Böse Affen

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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Es begann nach Kaffee zu duften, die Maschine röchelte weiter vor sich hin, aber die Tassen waren noch leer. Offensichtlich musste das Ding erst warmlaufen. Ungeduldig trat Leo von einem Fuß auf den anderen. Viertel vor neun, es wurde Zeit, dass sie hier weg kam, um sich irgendwo in einer anderen Halle in Dipl.-Ing. Leonore Heller zu verwandeln. Sie war auch nicht scharf darauf, den sympathischen Mister Kong zu treffen, der sicher bald aufkreuzen würde. Andererseits hatte Daniels Bemerkung sie neugierig gemacht.

|60|»Voilà, der Espresso.« Schwungvoll stellte er die beiden Tassen, die sich endlich gefüllt hatten, auf ein Tischchen. »Und hier ist der Zucker.«

»Ken Zhang hatte also nur seine Karriere im Sinn?«, fragte Leo.

»Na ja, er hat sich kaum für andere Dinge interessiert. Deshalb war es schwer, mit ihm ein privates Gespräch zu führen. Er war einfach total einsilbig, hatte auch keine Lust, mal mit auszugehen oder so. Aber das ist bei den meisten Studenten aus China so, außerhalb der Uni schotten die sich ziemlich ab.«

»Ken war noch Student?«

»Klar. Genau wie ich. Aber von irgendwas muss man ja leben, oder? Also arbeiten wir nebenher.« Genüsslich schlürfte er seinen Espresso. »Ah, tut der gut. Wenn ich jetzt noch was zu essen auftreiben könnte … Frühstück war nicht mehr drin heute Morgen. Ich war noch gar nicht zu Hause.« Er grinste.

Leo verbrannte sich die Zunge an ihrem Espresso und hechelte mit gespitzten Lippen. – Gar nicht zu Hause. – Soso. – Aha.

Es war ja völlig egal, wo er die Nacht verbrachte. Und mit wem. Er war locker zehn Jahre jünger als sie. – Oder acht. – Vielleicht nur sechs?

Herrgott, Leo, jetzt reiß dich mal zusammen.

Sie dachte an die Brötchentüte. Der düstere Metalliker dürfte sich jedenfalls gefreut haben.

Leo versuchte sich wieder zu konzentrieren. Eine andere Frage fiel ihr ein.

»Was hatten eigentlich die Affen hier zu suchen?«

|61|Mit einem bekümmerten Ausdruck im Gesicht setzte Daniel Reimers seine Espressotasse ab.

»Ja, die Affen. Hab schon davon gehört. Wo sind die Viecher eigentlich abgeblieben?«

»Ein anonymer Anrufer hat den Tierschutzbund alarmiert. Die sind samt Polizei angerückt und haben die Affen mitgenommen.« Nebensächliche Details der Geschichte, wie geklaute Autoschlüssel und eine festgeklemmte Heldin, verschwieg sie lieber.

Ratloses Schütteln der dunkelblonden Mähne. »Das Ganze war garantiert nur eine schräge Idee von Ken. Wahrscheinlich hat er gedacht, damit könnte er bei Kong Eindruck schinden, als großer Werbestratege oder so. Im Grunde komisch, oder?«

Die drei verstörten Affen fanden das sicher überhaupt nicht. Leo erwiderte nichts.

Mittlerweile war es in Halle 24 lebendig geworden. Ringsum öffneten die Stände, flammten Scheinwerfer auf, fanden sich Mitarbeiter ein. Auch Stand C.53.1 bekam Verstärkung in Gestalt zweier junger Chinesen, die flüchtig in Leos Richtung nickten, ein leises Hallo mit Daniel Reimers tauschten und sich daranmachten, Prospekte auszulegen, kleine Aufsteller mit Faltblättern auf den Tischen zu verteilen und Handys, die Leo sehr an das in ihrer Schultertasche erinnerten, auszupacken. Hatte sie die beiden Männer in den letzten Tagen schon mal gesehen? Leo hatte keine Ahnung und erinnerte sich mit einem Anflug von Schuldgefühl an Su Jings Worte – für euch sehen wir doch alle gleich aus.

