Die heimliche Geliebte

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ganz unschuldig lag er oben auf dem Stapel der Post, die in den letzten Tagen noch für Ludwig Heller gekommen war. Praktischerweise mit der Rückseite nach oben, so wie sie ihn hastig abgelegt hatte, bevor sie die Polizei rief. Sandved hatte ihn nicht weiter zur Kenntnis genommen, als er am Schreibtisch stand.

Leo betrachtete den Zettel mit gemischten Gefühlen. Irgendwo zwischen den dumpf hämmernden Kopfschmerzen tauchte der Gedanke auf, dass sie Informationen unterschlagen hatte, möglicherweise sogar Beweismittel. Hatte Onkel Ludwig tatsächlich Geschäfte mit Anton Jablonsky gemacht?

Nein. Niemals.

Sie faltete das Papier auseinander. Mit einem harten Bleistift, dessen Spitze offenbar durch zu festes Aufdrücken mitten im Wort abgebrochen war, hatte jemand eine kurze Mitteilung daraufgekritzelt; wenn man die kryptischen Zahlen und Wortfetzen überhaupt so nennen konnte.

13/11 Ma t

Wied hl »Backstube«, 15.00

—> C.

|23|Beeindruckend. Es fehlte nur noch der Zusatz, dass der Zettel sich nach Ablauf eines geheimen Verfallsdatums selbst vernichten würde.

Stammte das von Jablonskys Hand? Die Schrift wirkte hektisch, die Buchstaben hasteten in großer Eile über das Papier.

13/11 war vermutlich eine Datumsangabe, der dreizehnte November. Dieses Jahres oder wann?

Das folgende Wort konnte sie nicht entziffern. Wo der Bleistift sich in das Papier gebohrt hatte, klaffte eine Lücke. Die letzten Buchstaben waren unvollständig ausgeführt; ein unleserlicher Kringel, ein t oder l.

Für Leo ergab es keinen Sinn. Nicht viel besser das nächste Wort: Nach der ersten Silbe war der Bleistift in einer flüchtigen Linie weitergehastet, so wie man schreibt, wenn man kleine Buchstaben einsparen will. Erst zum Schluss hatte sich die Schrift wieder gefangen. Auffällig das Wort »Backstube«, leserlich und in Anführungsstrichen offenbar zuletzt hinzugefügt. Eine Uhrzeit: Drei Uhr am Nachmittag. Ein Pfeil, der Großbuchstabe C, dick unterstrichen.

Was sollte sie damit nun beginnen?

Ein Datum, ein Ort. Ein Treffpunkt? Was bedeutete dieser Pfeil? Und das C?

Vielleicht die Abkürzung für ein Café, dachte Leo. Das war das Einzige, was ihr im Zusammenhang mit einer Backstube in den Sinn kam. Nur wollte ihr nicht so recht einleuchten, was ihr Onkel dort zu suchen hatte. Denn dass diese Notiz für ihn bestimmt war, bezweifelte sie nicht. Der Antiquar hatte offenbar nicht gewusst, dass Onkel Ludwig tot war, sonst wäre dieser Tag ganz anders verlaufen, dachte Leo bedauernd.

Aber Jablonsky hätte nicht erst einen Zettel schreiben müssen, wenn er vorhatte, ihn persönlich vorbeizubringen. Oder es war gar nicht Jablonsky selbst, der sich mit Onkel Ludwig treffen wollte. Vielleicht war er nur der Überbringer.

Leo kam ein Gedanke. Sie zog eine Schreibtischschublade nach der anderen auf. Wo hatte sie es nur hingelegt? Irgendwo musste es |24|sein, Onkel Ludwigs altes Adressbuch. Ein kleines, in weinrotes Leinen gebundenes Büchlein, nicht besonders dick, eigentlich sogar erstaunlich schmal für einen Professor mit vielfältigen Kontakten und Verbindungen. Leo war sich sicher, dass sie es nicht weggeworfen und auch nicht mit Ludwigs umfangreichen schriftlichen Unterlagen in den Keller gepackt hatte. Sie hatte es aufbewahrt, weil sie nicht wusste, ob sie Danksagungen auf die Kondolenzbriefe verschicken sollte. So viele waren dann gar nicht gekommen. Offenbar wusste kaum jemand, dass es eine Hinterbliebene gab.

