was soll das werden? Ein Verhör?«

»Himmel, nein«, sagte Leo erschrocken. Was war denn bloß los mit Su Jing? Leo hatte das Gefühl, einer völlig Fremden dabei zuzusehen, wie sie die Rolle der jungen Chinesin spielte, die sich im Imbiss ihres Onkels nützlich machte. Einer Fremden mit Su Jings Gesichtszügen, aber tiefen Schatten unter geröteten Augen. Hose und Baumwollpullover gehörten der echten Su Jing, saßen aber lockerer als sonst. Wann hatte sie so viel abgenommen? War sie krank oder hatte sie Liebeskummer? Was für gewöhnlich auf das Gleiche hinauslief, dachte Leo. – Su Jing und Ken Zhang? – Hm.

 

Es war früh am Morgen, kurz vor sieben Uhr. Draußen vor dem Haus lärmten die Meisen in der noch kahlen Linde, als ob ein wundervoller Frühlingstag angebrochen wäre. Doch Leo fand gar nichts wunderbar an diesem Morgen, weder das graue Licht, noch den beginnenden Kopfschmerz nach einer durchgrübelten Nacht, und schon gar nicht die reißerische |47|Schlagzeile in der Zeitung, die sie beim Brötchenholen angesprungen hatte. »Tod auf der CeBIT – Ist die Messe in Gefahr?«

Eigentlich hatte sie Su Jing fragen wollen, ob sie zusammen frühstücken würden, wie sie es manchmal taten. Als Leo vom Bäcker zurückgekommen war, brannte Licht im Lokal, und sie hatte spontan gegen die Scheibe geklopft, ohne sich zu fragen, ob das angesichts der neuen Umstände eine gute Idee war.

Aber jetzt war sie hier, und Su Jing wartete offensichtlich immer noch auf eine Antwort.

»Ich dachte nur, was für ein Zufall, der Typ ist nämlich einer der Kunden von diesem Floristikservice, für den ich arbeite, du weißt schon. Er heißt Kong. Also, der Mann, meine ich.«

Normalerweise hätte Su Jing jetzt gefragt, wie es denn so sei auf der Messe, ob Leo die Arbeit gefalle, ob sie vielleicht sogar übernommen werde; sie hätte Interesse gezeigt, Anteil genommen, und Leo hätte ihr von der Kündigung erzählt. Stattdessen hob sie den Besen auf und fegte weiter.

»Und wie geht’s Jian?«, erkundigte sich Leo nach einer Weile.

»Er bekommt zwei neue Zähnchen.«

Was wohl hieß, dass er die ganze Nacht gequengelt und geweint hatte. Möglich, dass Su Jing deshalb so neben der Spur war. Leo zermarterte sich das Hirn, wie sie das Gespräch auf Ken Zhang lenken sollte. Hatte Su Jing das Smartphone in ihrer Hand gesehen? Und begriffen, wer da am anderen Ende der Leitung war?

Aus der Entfernung und in der Dunkelheit konnte sie das eigentlich nicht bemerkt haben. Außerdem hatte Leo das |48|Handy sofort ausgestellt, nichts hatte gefunkelt oder geleuchtet.

Hoffte sie jedenfalls. Vor allem, wenn sie an Mister Kong dachte, der so unversehens auf Paul Ostermanns Balkon erschienen war.

Su Jing schien das Fegen inzwischen zu ihrer neuen Lebensaufgabe erklärt zu haben. Leo konnte sich nicht vorstellen, dass jetzt irgendwo auch nur noch ein Reiskörnchen auf dem Boden herumlag, aber sie machte keine Anstalten, aufzuhören.

»Frühstück?«, fragte Leo vorsichtig.

Stummes Kopfschütteln, konzentriertes Fegen, wie gehabt.

»Tja, also dann … gehe ich mal.« Leo stand auf, um dem lästigen Besen auszuweichen, der jetzt unbedingt unter ihren Tisch wollte. Als sie nach der Brötchentüte griff, rutschte die Zeitung weg, glitt zu Boden und klappte auf. Leo bückte sich, doch Su Jing war schneller.

Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie ließ den Besen fallen, hielt mit zitternden Händen die Zeitung, überflog die wenigen Zeilen. Der Blick irrte zurück zu dem Bild des im Wasser treibenden Ken Zhang. Der zufällig anwesende Pressemensch hatte das Verbot der Kommissarin nicht sehr ernst genommen und statt der Kamera vermutlich sein Fotohandy benutzt. Bis auf die roten Schuhe war nicht viel zu erkennen.

»Bù. – Bù, Ken, bù.«

Nein, hieß das. Nicht. Wenn Wang Li es sagte, klang es sehr entschieden. Bei Su Jing war es nur ein Hauch, ein hilfloses Es darf nicht wahr sein.

Als Leo sie beim Arm fassen und zu einem Stuhl führen wollte, wich sie aus.

|49|»Lass mich. Es ist nichts.« Su Jing hatte sich wieder in der Gewalt. Sie faltete die Zeitung zusammen und reichte sie Leo zurück. Nur ihre Hände zitterten noch leicht.

»Du kanntest ihn, nicht wahr?«, sagte Leo sanft. Sie kam sich vor wie ein Papagei, der dauernd die gleichen Fragen wiederholte. Zu ihrer Verwunderung schüttelte Su Jing entschieden den Kopf.

»Nein, woher denn? Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.«

»Du hast ihn Ken genannt.«

»Unsinn. Das war nur eine Redewendung, bei euch sagt man vielleicht armer Teufel. Mehr nicht.«

»Aber …«

»Sprichst du neuerdings Chinesisch?«, fragte Su Jing mit erhobener Stimme. »Ich kenne den Toten nicht, er geht mich nichts an.«

Nur, dass du ihn seit vorgestern Nacht ungefähr hundertmal angerufen hast, dachte Leo. Sie hatte die Liste der entgangenen Anrufe überprüft, immer wieder tauchte die gleiche Nummer auf. Ihr kam ein Gedanke. Obwohl sie dabei war, gegen eine Wand zu rennen, sagte sie:

»Komisch. Mir war so, als hätte ich euch zusammen gesehen. Vorgestern, beim Tempel an der Karlsruher Straße. Ich war zufällig in der Nähe und …«

Su Jing, die wieder nach ihrem Besen gegriffen hatte, wirbelte herum. »Spionierst du mir nach?« Sie war hochrot im Gesicht.

Treffer, dachte Leo. Gleichzeitig kam sie sich schäbig vor. Gar nichts hatte sie gesehen, es war nur so eine Idee gewesen. Trotzdem machte sie weiter; in beschwichtigendem Tonfall, wie sie hoffte.

|50|»Aber nein, ich sag doch, das war bloß Zufall, ich war auf dem Heimweg und dachte, vielleicht treffe ich dich und wir können zusammen nach Hause gehen. Du warst gerade im Gespräch mit einem Mann, und ich dachte, hey, den kenne ich doch. Sah aus wie der Assistent von Mister Kong, aber ich wollte nicht stören und bin …«

»Du irrst dich. Und überhaupt, für euch sehen wir doch alle gleich aus«, spuckte Su Jing ihr entgegen. »Schwarze Haare, Schlitzaugen und schon ist alles klar, nicht wahr? Bèndàn!«

Das, dachte Leo gekränkt und verwirrt, war mit Sicherheit ein Schimpfwort.

»Jetzt entschuldige mich, ich habe zu tun.« Su Jing griff wieder zu ihrem Besen und Leo schlich davon wie ein geprügelter Hund.

Sie verstand es einfach nicht. Wieso log Su Jing? Zugegeben, sie selbst war auch ziemlich großzügig mit der Wahrheit umgegangen. Reine Notwehr, versuchte sich ihre innere Stimme zu rechtfertigen. Aber so einfach war es nicht. Nichts schien auf einmal mehr einfach, sogar die Aussicht auf Frühstück glich jetzt einer kaum zu bewältigenden Aufgabe.