»Eins würde ich gerne noch wissen«, wandte sie sich an Daniel. »Was genau macht Kong eigentlich?«

»Geschäfte, was denn sonst?« Er lachte. Dann wurde er wieder |62|ernst und deutete auf das Banner mit den Affen. »Kong Solutions ist einer der größten Hersteller von Kommunikationstechnik in der Volksrepublik China. Das Hauptsegment bilden natürlich Handys, und der absolute Star in diesem Jahr ist das Black Ape. Warte, ich zeig’s dir.«

Er tauchte kurz hinter einem der Tresen ab, kam mit einem kleinen Karton wieder zurück und zog zwischen Styropor und eingeschweißten Schriftstücken eine nagelneue Version von Ken Zhangs Handy hervor.

»Das ist es: Das neue Super-Smartphone Asiens.« Daniel ließ es aus seiner Plastikhülle gleiten und legte es vor Leo auf den Tisch.

Leo beugte sich vor. »Ah ja. Hübsch.«

»Hübsch?!« Mit einem nachsichtigen Lächeln nahm er das Gerät wieder auf, um ihr die Details anzupreisen: »Ausziehbare Tastatur, Fünf-Megapixel-Digitalkamera, zusätzliche Frontkamera für Video-Telefonate. Speicher 256 MB, 3,2-Zoll-Touchscreen. Willst du noch mehr hören?«

»Unbedingt«, sagte Leo.

»Berührungsempfindliche Zoomleiste, zwei USB-Ports, GPS-Empfänger, GSM, GPRS, UMTS, HSDPA, Bluetooth, WLAN. Elf Zentimeter lang, sechs Zentimeter breit, lächerliche zwölf Millimeter hoch. Und« – er hob den Zeigefinger, jetzt kam offenbar der absolute Knüller: »Man kann es mit einem Code sichern. Keine simple PIN-Nummer wie früher, die einem zugeteilt wird, nein: Jeder User programmiert sein persönliches Passwort ein. Was sagst du dazu?«

»Mir fehlen die Worte. Kann man mit dem Ding auch telefonieren?«

Er lächelte nachsichtig. »Man kann. Das Einzige, womit |63|Mister Kong noch nicht so ganz zufrieden ist, sind die Affen, die auf dem Display erscheinen, wenn ein Anruf kommt. Sie sehen ein bisschen … seltsam aus.«

Ja, böse, hätte Leo beinahe gesagt und sich damit verraten, verkniff es sich aber gerade noch. Bis zu den USB-Anschlüssen war sie einigermaßen mitgekommen, aber ungefähr bei GSM und all den anderen Begriffen, die irgendwie nach Infektionskrankheiten klangen, hatte sie auf Autopilot geschaltet. Mühsam versuchte sie nun den Kurs wiederzufinden.

»Das alles ist sensationell, nehme ich an.«

Daniel beugte sich verschwörerisch zu ihr. »Vergiss die technischen Details. Über die verfügt mittlerweile fast jedes Smartphone. Sensationell ist allein der Preis, den wir vor allem der Tatsache zu verdanken haben, dass Mister Kong nicht nur auf die Kommunikationssparte setzt, sondern ein Imperium verschiedenster Firmen leitet. Und mit denen ist er äußerst erfolgreich.«

Bevor er Genaueres verraten konnte, kam einer der Chinesen mit einem technischen Problem an, von dem Leo nur das Fragezeichen am Ende verstand.

»Entschuldige, ich muss mal kurz nach hinten.« Daniel verschwand, die beiden Mitarbeiter standen über eine technische Zeichnung gebeugt und Leo nutzte ihre Chance.

Als er zurückkam, entging ihr nicht, wie er mit einem schnellen Blick die Tischplatte überprüfte: Espressotassen, Black Ape, Karton, alles noch da. Harmlos hielt Leo ein Faltblatt und einen der Prospekte hoch.