Hinterbliebene. Schauderhaftes Wort, dachte Leo.

Da war es. In der untersten Schublade. Vielleicht enthielt es irgendeinen Hinweis, vielleicht waren berufliche Kontakte gesondert vermerkt. Leo ging Seite für Seite durch. Privatadressen von Professoren, von Unikollegen, dem einen oder anderen Studenten. Die meisten Namen kamen ihr bekannt vor, alte Wegbegleiter ihres Onkels. Sein Zahnarzt. Seine Hausärztin. Sein Anwalt. Irschinger stand auch drin, erstaunlich. Und Katie, na ja, das war kein Wunder. Die beiden hatten sich gut verstanden. Onkel Ludwig hatte sogar die Anschrift des Heimes, das Katie jetzt leitete. Leo markierte die Seite mit einem Eselsohr und blätterte das Buch bis zum Ende durch.

Nichts. Und unter J überhaupt keine Eintragung.

Leo untersuchte noch einmal den Zettel. Die Notiz war offensichtlich in Eile hingekritzelt worden. Vielleicht hatte Jablonsky sie hastig mitgeschrieben, vielleicht war sie ihm diktiert worden.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Leo grübelte hin und her und kam immer nur zu demselben Ergebnis: Sie wollte nicht glauben, dass Onkel Ludwig tatsächlich in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte.

Der Dreizehnte war in zwei Tagen. Das Treffen stand also noch bevor, wenn es überhaupt ein Treffen war. Es konnte ja auch der Termin für eine Auktion sein, eine Ausstellungseröffnung, einen Bücherflohmarkt, weiß der Teufel, es konnte alles Mögliche sein, |25|und vielleicht noch nicht einmal in diesem Jahr, vielleicht war es schon lange vorbei. Es gab tausend Möglichkeiten, je harmloser, desto besser, denn dann gehörte diese Nachricht keinesfalls zu den Dingen, die sie Kommissar Sandved unter seiner persönlichen Telefonnummer unbedingt mitteilen musste.

***

|26|Wiedensahl, den 10 ten März 1851

Still sein. Schweigen. Nichts verrathen, sich nichts anmerken lassen – so komme ich durch die Tage. Ich wahre mein Geheimnis gut. Andere vermögen das weniger. Schon macht es die Runde durchs Dorf: Es hat gewittert im Hause Busch. Wilhelm hat sich abgesetzt! Mit dem Ingenieurswesen ist es wohl aus. Wen nimmt es Wunder! Es war ja nur der Wunsch des Vaters. Nun endlich geht er seinen eigenen Weg, weg von der Polytechnischen Schule in Hannover zur Kunstakademie in Düsseldorf. Ich habe den Herrn Pastor gefragt, wo das liegt. Unten im Rheinland, noch ein gut Stück weiter von hier als Ebergötzen. Wie ich den Wilhelm beneide! Gerne wäre ich auch so frei zu gehen, wohin ich will. Aber wir Frauenzimmer haben ja doch immer unsere Fußfesseln mit uns zu schleppen.

Bald zehn Jahre sind vergangen, seit Wilhelm fort ist. Eine viel zu lange Zeit, und viel zu selten haben wir uns gesehen. Ohne seine Briefe wüßte ich gar nichts mehr von ihm. Hier im Dorfe nichts als das triste Tagwerk, waschen, kochen, putzen, den Garten besorgen. Nur mein Geheimnis trägt mich durch die Tage. Das ist mein Schutzschild gegen die höhnischen Blicke. Sie sollen nur abwarten, Wilhelm und ich werden sie noch das Staunen lehren. Das Maul soll ihnen offen stehen, diesem Dummvolk.