Mit Mühe würgte Leo ein halbes Brötchen hinunter und durchblätterte lustlos die Zeitung. Der Artikel über den Toten im Lotusteich gab nicht viel her außer einer Menge Spekulationen, die sich vor allem um die drei Affen drehten, denn natürlich war die Geschichte vom Vortag bekannt geworden: Trugen sie womöglich implantierte Chips, mit denen eine neuartige Präsentation gesteuert werden konnte? Waren sie dressiert? Waren es überhaupt Affen oder computergesteuerte Module mit Fell? Waren es Avatare? – War der |51|Verfasser dieser Zeilen besoffen gewesen, als er sie schrieb? Leo schüttelte den Kopf. Avatare, also wirklich.

Auf den City-Seiten fand sich eine aufschlussreichere Information: »Bomben-Trickser geschnappt: 16-Jähriger legt Messe lahm.« Ein pixeliges Farbfoto zeigte einen unglücklichen mopsgesichtigen Teenager mit Pickeln, Basecap und sechs bis sieben Kilo zu viel über dem beängstigend tief sitzenden Hosenbund. Der Schulabbrecher aus Laatzen war einem Sicherheitsmann aufgefallen, weil er sich während der Räumung des Geländes auf einem der Parkplätze aufgehalten und Fotos mit seinem Handy geschossen hatte; und das nicht nur einmal. Außerdem hatte er den Fehler gemacht, zu rasch hintereinander zuzuschlagen. Beim zweiten Mal, als die Leiche gefunden und es so richtig schön spannend wurde, war er natürlich auf seinem Beobachtungsposten geblieben. Dann war ihm die Idee gekommen, dass ein bisschen Panik während des für den Abend erwarteten Staatsbesuchs ja noch viel spannender sein musste. Kaum waren Feuerwehr und Polizei abgerückt, hatte er die dritte Bombendrohung abgeschickt, die gar nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangt war. Bei seiner Festnahme sei er überrascht gewesen, habe aber keinerlei Widerstand geleistet, hieß es.

Da wollte jemand einmal der eigenen Bedeutungslosigkeit entfliehen und so richtig Wirbel verursachen, dachte Leo mitleidig. Ob der Junge ahnte, dass seine schwachsinnige Aktion dazu beigetragen hatte, Ken Zhang ohne Zeugen sterben zu lassen? Oder war der Typ am Ende irgendwie darin verwickelt? Leo sah sich das Foto noch einmal genauer an. Sie konnte es sich nicht vorstellen.

Andererseits gab es eine Menge unvorstellbarer Dinge, die |52|dennoch passierten. Der Anblick von Kens Leiche im Lotusteich ging ihr nicht aus dem Kopf. Leo legte die angebissene zweite Brötchenhälfte beiseite, der Appetit war ihr endgültig vergangen.

Während sie in den grauen Morgenhimmel vor ihrem Küchenfenster starrte, überlegte sie, ob ihre Messe-Staff-Card wohl noch gültig war. Sie hatte den Mitarbeiterausweis jedenfalls nicht abgeben müssen. Wenn es ihr gelang, noch vor der offiziellen Öffnungszeit als Mitarbeiterin auf das Gelände zu kommen, konnte sie sich ungestört ein bisschen umsehen, bevor der Besucheransturm losging und möglichst auch, bevor Mister Kong an seinem Stand auftauchte. Was genau sie sich davon eigentlich versprach, wusste sie nicht. Dies schien der Tag der Blindflüge zu werden.

Aber auf der Messe hatte schließlich alles angefangen. Ken Zhang, der Bambus, das Handy, ganz zu schweigen von der verrückten Geschichte mit den Affen. Leo hätte ihren letzten Cent darauf verwettet, dass es auf Hannovers Messegelände noch mehr zu entdecken gab als die neuesten Entwicklungen der Kommunikationstechnologie.

Nur dass sie auffliegen könnte, machte sie etwas nervös. Was, wenn sie jemandem über den Weg lief, der wusste, dass sie nicht mehr auf der Messe arbeitete?

Na und, antwortete Dipl.-Ing. Leonore Heller. Du bist Gartenarchitektin, schon vergessen? Für Gartenarchitekten gab es bestimmt jede Menge neue Software und andere praktische Dinge auf der CeBIT. Neueste AutoCAD-Versionen, raffinierte Programme auf Kleinstcomputern, unempfindlich gegen Schmutz, Wasser und Naturkatastrophen aller Art. Nichts davon konnte sie sich derzeit leisten, außerdem hatte |53|sie noch nicht einmal das aus den USA mitgebrachte und schrecklich teure Programm zur 3-D-Animation großartiger Gärten durchschaut. Aber das ging niemanden etwas an.