»Darf ich mir die mitnehmen?«

»Natürlich. Ich würde dir das Ding ja gerne schenken«, |64|flüsterte er Leo zu. »Aber so billig ist es nun auch wieder nicht.«

Leo bedachte ihn mit einem verständnisvollen Lächeln und raffte ihren Müllsack an sich, zum Zeichen, dass sie jetzt aber wirklich aufbrechen musste.

»Ich bin mit dem Espresso zufrieden. Mit diesem Black Ape könnte ich sowieso nicht umgehen.«

Aber das würde sich ändern. Vergnügt winkte sie zum Abschied mit Faltblatt und Prospekt, zwischen denen gut verborgen ein in Plastik eingeschweißtes Heftchen lag: Die Gebrauchsanweisung aus dem Original Kong-Solutions-Karton. Ken hatte sein Black Ape nicht nur vor Mister Kong versteckt; es war auch seine Absicht gewesen, ihr, Leo, den Zugang zu ermöglichen, sonst hätte er ihr das Passwort nicht zugeflüstert. Was für Geheimnisse waren darin abgespeichert? Der schwarze Affe und Leo Heller mussten sich dringend ein bisschen besser kennenlernen.

Leo entsorgte den blauen Beutel in einem Müllcontainer und streunte dann unbehelligt noch ein paar Stunden durch die Ausstellungshallen. Am Ende, schon völlig durcheinander angesichts der unzähligen neuen Programme für Landschaftsplaner und Gartenarchitekten, entdeckte sie die deutsche Lizenz der Software, die sie sich aus den USA mitgebracht hatte; hier wurde sie angepriesen als brandneu und das Nonplusultra im Gartenbau. Und sie kostete doppelt so viel. Gartenarchitektin Leonore Heller, immer auf der Höhe ihrer Zeit, verließ die Messe mit einem Gefühl der Genugtuung.

Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass das Wetter umgeschlagen |65|war. Eine Warmfront schwappte heran und brachte neben milder Luft und stürmischem Wind dunkle Regenwolken mit. Ob die noch dichthielten, bis sie dem Vien Giac Kloster einen weiteren Besuch abgestattet hatte? Seit ihrem Zusammenstoß mit Su Jing am Morgen hatte Leo das Gefühl, noch einen Versuch zur Versöhnung unternehmen zu müssen. Und da das Kloster zu Su Jings bevorzugtem Aufenthaltsort geworden war, würde sie sie sicherlich dort finden. Vielleicht war sie ja ein bisschen entspannter nach ein paar Stunden Meditation oder Mantrasingen oder was immer sie dort tat.

Auf der Karlsruher Straße war um diese Tageszeit etwas weniger los. Leo wechselte auf die andere Seite, kettete ihr Rad an einen Laternenpfahl und dann, seltsam befangen auf einmal, traute sie sich nicht weiter und stand unschlüssig vor dem großen Tor, das diesmal geschlossen war. Sie wollte kein neugieriger Eindringling sein und auch keiner von diesen Religionstouristen, die immer dann, wenn der sympathische Dalai-Lama gerade wieder irgendwo aufgetreten war, entdeckten, dass sie sich in Wahrheit ja schon immer zum Buddhismus hingezogen fühlten. – War er eigentlich gerade irgendwo aufgetreten? Leo wusste es nicht. Sie wusste nur: Sie war neugierig. Und sie wäre ein Eindringling, wenn sie unbefugt das Gelände betreten würde.

Auf dem Klosterhof ließ sich niemand blicken. Selbst hier vor dem Tor meinte Leo eine Atmosphäre von Stille, Sammlung und Konzentration zu spüren, die vielleicht auf sie abfärben würde, wenn sie für einen Moment die Augen schloss.

 

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine heisere, tiefe Stimme hinter ihr, und Leo zuckte vor Schreck zusammen.

|66|Lautlos und wie aus dem Nichts – von wo kam er, sie stand vor dem Tor, er müsste doch auf der anderen Seite sein, dachte sie verwirrt – war ein Mönch an sie herangetreten, hager, kahl geschoren und fast zwei Köpfe größer als sie selbst; der größte Asiate, der ihr bisher begegnet war. Aus der zu kurzen braunen Kutte ragten Beine in einer grauen Leinenhose, die Füße steckten in schwarzen wattierten Stiefeln.