Allerdings: Es kränkt mich, daß er nicht einmal mir verrathen mochte, was er plante. Heimlich nach Düsseldorf zu gehen! Er fürchtete wohl, ich könnte mich bei meinen Besorgungen im Krämerladen einmal verplappern. Nie würde ich mich dem Verrath hergeben, unwissentlich nicht und absichtsvoll gleich gar nicht. Ich schweige und warte, denn unser großer Tag muß ja doch einmal kommen, der Tag, wenn wir in ein gemeinsames Leben aufbrechen. Zuvörderst muß Vater Busch noch für seinen Wilhelm zahlen; daß er’s nur zähneknirschend thut, scheint mir sehr wahrscheinlich. Die Mutter wird ihm eingeflüstert haben, den Unterhalt auch fürderhin zu bestreiten. Hat sie doch auch etwas gutzumachen an ihrem Sohn, wenn ich denke: drei Jahre war er nicht daheim, nachdem sie ihn weggegeben haben, und als er zu seinem ersten Besuch heimkehrte – im Sommer 44 war es, ich entsinne mich genau – da erkennt sie ihn nicht! Er gieng an ihr vorüber, als sie auf dem Felde war, und sie erkannte ihn nicht.

Ich werde ihn nicht vergessen. Ich weiß, daß Großes in ihm steckt. Ich warte. Und niemand soll es wagen, sich zwischen uns zu stellen.

|27|-3-

Es geschah etwa gegen neun Uhr morgens. Leo nagte gerade an einer Scheibe Toast, blätterte die Stellenanzeigen der Zeitungen vom vergangenen Wochenende durch und wartete, dass der Kaffee durchlief, als sie das verräterische Geräusch von der Straße hörte. Ein dumpfer Aufprall, ein Knirschen, eine krachend umgelegte Gangschaltung. – Stille. – Dann wurde eine Autotür zugeschlagen. Vom Küchenfenster aus sah Leo einen jungen Chinesen in schwarzen Jeans und Lederjacke im Imbiss verschwinden. Der Lieferwagen, ein weißer Mitsubishi Van, stand in einer Parklücke, die groß genug für einen Lkw gewesen wäre. Aber zwischen seiner Stoßstange und dem misshandelten Straßenbaum hätte sich nicht einmal mehr eine Amöbe hindurchquetschen können. Die Linde musste diese Folter offenbar schon seit geraumer Zeit über sich ergehen lassen, denn wo eine gesunde Rinde hätte sein sollen, klaffte die Borke in Stoßstangenhöhe wie eine Wunde auseinander.

Leo klopfte sich die Krümel von den Händen und ging hinunter.

»Tut mir so leid, aber ist noch nicht geöffnet!« Mit einem bedauernden Lächeln im Gesicht und einem beeindruckenden Messer in den Händen kam Wang Li aus der Küche. Leo ging jedenfalls davon aus, dass der freundlich lächelnde Mann, den sie schon mehrmals im Imbiss gesehen hatte, der Wang Li war, der in asiatisch stilisierten Lettern an der rot lackierten Eingangstür als Inhaber ausgewiesen wurde. Und weiterhin nahm sie an, dass der junge Mann, der regelmäßig Wangs zerbeulten Lieferwagen beim Einparken gegen den Straßenbaum vor ihrem Haus rammte, zu Wang Lis vielköpfiger Familie zählte.

Als Wang Li die Besucherin sah, legte er das Messer beiseite und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab, das er sich in den Hosenbund gestopft hatte.

|28|»Die neue Frau in Professors Wohnung«, rief er erfreut. Dann legte sich unvermittelt ein Schatten auf sein Gesicht.

 

»Haben toten Mann gehabt gestern? Viel Aufregung! Und keiner da zu helfen. Waren alle in Küche. Nur alte Frauen oben, gehen nie raus, haben immer Angst. Bitte entschuldigen!«

Nichts da. Leo war entschlossen, sich nicht beirren zu lassen. Gar nicht so einfach, denn nahezu alles an diesem Mann wirkte auf Anhieb nett: seine freundlichen Augen, das unermüdliche Lächeln und die Art, wie er sich ihr beim Zuhören leicht zuneigte. Besonders nett fand sie, dass er sogar noch etwas kleiner war als sie selbst.