Leo war schon fast aus der Tür, als ihr noch zwei Dinge einfielen.

Ken Zhangs Smartphone wanderte in ihre Schultertasche. Eigentlich gab es keinen Grund, den schwarzen Affen mitzunehmen. Aber seit im letzten November jemand in ihre Wohnung eingebrochen war und alles durchwühlt hatte, war sie vorsichtig geworden. Irgendwas hatte es mit diesem Handy auf sich, sonst hätte Ken es nicht so idiotisch versteckt und ihr auch noch das Passwort verraten. Jemand musste sehr daran interessiert sein, und Leo hatte den Verdacht, dass Jemand der zweite Vorname von Mister Kong war. Solange der sich in Paul Ostermanns Wohnung eingenistet hatte, wollte sie kein Risiko eingehen.

Sie schnappte sich noch die Tüte mit den restlichen Brötchen vom Küchentisch, kritzelte »Statt Coffee-Pads – Guten Appetit!« darauf und legte sie neben den Umzugskartons vor die Tür, um sich im gleichen Moment zu fragen, ob das einfach eine nette Geste sein sollte oder ob sie anfälliger für Daniel Reimers’ nettes Lächeln war als sie dachte.

War das nicht überhaupt völlig egal? Sie hatte wahrhaftig genug andere Probleme.

Leo huschte an der Messewohnung vorbei und war froh, Mister Kong nicht zu begegnen. Wenn bloß Paul schon zurück wäre und seine Wohnung wieder in Besitz genommen hätte. Wahrscheinlich musste man sie erst mal ausräuchern, um die Atmosphäre zu neutralisieren. Paul und seine Begeisterung für Bücher – je älter und staubiger, desto besser – seine |54|bedächtige Art und sein freundliches Maulwurfsblinzeln fehlten ihr. Mit ihm hätte sie über all die Merkwürdigkeiten reden können.

Als sie ihr Rad aus der Toreinfahrt schob, fiel ihr auf, dass sie den dunkelgrünen Roadster schon länger nicht gesehen hatte. Vielleicht hatte sie beim Brötchenholen auch nicht darauf geachtet. Wahrscheinlicher war es wohl, dass sich der BMW-Fahrer nur vorübergehend in diese Gegend verirrt hatte. Auch der Europcar-Mietwagen stand nicht mehr vor dem Haus. Dafür entdeckte sie an der Linde einen Zettel, mit Reißzwecken festgepinnt. Missbilligend zog Leo sie heraus und warf erst dann einen Blick auf das Papier.

Dringend!!! Gärtnerin gesucht in Waldhausen. Pkw wünschenswert.

 

Tja, wünschenswert war vieles. Aber immerhin, der erste freundliche Fingerzeig vom Schicksal oder wem auch immer an diesem Tag. Leo riss einen der Schnipsel mit Handy- und Festnetznummer ab, den ersten; noch hatte niemand das Gleiche getan. Dabei würde es auch bleiben. Unauffällig zerknüllte sie den Rest und warf ihn in den nächsten Abfalleimer. Die Meisen schimpften.

Kurz nach acht stand Leo am Hermesplatz. Sie hatte noch eine knappe Stunde, bis die Messe öffnete. Sollte sie während dieser Zeit auf Irene Sorghut treffen, konnte es ein bisschen heikel werden. Nach neun Uhr würde die Aushilfskraft Leo sich dann schlagartig in Dipl.-Ing. Leonore Heller, Fachbesucherin mit besonderem Interesse an CAD-Software für Landschaftsplaner, verwandeln. Sie sollte sich eigentlich mal Visitenkarten drucken lassen.

|55|Leo ließ den Messeeingang Nord rechts liegen und betrat die Halle, über deren Glastüren unübersehbar STAFF – Nur für Mitarbeiter stand. Es herrschte nicht mehr so viel Betrieb wie an den vorherigen Tagen, außerdem hatte der Dienst für die meisten längst angefangen. Einer der Sicherheitsleute grinste ihr zu.