»Unser Abt ist nicht da. Falls Sie Fragen haben, kann ich sie Ihnen vielleicht beantworten. Ich bin Bruder Minh.«

Nicht mal die Andeutung eines Lächelns war in seinen strengen Gesichtszügen zu erkennen, aber die Augen hinter den randlosen Brillengläsern blickten zumindest nicht unfreundlich. Sein Deutsch hatte eine leicht französische Einfärbung.

»Entschuldigen Sie«, sagte Leo endlich, nachdem sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. »Ich wollte niemanden behelligen …«

»Bislang tun Sie das auch nicht«, sagte der Mönch. »Es ist nicht verboten, vor unserem Tor zu stehen.«

»Ach so. Ja. Ich dachte auch nur, ich würde eine Freundin von mir hier finden. Su Jing Shidu, möglicherweise kennen Sie sie?«

»Möglicherweise«, erwiderte der Mönch. Unter seinem aufmerksamen Blick wurde Leo unerklärlich verlegen. Sie rettete sich in einen nervösen Wortschwall – tja, da sei sie wohl vergebens gekommen, es sehe gar nicht so aus, als ob Su Jing da sei, die habe nämlich immer ihren kleinen Sohn dabei, und dann müsste der Buggy ja irgendwo im Hof stehen, nicht wahr?

»Nein. Muss er nicht«, sagte der Mönch, dessen raue Stimme |67|mittlerweile eindeutig belustigt klang, obwohl er weiterhin kaum eine Miene verzog. »Sie könnte ihn auch im Gebäude abgestellt haben.«

Was zutreffend und im Grunde völlig unerheblich war. Zum Glück hatte Bruder Minh offenbar beschlossen, Leo aus ihrer Verlegenheit zu erlösen.

»Sie haben recht«, sagte er freundlich. »Ihre Freundin ist nicht hier, ich habe sie heute überhaupt noch nicht gesehen. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Nicht nötig. Danke. Ich werde sie sicher später noch treffen.«

Der Mönch deutete eine kleine Verbeugung an und machte Anstalten, wegzugehen, als Leo etwas einfiel. Das hier war ihre Chance, endlich eine Antwort zu bekommen, hier hatte sie einen Experten vor sich.

»Entschuldigung … ich hätte doch noch eine Frage. Im Buddhismus gibt es doch diese berühmten drei Affen. Können Sie mir sagen, was genau die bedeuten?« Leo hatte kaum zu Ende gesprochen, als sie schon das Gefühl überkam, eine Ungehörigkeit begangen zu haben. Oder warum sonst musterte der Mönch sie plötzlich aus zusammengekniffenen Augen, als überlege er, ob er sie nicht doch davonscheuchen sollte?

»Es wundert mich, dass Sie ausgerechnet etwas über die Affen wissen wollen«, sagte er schließlich.

Warum denn nicht, dachte Leo. Es würde sie natürlich auch interessieren, was er unter seiner Kutte trug, wo er so gut Deutsch gelernt hatte und woher sein französischer Akzent kam und ob er vielleicht mal was von Hermann Hesse gehört oder, noch besser, ein Bild von ihm gesehen hatte, denn an |68|den erinnerte Bruder Minh sie ganz frappierend, wie ihr plötzlich klar wurde.

»Ich habe etwas zu erledigen.« Der Mönch deutete zur Sackgasse auf der Nordseite des Klostergeländes. »Wenn Sie mich das kleine Stück begleiten wollen, erzähle ich Ihnen inzwischen gern, was ich weiß.«

Leo willigte ein.

»Die drei Affen, von denen Sie gehört haben, stehen für eine buddhistische Lebensregel. Eine von vielen, wie ich betonen möchte«, sagte Bruder Minh, als sie in die Sackgasse einbogen, eine Fortsetzung der Straße Am Eichelkamp, wie Leo bemerkte. Jetzt im Tageslicht erkannte sie auch, dass die Straße an den Bahngleisen der ICE-Strecke Richtung Süden endete.