Der sehnige kleine Mann lächelte mitfühlend. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und nur vier vollständige Finger an jeder Hand. Rechts fehlte ihm die Kuppe des Daumens, links das erste Glied des kleinen Fingers. Trotz der Kälte trug er lediglich ein weißes T-Shirt und eine Kattunhose. Die nackten Füße steckten in Plastiksandalen.

»Herr Wang Li, nehme ich an?«, fragte Leo.

Er nickte und lächelte weiter.

Leo zeigte entschlossen auf den Van.

»Und das ist Ihr Wagen da draußen?«

»Mein Neffe hat eingekauft. Fährt jeden Tag zum Großmarkt. Bei uns immer alles frisch!«, sagte Wang Li stolz. »Professor hat gern hier gegessen.«

»So. Ja.« Sie räusperte sich. »Ihr Neffe hat offenbar Schwierigkeiten beim Einparken. So ein Straßenbaum hat es schon schwer genug. Seine Wurzeln sind zubetoniert, er bekommt kaum Wasser und er muss die ganzen schädlichen Abgase schlucken und im Winter das fiese Streusalz, da sollte man ihm doch wenigstens Attacken mit der Stoßstange ersparen, finden Sie nicht auch?«

Schwer zu sagen, was Wang Li fand. Er hatte den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und blinzelte.

»Wenn Sie’s nicht für die Linde tun, dann vielleicht für Ihren Wagen«, versuchte Leo es weiter. »Dem bekommt das sicher auch nicht gut. Würden Sie Ihrem Neffen das wohl ausrichten?«

|29|Irgendwo hinter Wang Li in der Küche glaubte sie einen dunklen Schatten wahrzunehmen.

»Das wäre sehr nett!«, sagte sie etwas lauter.

Wang Li lächelte, nickte und schwieg.

»Vielen Dank. Und einen schönen Tag noch.« Leo fühlte sich, als sei sie unter vollen Segeln auf Grund gelaufen. Ziemlich lächerlich.

Trotzdem malte sie ein provisorisches Schild (An alle Autos: Bitte Abstand halten!) und schnürte es der Linde um den Stamm.

Bäume waren die Zuflucht ihrer Kindheit gewesen. Immer, wenn sich die Situation unerträglich zugespitzt hatte, war sie fortgerannt und wie ein Eichhörnchen auf einen Baum geklettert, der möglichst groß und möglichst weit weg von zu Hause war. Ungezählte Stunden hatte sie hoch oben im Geäst zwischen Vogelnestern und Blattlandschaften verbracht und im grünen Licht gebadet, bis alle Ängste und Zweifel wieder auf ein erträgliches Maß geschrumpft waren. Leo duldete es nicht, wenn Bäume litten. Sie fahndete in ihren Umzugskartons noch nach der Dose mit dem Baumharz, wurde fündig und spachtelte eine dichte Schicht auf die Wunde. Aufmunternd strich sie der Linde über die Borke. Wenn sie von nun an in Ruhe gelassen wurde, konnte sie sich wieder erholen.

Wang Li und einige andere verschwommene Gesichter beobachteten sie durch die Scheiben. Sie fanden ihre neue Nachbarin zweifellos etwas überspannt. Leo wischte sich die Hände ab, winkte in ihre Richtung und ging frühstücken.