»Bisschen spät dran heute.«

»Bisschen gefeiert gestern«, gab Leo zurück. Wo war jetzt der verdammte Plastikausweis, den hatte sie doch hoffentlich nicht vergessen? Der Sicherheitsmann verschränkte abwartend die Arme. Leo tastete ihre Taschen ab und stellte fest, dass sie nicht nur Visitenkarten, sondern auch eine neue Jacke brauchen konnte. In der Innentasche war ein Loch, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Karte aus den unergründlichen Tiefen zwischen Stoff und Futter herausgefingert hatte.

Erleichtert schob sie das Ding in den Schlitz des Lesegeräts, um noch erleichterter festzustellen, dass die Sperre sich öffnete. Leo schlüpfte hindurch und machte, dass sie fortkam, bevor doch noch irgendwelche Alarmanlagen losschrillten und sie entlarvten.

»Frohes Schaffen!«, rief der Sicherheitsmann ihr hinterher.

Leo entschied sich für die Runde, die sie auch gedreht hätte, wäre sie noch im Dienst gewesen. Die Tür zu einem der Toilettenräume in Halle 24 stand offen, eine Putzfrau hatte ihren Wagen davor abgestellt. Schnell griff Leo sich einen blauen Müllsack, damit sah sie immerhin ein bisschen nach arbeitendem Fußvolk aus. Das Ding erwies sich außerdem als nützlich, als sie an den ersten eingetopften Sektflaschen vorbeikam. |56|Offenbar wurden jetzt schon täglich Messepartys gefeiert und nicht erst am letzten Abend. An einem der von ihr gestern erst so schön hergerichteten Stände hatte jemand in einen Kübel gekotzt. Dafür fühlte sie sich nicht zuständig, aber die Sektflaschen wanderten in den Müllbeutel, und überall dort, wo kleine Krater geklaute Blumen verrieten, strich sie die Erde wieder glatt. Es war ein Reflex, auch wenn sie das eigentlich nichts mehr anging. Um den Rest konnte sich Irene Sorghut kümmern.

Stand C.53.1 ließ nichts zu wünschen übrig. Die Töpfe mit den Funkien waren ein wenig umgestellt worden, aber sonst sah alles so aus, wie Leo es hinterlassen hatte. Der Bambus hielt sich aufrecht, die Steinlaternen waren zu schwer, um geklaut zu werden, und im Becken schwamm nichts, was dort nicht hingehörte. Wenn man vom Lotus mal absah, der seine Blüten schmollend geschlossen hielt und deutlich zeigte, dass es ihm hier nicht behagte.

»Kann ich nicht ändern«, sagte Leo mitleidig. »Halt durch, ja?«

»Ich werde mich bemühen«, antwortete eine Stimme, und Leo fuhr erschrocken herum. Daniel Reimers stand hinter ihr und grinste sie an. »Die CeBIT ist wirklich immer höllisch anstrengend.«

»Ach, so ein … äh, Zufall«, stotterte Leo und sah verstohlen auf ihre Uhr. Verflixt, war es schon neun?

Daniel Reimers legte ein schwarzes Ledermäppchen auf einem der Tresen ab. Er trug einen schmal geschnittenen dunklen Anzug, der selbst an seiner schlaksigen Figur noch aussah, als hätte er sich mit dem Schuhlöffel hineingezwängt. Stand ihm gut.

|57|»Zufall? Nicht wirklich. Ich arbeite hier. Du auch, wie ich sehe«, meinte er mit einem Blick auf den blauen Müllbeutel.

Leo spürte, dass sie rot wurde.

Und da war es wieder, das Strahlelächeln. »Ist dir doch recht, wenn wir uns duzen? Du hast schließlich eben damit angefangen«, neckte er.

»Ich … oh, natürlich. – Leo«, sagte Leo und hielt ihm die Hand hin. Daniel Reimers ignorierte sie, umfasste stattdessen ihre Schultern und drückte ihr links und rechts ein Küsschen auf die Wangen, die gleich noch ein bisschen röter wurden.