»Für die Form des Buddhismus, die wir hier praktizieren, ist sie eher von untergeordneter Bedeutung. Wie die ursprüngliche buddhistische Lehre stammt sie aus Indien und wurde in Form eines Sprichwortes überliefert. Es bedeutet so viel wie nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen.«

Leo nickte. Das war ziemlich bekannt. Als Nächstes erfuhr sie, dass es die Japaner gewesen waren, die auf die Affen als Sinnbild für diese Regel gekommen waren. Das Affenmotiv werde häufig in japanischen Tempeln verwendet und habe sich im Laufe der Zeit immer weiter verbreitet, sagte der Mönch.

»Im Westen wird es leider häufig falsch interpretiert. Es geht nicht darum, Augen und Ohren vor unbequemen Wahrheiten zu verschließen, sich taub zu stellen und nichts zu unternehmen. Im Gegenteil. Die Affen mahnen zum richtigen |69|Umgang mit schlechten Dingen. Das Schlechte soll weder über Augen noch Ohren einen Weg in den Menschen finden. Und der Mensch soll auch nichts Schlechtes reden. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«

Ja. – Nein. – Nicht wirklich, dachte Leo. Lebensregel hin oder her, eine logische Erklärung für die drei Affen auf der Messe ergab das nicht. Es sei denn, sie sollten wirklich nur ein bizarrer Werbegag sein. Vielleicht hätte sich Mister Kong etwas gründlicher mit der Affenbotschaft befassen sollen.

»Vor ein paar Tagen habe ich bereits mit dem Freund Ihrer Freundin ein Gespräch über dieses Thema geführt«, sagte der Mönch in ihre Gedanken hinein.

Der Freund einer Freundin …?

»Ken Zhang?«

Bruder Minh nickte. »Der ehrenwerte Ken Zhang hatte vor, uns – dem Kloster – drei Affen zu schenken. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, sollten die Tiere vorübergehend auf der Messe ausgestellt werden und dann anschließend bei uns im Kloster bleiben. Ich musste Herrn Zhang leider sagen, dass wir kein Interesse haben.«

»Warum denn nicht?«

»Ich habe es eben erläutert.« Der Mönch lächelte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Die Affen besitzen für uns keine große spirituelle Bedeutung. Und außerdem sind wir kein Zoo. Wir möchten nicht, dass Leute nur kommen, um sich exotische Tiere anzusehen. In Vientiane hatten wir einige Zeit Tiger beim Tempel. Die Touristen wollten uns dauernd fotografieren.«

Ah, Vientiane; er kam aus Laos, daher der Akzent. Soweit |70|Leo wusste, wurde in der laotischen Hauptstadt neben der Landessprache auch Französisch gesprochen.

Inzwischen hatten sie ein weiteres, kleineres Tor in der Klostermauer erreicht. Es gab also noch einen Seiteneingang, er stand offen. Hinter dem eigentlichen Tempel befand sich ein Anbau, zu dem noch ein kleiner Holzschuppen gehörte. Das rohe, unverputzte Mauerwerk war offenbar einmal rosa getüncht gewesen. Inzwischen sah es aus, als hätte sich ein Irrer mit einem Sandstrahlgebläse daran ausgetobt. Fenster und Türen des Steinbaus schienen neu zu sein. Lotus-Begegnungsstätte. Buddhistisches sozio-kulturelles Zentrum stand auf dem kleinen Messingschild am Torpfosten.

Leo ging ein Licht auf. Der Mönch bemerkte es und lächelte.

»Ja«, sagte er. »Wenn Sie Ihre Freundin das nächste Mal suchen, sehen Sie gleich hier nach. Su Jing ist häufig hier. Heute wie gesagt nicht.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Der ehrenwerte Ken Zhang wollte nicht, dass Frau Shidu von seiner Idee mit den Affen erfährt. Es sollte eine Überraschung sein. Da nichts daraus geworden ist, wäre es wohl gut, nicht weiter darüber zu reden.«

Leo nickte. Überraschung, soso.