Eine Stunde später verließ sie mit Rucksack und Fahrrad das Haus. Die Luft war exakt so, wie es sich für einen lausigen Novembertag gehörte: wattig grau und so kalt, dass sie einem beim Fahren die Tränen in die Augen trieb. Leo hielt kurz bei einem kleinen Blumenladen, kaufte Erde und einige Pflanzen, verstaute alles in den Gepäcktaschen und suchte sich ihren Weg durch das Straßengeflecht der Südstadt. Sie folgte der Hildesheimer Straße, bog in die Garkenburgstraße Richtung Messegelände ein und erreichte |30|schließlich den Seelhorster Friedhof, auf dem Onkel Ludwig lag. In der riesigen parkähnlichen Anlage waren Hunde, spielende Kinder und Fahrräder nicht erwünscht. Leo schloss ihr Rad am dafür vorgesehenen Fahrradständer an, lud sich die Gepäcktaschen auf und wanderte durch die Gräberreihen. Die verwelkten Kränze und Gebinde, die vor ein paar Tagen noch auf dem Grab gelegen hatten, waren abgeräumt, die Erde sah schwarz und nackt aus. Auf den nassen Krumen klebte hier und da gelbes Laub. Auffällig hob sich die kleine weiße Marmortafel vom dunklen Untergrund ab. Schmutzspritzer sprenkelten seit dem letzten Regen die Oberfläche und saßen in den Linien der schlichten Inschrift:

Ludwig Heller

* 13. März 1934

† 20. Oktober 2008

Ach, Onkel Ludwig, wie trostlos. Ein unauffälliges Reihengrab, pflegeleicht und komplett bezahlt. Niemand sollte Arbeit oder Kosten haben.

Niemand, das war sie. Leo ließ die Gepäcktaschen zu Boden gleiten und setzte den Rucksack ab.

Er hätte Anspruch auf ein hübsches Plätzchen im Heller’schen Familiengrab in Hamburg gehabt. Aber Leo konnte sich schon denken, was ihn zu seiner Entscheidung bewogen hatte.

Sie schnürte den Rucksack auf, zog eine große Terrakottaschale heraus und machte sich an die Arbeit.

Mit Ludwig hatte es schon immer Ärger gegeben. So lautete der Standardsatz von Leos Mutter, wenn die Rede auf ihren Bruder kam. Was genau passiert war, blieb Leo lange Zeit ein Rätsel. Niemand sprach in ihrer Gegenwart darüber, aber mit den feinen Antennen des Kindes fing Leo die Anklagen und Beschuldigungen auf, die in der Luft lagen, und sie hatte bald begriffen, dass zwischen ihrem Onkel und ihrer Mutter ein wackliger Waffenstillstand herrschte. Aber warum?

|31|Leo mochte Onkel Ludwig sehr gern. Niemand konnte so schön die Streiche von Max und Moritz vortragen wie er. Onkel Ludwig kannte alle Verse auswendig, und Leo war einzig durch seine Imitation der krautvernarrten Witwe Bolte dazu zu bewegen, das verhasste Sauerkraut zu essen, das sonntags auf den Tisch kam.

Leos Liebe zu ihrem Onkel war schuld, dass der Waffenstillstand zwischen den Geschwistern zerbrach. Als sie begann, ihn Papa zu nennen, war für Hanna Heller das Maß voll. »Ihm verdankst du es, dass du keinen Vater hast!« Ansonsten lautete die stereotype Antwort, wann immer Leo nach ihrem Vater fragte: »Wir haben uns getrennt.« Und weil ihre Fragen mit der Zeit immer heftigere Anfälle von Depression hervorriefen, fragte Leo schließlich nicht mehr.

Onkel Ludwig zog aus und kam nur noch gelegentlich zu Besuch. Leo wurde größer und älter und aufmerksamer. Sie besuchte ihren Onkel meist heimlich, denn sie verabscheute den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter, wenn die davon erfuhr. An einem dieser gestohlenen Nachmittage hatte sie schließlich die ganze Geschichte erfahren.

Es war ein drückend heißer Spätsommertag kurz vor Leos neunzehntem Geburtstag. Die Sonne schien milchig durch einen zähen Schleier und die Luft war klebrig vor Feuchtigkeit. Sie hatten einen Spaziergang gemacht, weil es in Onkel Ludwigs Büro noch unerträglicher war. Vor ihnen lag ein kleiner Teich, auf dem matt ein paar Enten dümpelten. Leo und Ludwig setzten sich auf eine Bank am Ufer.

Schon eine ganze Weile hatte sich das Gespräch um seine Arbeit gedreht. Wilhelm Busch oder Leos Erlebnisse in der Schule waren ihre üblichen Themen, sie waren unverfänglich und neutral.