»Hallo Leo.« Er ließ seine Hände ein bisschen länger auf ihren Schultern ruhen, als nötig gewesen wäre. »Schön, dich zu treffen. Ich mag Menschen, die mit Blumen reden. Machst du hier sauber?«

Leo nickte schwach. Hörte er etwa auch, wenn sie mit Edwina …? Großartig. Sie würde noch ein bisschen Scheinputz veranstalten und danach in die Leine springen. Noch nie war ihr etwas so peinlich gewesen. Abgesehen von den Affen und dem Käfig vielleicht. Himmel, wenn sie sich vorstellte, er wäre dabei gewesen!

Unter seinem Blick fühlte Leo sich wie unter einem Mikroskop. Vielleicht fand er es ja doch etwas merkwürdig, dass sie mit Jacke und Schultertasche zum Dienst erschienen war. Entschlossen trat sie einen Schritt zurück und schwang demonstrativ ihren Müllbeutel.

»Tja, ich sollte dann besser … Gibt noch viel zu tun.«

»Ach was, erst trinken wir einen Kaffee zusammen.« Er schloss eine Schranktür auf, hinter der eine Art Kochnische mit Spülbecken und Mini-Kühlschrank lag. Auf einem Regal |58|stand neben einem Wasserkocher, Teedosen und winzigen Porzellanschälchen eine Espressomaschine, unter dem Regal eine Kiste Mineralwasser ohne Kohlensäure. Daniel nahm eine Flasche heraus, schraubte sie auf und trank sie ohne abzusetzen leer.

»Aaah! Mein Gott, ich war am Verdursten. Willst du auch was?«

»Nein danke, Kaffee genügt.«

»Kommt sofort.« Er holte ein flaches Döschen aus der Tasche, in dem sich laut Aufschrift einmal Pfeiffers Extrascharfe Salmiakpastillen befunden hatten, entnahm ihm eine kleine rosa Pille und spülte sie mit dem restlichen Wasser hinunter.

»Heuschnupfen«, erklärte er und verzog das Gesicht. Leo gab einen mitfühlenden Laut von sich.

Er stellte die leere Flasche zurück und zog die Espressomaschine ein Stück vor.

»Für besondere Gäste.« Ein verschwörerisches Lächeln in Leos Richtung. »Mister Kong bevorzugt Tee, aber einen ganzen Tag ohne Koffein halte ich nicht durch. Ach, entschuldige, das kannst du nicht wissen: Kong gehört die Firma hier.«

»Doch«, sagte Leo und sah zu, wie er Wasser in die Maschine füllte. »Weiß ich. Steht ja groß auf diesem Affenbanner. Und außerdem wohnt er bei uns im Haus.«

»Richtig, daran habe ich gar nicht gedacht. Also hast du ihn schon kennengelernt.« Völlig neutral klang das, und Leo bemühte sich um einen ebenso nichtssagenden Tonfall, als sie antwortete:

»Nur flüchtig.«

Daniel hantierte an der Maschine herum und stellte zwei |59|braune Tässchen bereit. »Warst du gestern eigentlich auch hier?«

Leo nickte vorsichtig.

»Dann weißt du ja von der schrecklichen Geschichte.« Er drückte einen Knopf und die Maschine begann zu fauchen.

»Es steht heute Morgen schon in der Zeitung«, sagte Leo. »Der arme Ken.«

Daniel Reimers hob überrascht den Kopf. »Ich erinnere mich gar nicht, dass der Name in dem Artikel erwähnt wird.«

»Wird er auch nicht. Ich habe ein paar Mal mit Ken Zhang gesprochen, das ist alles. Und ich war hier, als sie ihn aus dem Wasser gezogen haben.«

»Du Arme, das muss ja schrecklich gewesen sein.« Daniel seufzte. »Ken war ein netter Kerl. Ich mochte ihn wirklich gerne. – Worüber habt ihr euch denn so unterhalten?«

Er registrierte ihr irritiertes Schweigen und breitete entschuldigend die Hände aus:

»Sorry, das war nicht so neugierig gemeint, wie es vielleicht klingt. Ich will wirklich nicht schlecht über den armen Ken reden. Ich hatte einfach immer den Eindruck, dass ihn außer seiner Karriere nicht viel interessiert.«