Sie hatte erwartet, dass sie durch das Tor treten würden, doch der Mönch ging noch ein paar Schritte weiter, bis die Klostermauer einen Knick machte und wieder nach Süden verlief. Hier schloss sich eine umzäunte Wiese an das Klostergelände an, an einer Seite gesäumt von einer tristen Pappelreihe. Allerlei Müll und Unrat lag herum, und in der Zufahrt standen wie vergessen ein paar Baumaschinen. Bruder Minh war immer noch nicht am Ziel.

|71|Zu beiden Seiten der Straße hatten sich kleine Firmen angesiedelt, links gab es ein Gebäude der Arbeiterwohlfahrt, rechts eine Niederlassung der Telekom. Schließlich, am Ende der Straße, eine große Brachfläche und mitten darauf ein knallrotes Exemplar von Gebrüder Baumanns Lastcontainern.

»Treten Sie nicht in Hundehaufen«, sagte Bruder Minh. »Irgendwer hat uns den liefern lassen, angeblich im Auftrag des Klosters. Wir haben eine Auftragsbestätigung, aber keinen Auftrag. Ich muss die Nummer notieren.« Er zauberte einen Computerausdruck und einen Kugelschreiber aus seiner Kutte hervor.

»Das Ding ist ja riesig«, sagte Leo, nachdem sie den Container an der Längsseite abgeschritten und haarscharf einer Hundetretmine entgangen war. »Mindestens sieben Meter lang. Zweieinhalb hoch, würde ich sagen, und bestimmt genauso breit.«

Minh konsultierte sein Papier. »›Vierzig Kubikmeter Abrollcontainer mit Deckel, Türverriegelung und zusätzlichem Schloss, ausgehändigt bei Baranzahlung‹. – Was ist ein Abrollcontainer?« Fragend sah er auf.

Leo konnte es ihm nicht sagen. »Rollen sehe ich keine. Aber so eine Art Schienen, schauen Sie mal.«

Beide bückten sich und richteten sich ratlos wieder auf.

»Ich glaube, das sind diese Dinger, die man einfach von einem Tieflader herunterrutschen lässt, ohne Kran.«

»Dann sollten sie Abrutschcontainer heißen«, bemerkte Bruder Minh trocken.

»Die werden auch im Güterverkehr eingesetzt.«

»Güterverkehr?«

|72|Leo deutete auf den Bahndamm. Bruder Minhs Gesicht hellte sich auf.

»Ah, verstehe. Aber warum sollte unser Kloster so etwas bestellen?« Kopfschüttelnd machte er sich daran, die fünfstellige Containernummer zu notieren, die auf einem weißen Feld an der Längsseite stand.

»Haben Sie mal reingesehen?«, fragte Leo vom anderen Ende.

»Ich weiß nicht, wer bezahlt hat. Ich war es nicht, also habe ich auch keinen Schlüssel«, sagte der Mönch.

»Den brauchen Sie nicht. Hier ist kein Schloss dran.« Die Standard-Türverriegelung bestand aus Doppel-S-Haken und war leicht zu lösen. Die Flügeltür öffnete sich mit einem metallischen Knarren. Bruder Minh erschien an Leos Seite und schaute hinein.

»Leer. Natürlich. Es muss ein Missverständnis sein, das wird sich wohl klären lassen.«

Ich habe gesehen, wie er geliefert wurde, wollte Leo, die sich an den lästigen Tieflader erinnerte, sagen, aber dann schluckte sie die Worte hinunter und verriegelte die Türen wieder. Am Ende dachte Bruder Minh noch, dass sie dauernd hier herumlungerte.

Sie begleitete den Mönch zum roten Tor zurück und dankte ihm für seine Erläuterungen. Minh verbeugte sich mit zum Gruß aneinandergelegten Händen.