»Was findest du bloß so spannend an diesem alten Busch«, wollte Leo, die nicht viel mehr als die Max-und-Moritz-Geschichte kannte, wissen. Sie hatte keine Ahnung, was sie selbst nach ihrem Abitur anfangen sollte. Onkel Ludwigs Wunsch war es, dass sie Kunstgeschichte und Literatur studierte wie er, und das entpuppte |32|sich als eine seiner wenigen Ideen, mit denen auch Hanna Heller sich anfreunden konnte. Wenn es nach ihr ging, sollte Leo wahlweise reich heiraten oder ihr Leben mit erlesenen Dingen anfüllen. Am besten beides. Sotheby’s und Christie’s waren betörende Namen für ihre Mutter, die ihre Tochter schon inmitten der feinen Gesellschaft Kontakte knüpfen und Geschäfte abschließen sah. Rückblickend war sich Leo durchaus bewusst, dass ihr Entschluss, Gartenbau zu studieren, sehr viel mit Trotz zu tun hatte. Damals aber wusste sie gar nichts.

»Wieso ausgerechnet Busch? Lohnt es sich, sein halbes Leben an so einen alten Zausel zu verschwenden?«

Onkel Ludwig hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose, nahm seinen Strohhut ab und wischte sich die Stirn trocken. Dann setzte er den Hut wieder auf.

»Zufall«, sagte er schließlich. »Es war reiner Zufall, was den Erstkontakt angeht. Wie das eben beim Studieren so passiert. Du schreibst eine Hausarbeit, in dem du jemanden erwähnst, weckst das Interesse deines Professors, der regt an, dies und jenes eingehender zu untersuchen – und schon steckst du mittendrin. Aber dass ich dabei geblieben bin, das liegt an Buschs persönlicher Geschichte. Wilhelm Busch ist nicht nur der, den alle zu kennen glauben, er ist mehr.«

Ungeduldig wedelte Leo eine Fliege weg, die ihr beständig um den Kopf schwirrte. Das war doch bloß kryptisches Gerede, nichts als heiße Luft.

»Was soll er denn sonst sein«, sagte sie gereizt. »Jeder ist so, wie er ist. Du bist Ludwig Heller und ich Leo.«

»Klare Verhältnisse, ja? Du bist so geradlinig, Leo. Das mag ich an dir. Aber das ist auch dein Problem.«

»Ich sehe nicht, was daran problematisch sein soll. Mein Leben ist schon kompliziert genug. Ich muss sowieso langsam los, Mama ist bestimmt schon unruhig.«

Es war eine Scheißidee gewesen, an einem Tag wie diesem herzukommen. |33|Die Hitze machte sie verrückt und bissig wie die verdammten Fliegen.

Onkel Ludwig jedoch hatte seelenruhig die Hände auf seinem Bauch gefaltet, über dem sich die helle Leinenweste merklich spannte, und deutlich gemacht, dass Hanna, wenn sie denn auf Leos Rückkehr wartete, sich noch ein Weilchen gedulden musste.

»Was fällt dir zu Wilhelm Busch ein? Du hast ein fertiges Bild im Kopf, nicht wahr?«

Leo antwortete mit einem Schulterzucken und scharrte missmutig mit ihrer Schuhspitze in der staubigen Erde herum.

»Ein Bild, das alle kennen«, fuhr Onkel Ludwig fort. »Das von dem einsiedlerischen alten Junggesellen, der in seinem Dorf hinter dem Ofen hockt, Pfeife schmaucht und Bildergeschichten kritzelt. Das ist die eine Geschichte.«

Er wischte sich erneut mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sein Atem ging schwer, und Leo warf ihm von der Seite heimlich einen besorgten Blick zu.