Die Wolken waren inzwischen noch dunkler geworden. Platsch. Der erste Tropfen. Noch einer. Leo wischte ihn von der Nase. Nie im Leben würde sie trocken nach Hause kommen, aber trotzdem wollte sie auch Onkel Ludwig noch |73|einen kurzen Besuch abzustatten. Unter sanftem Getröpfel fuhr sie durch die Nebenstraßen von Mittelfeld zum Seelhorster Friedhof, ließ ihr Rad am Haupteingang stehen und wanderte zwischen den Gräberreihen hindurch, bis sie das Grab mit dem kleinen weißen Stein erreicht hatte. Ludwig Heller war im letzten Oktober gestorben und hatte seiner Nichte die Dachgeschosswohnung in Hannovers Südstadt vermacht.

Erfreut bemerkte Leo, dass die ersten Krokusse aufgeblüht waren, die sie auf das Grab gepflanzt hatte. Die Schale mit Efeu und weißer Heide sah immer noch gut aus, aber sie hatte eine zweite hinzugesetzt, aus der bereits die Spitzen von Narzissen und Hyazinthen lugten. Leo hing ihren Gedanken nach. Onkel Ludwig fehlte ihr. Als die Melancholie sie angesichts der vielen Leerstellen, die es in ihrem Leben gab, zu überwältigen drohte, verabschiedete sie sich und schlenderte mit einem Schlenker über den buddhistischen Teil der Friedhofsanlage zurück. Die Farben der geschmückten Gräber munterten sie eigenartigerweise immer auf: Auf Tellern mit türkis- und goldfarbenen Ornamenten lagen Opfergaben in Form von gelb und orange blühenden Blumen, dazu Apfelsinen und goldgelbe Pomelos. Hier und da standen winzige blau-weiße Becher, wie auch Wang Li sie zum Servieren von Reisschnaps benutzte. In kleinen Porzellangefäßen steckten abgebrannte Räucherstäbchen. Bei einigen Gräbern war ein Bild des Verstorbenen in die Steinplatte eingelassen.

Ob auch Ken Zhang hier seinen letzten Ruheplatz finden würde? Oder würde man ihn zurück nach China überführen? Hatte er Familie, Freunde? Gab es Menschen, die um ihn trauerten?

|74|Leo sah Su Jings Gesicht vor sich. Einen gab es auf jeden Fall.

Als sie wieder bei ihrem Rad war, rauschte der Regen nur so hinunter. Nach zehn Minuten war sie ziemlich nass, nach fünfundzwanzig Minuten durchgeweicht, aber – ihr persönlicher Rekord für die Strecke – zu Hause.

 

Früher Nachmittag. Viel Zeit, um nachzudenken. In Leos Kopf kreiselten die Fragen: Hatte Daniel wirklich nichts von den Affen gewusst, wenn er doch zu den festen Mitarbeitern am Stand gehörte? Warum hatte Ken Angst vor Mister Kong gehabt? Und warum leugnete Su Jing, ihn gekannt zu haben, warum hatte sie ihn angerufen, mitten in der Nacht? Und was zum Teufel hatte es mit diesem Black Ape auf sich?

Nachdenken konnte Leo am besten, wenn sie Rad fuhr, in der Erde wühlte oder die Wohnung putzte. Von Ersterem hatte sie für heute genug, zu Letzterem keine Lust. Also stieg sie in den Keller, plagte sich mit einem großen Tontopf und einem Sack Blumenerde die Treppe wieder hinauf, pellte sich die nassen Sachen vom Leib, zog sich bequeme Arbeitsklamotten an und machte sich dann über den Bambus her. Da sie schon mal dabei war, topfte sie auch diverse Pelargonien, eine glücklich durch den Winter gebrachte Strauchmargerite und fünf Lavendelbüsche um und fand, dass es höchste Zeit war, den Efeu zu schneiden und den Buchs zurechtzustutzen. Erstaunlich, wie viel Erde man in einer Wohnung und auf einem Dachbalkon bewegen konnte. Anschließend musste sie natürlich doch saubermachen, aber sie war zufrieden. Zwar hatte sie auf keine ihrer Fragen eine Antwort gefunden, doch dafür ein gewisses Maß an Seelenruhe. Die war ja auch nicht zu verachten.

|75|Leider war sie auch schnell wieder dahin. Als Leo den neu eingepflanzten, behutsam gedüngten und umsichtig geschienten Bambus auf den Balkon bugsierte – bei zwölf Grad Plus war seine Schonzeit vorbei –, riss eine scharfe Männerstimme sie aus ihrer friedlichen Stimmung.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Was sie verstörte, war nicht die Tatsache, dass da jemand auf Chinesisch stritt, sondern dass die wütende Stimme dem sonst so sanften Wang Li gehörte.