»Die andere geht so: Ein Teenager setzt sich gegen den Willen seines Vater von der Schule ab, um Kunst zu studieren. Aber dann gibt er es auf, den alten Meistern nachzueifern. Er zieht in die Welt hinaus – ich würde mal sagen, München ist schon eine ganz hübsche Herausforderung für jemandem vom flachen Land –, schlägt sich als Zeichner durch, hat unverhofft Erfolg. Er erweist sich als scharfzüngiger Beobachter, entdeckt, dass er ebenso gut mit Worten wie mit dem Kohlestift umgehen kann. Er genießt das Münchner Nachtleben, die Gunst der Frauen, die Eindrücke von Reisen, anregende Briefwechsel. Und das tut er zeitlebens. Aber immer wieder kehrt er zurück in die provinzielle Einsamkeit.«

Onkel Ludwig nahm seinen Strohhut ab und drehte ihn in den Händen. Auf seiner Stirn zeichnete sich ein roter Streifen ab, wo das Hutband zu straff gesessen hatte. Er hielt die Augen auf den Teich vor ihnen gerichtet und wandte kein Auge von den Enten, während er weiterredete.

»Weltbürger hier, Einzelgänger da, Maler, Dichter, Hagestolz, |34|Provinzler, Rosenliebhaber, Bienenzüchter, es sind zahllose Etiketten, die ihm aufgeklebt wurden, du kannst sie dir aussuchen. Aber wer ist der wahre Wilhelm Busch, Leo?«

»Weiß ich doch nicht.« Es interessierte sie ungefähr so sehr wie die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Quantenphysik. Sie wusste ja nicht einmal, wer sie selbst war.

»Ich möchte, dass du begreifst, dass es immer noch eine andere Version von den Dingen gibt als die, die wir kennen«, sagte Onkel Ludwig. »Die eine Geschichte ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Manchmal wäre es angenehmer, die andere nicht zu erfahren. Aber irgendwann drängt sie doch hervor.«

Leo ahnte, dass sie gar nicht mehr von Wilhelm Busch sprachen.

»Was soll das? Worum geht es hier eigentlich?«

Ihr war heiß, sie war nervös und angespannt bei dem Gedanken, dass ihre Mutter wahrscheinlich schon auf sie wartete.

 

»Es geht darum, dass du und deine Mutter eigentlich in der Heller’schen Villa wohnen und ein sorgenfreies Leben führen solltet.«

Leo warf ihrem Onkel einen ungeduldigen Blick zu. »Ich weiß. Die alte Leier. Sie wird ja nicht müde, das ohne Ende zu wiederholen. Aber vielleicht verrät mir endlich mal jemand, warum das nicht der Fall ist.«

»Ja«, sagte er, »ich denke, es wird Zeit. Wenn sie es nicht tut, tue ich es.«

Leo rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. Sie wollte es lieber doch nicht wissen.

»Deine Großeltern, Leo, führten ein Handelskontor. Im Krieg hatten sie zwar alles verloren, aber danach schafften sie es mit hanseatischer Nüchternheit und Strenge in kürzester Zeit, ihr Vermögen wieder aufzubauen. Sie hinterließen Hanna und mir beachtliche Werte in Form von Grundbesitz und Wertpapieren.«

Er schwieg einen Moment und ließ zwei Spaziergänger passieren. Einige Enten flatterten schnatternd auf, zogen in einem flachen Halbkreis dicht über dem Wasser dahin und ließen sich in einiger Entfernung nieder. Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er fort:

|35|»Man kann sagen, dass wir ziemlich wohlhabend waren. Und naiv, oh mein Gott! Ich hatte da so einen Traum, weißt du, von einer Privatschule, die sich zu einem Institut mausern sollte und dann, in goldener Zukunft, zu einer kleinen, aber feinen Privatuniversität. Es war gar nicht schwer, Hanna zu überreden, unser gemeinsames Erbe in ein riskantes Immobiliengeschäft zu stecken.«

»Und dann?«, fragte Leo gegen ihren Willen, obwohl sie die Antwort kannte. Onkel Ludwig reckte den Hals, als gäbe es hinten bei den Enten etwas sehr Interessantes zu beobachten.