Arme Su Jing. In diesen Tagen schien ihre Freundin mit jedem aneinanderzugeraten. Leo wollte nicht lauschen. Sie hatte einen Fuß schon wieder in die Wohnung gesetzt, als sie hörte, wer da antwortete. Es war nicht Su Jing.

Sie zog die Balkontür an und duckte sich hinter den Bambus.

Was hatte Mister Kong mit Wang Li zu schaffen? Warum war er nicht auf der Messe?

Der chinesische Geschäftsmann klang gelassen, während Wang Li sich immer mehr ereiferte. Vorsichtig linste Leo über die Balkonbrüstung. Kong befand sich irgendwo dicht an der Hauswand, sie konnte ihn nicht sehen. Es regnete nicht mehr, aber der Hof hatte sich, wie immer nach solchen Güssen, in eine riesige Pfütze verwandelt. Mittendrin stand Wang Li, wie üblich nur mit Plastiksandalen an den bloßen Füßen, in einer Kattunhose und einem weißen T-Shirt. Abgehackte, zischende Laute kamen aus seinem Mund, Leo hatte ihn noch nie so außer sich erlebt. Ihr stockte der Atem, als sie ihn mit einem seiner säbelscharfen Kochmesser herumfuchteln sah. Er würde doch nicht etwa … Während sie überlegte, ob sie einen Blumentopf vom Balkon schmeißen – huch, Tschuldigung, ist |76|mir weggerutscht – oder einen schlauen Spruch in den Hof werfen sollte, nahm Kong ihr die Entscheidung ab.

Er lachte. Ein nicht besonders lautes Lachen, das nahtlos in einen sehr ruhig gesprochenen Satz überging, woraufhin Wang Li sein Messer sinken ließ. Wortlos drehte er sich um und patschte durch die Pfütze zurück in seine Küche.

Leo sank mit hämmerndem Herzen hinter ihrem Bambus zusammen und wartete, bis sie sicher sein konnte, dass Kong den Hof verlassen hatte. Dann erst wagte sie es, ihre Balkontür einen Spalt weit aufzuziehen und in die Wohnung zu schlüpfen.

Hatten denn auf einmal alle den Verstand verloren?

Unglücklich schrubbte Leo die Erde unter ihren Fingernägeln weg. Su Jing und Wang Li waren mehr für sie als nur Nachbarn, sie waren Freunde. Es beunruhigte sie und machte sie traurig, nicht zu wissen, warum sie so verändert waren.

Wäre nur die Messe schon vorbei und Mister Kong zurück in China. Verbreitete üble Schwingungen, dieser Mann. Schlechtes Karma, würde Su Jing sagen.

Leo trocknete ihre Hände ab und lauschte auf Geräusche aus der Messewohnung. Was trieb der Kerl eigentlich den ganzen Tag?

Doch außer Metallica in gedämpfter Lautstärke war nichts zu hören als das Knurren ihres Magens, der sie daran erinnerte, dass er seit dem Brötchen am Morgen nichts mehr bekommen hatte. Die Inspektion der Küchenschränke ergab, dass sie dringend einkaufen musste.

Auf dem Weg zum Supermarkt entdeckte Leo weitere von den Zetteln, auf denen nach einem Gärtner gesucht wurde. |77|Das hatte sie vollkommen vergessen. Glücklicherweise schien sich kein Südstädter angesprochen zu fühlen, denn nirgends war einer der Schnipsel abgerissen. Sobald Leo zu Hause war, griff sie zum Telefon und wählte die Festnetznummer. Es läutete viermal, fünfmal, sechsmal, dann schaltete sich ein Anrufbeantworter ein: »Hier ist der Anschluss von Hanne Lenz. Nachrichten bitte nach dem Signalton.« Piep.

Leo legte auf.

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