»Es ging den Bach runter. Gründlich. Wir mussten die Villa verkaufen und hatten trotzdem noch einen Haufen Schulden am Hals. Das heißt, ich hatte sie am Hals, denn ich war schließlich schuld an dem Dilemma. Allerdings brach es nicht unvermittelt über uns herein. Unser Schiffbruch zog sich über zwei Jahre hin. In dieser Zeit lernte deine Mutter einen viel versprechenden jungen Mann aus Diplomatenkreisen kennen.«

»Meinen Vater«, warf Leo ein. Ihr Onkel nickte.

»Er war begeistert von Hanna und der vermeintlich aussichtsreichen Zukunft. Leider nur so lange, bis unser Ruin nicht mehr zu verheimlichen war. Dann löste er vorsichtshalber die Verlobung und verschwand. Später bekam ich heraus, dass er die erstbeste Möglichkeit genutzt und sich nach Ceylon hatte versetzen lassen.«

»Sie war schwanger mit mir«, stellte Leo nüchtern fest. Diesen Teil der Geschichte kannte sie bereits, nur der Grund für das Verschwinden ihres Erzeugers war immer verschwiegen worden. Hanna hatte sich in tränenreiche Ausbrüche geflüchtet, wann immer Leo nachfragte.

»Und? Warum habt ihr ihn nicht unter Druck gesetzt? So etwas wie Unterhaltspflicht gab es doch auch damals schon.«

»Deine Mutter ist stolz«, sagte Onkel Ludwig nur. »Sie hätte standesgemäß heiraten und einem gepflegten großen Haushalt vorstehen sollen. Niemand hatte sie auf das Leben vorbereitet, das sie nun führen musste. Sie gehört zu einer anderen Generation, Leo. |36|Frauen wie deine Mutter wurden nicht dazu erzogen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.«

Hanna musste zumindest aus der Ferne die 68er miterlebt haben, und da klammerte sie sich immer noch an der Rolle der höheren Tochter aus gutem Hause fest? Leo konnte es nicht begreifen. Aber ihre Familie war ja schon immer irgendwie anders gewesen.

»Unsere Rettung damals war mein Lehrauftrag hier an der Hochschule«, schob sich Onkel Ludwigs Stimme in ihre Gedanken. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, als ich ihn bekam. Wir zogen in die Mietwohnung, die ihr beide euch jetzt teilt.«

Leo erinnerte sich an ihre ersten Kinderjahre, an die Zeit zu dritt, und dachte, dass die Situation nach ihrer Geburt bestimmt nicht einfacher geworden war. Von da an war für ihre Mutter erst recht nicht daran zu denken gewesen, sich eine Arbeit zu suchen, und es blieb ihr unangenehm viel Zeit, sich auf ihre Tochter zu konzentrieren.

»Es war schöner, als du noch bei uns warst«, sagte Leo leise. Sie nahm Onkel Ludwigs Hand, und er erwiderte ihren Händedruck.

»Deine Mutter hat mir keine Wahl gelassen.«

»Das wusste ich nicht. Nicht so direkt, meine ich. Aber ich habe es wohl geahnt.«

»Ja«, sagte Ludwig. »Das hast du wohl. – Siehst du, so ist das. Es gibt immer noch eine zweite Geschichte.«

Im Licht dessen, was Ludwig ihr an jenem Nachmittag erzählt hatte, begann Leo, rückblickend vieles besser zu verstehen. Sie besuchte Ludwig nach wie vor nur heimlich, es war besser, wenn ihre Mutter davon nichts wusste. Einen von beiden schien sie immer zu verraten. Dann nahmen Studium und Praktika Leos Zeit immer mehr in Anspruch, und irgendwann schliefen die Besuche ganz ein.

Dass Leo weder ein allzu schweres Bündel mit Schuldgefühlen mit sich herumschleppte noch auffällige Zwangsstörungen entwickelte, lag sowohl an einer gewissen Robustheit als auch an ihrer Freundin Katie.

|37|Katarina Singer studierte Medizin und ein paar Semester Psychologie und genoss es, ihre frisch erworbenen Kenntnisse auf Leo anzuwenden. Sie wusste, dass Leo ohnehin nichts davon glauben würde, also konnte es auch keinen Schaden anrichten. Was wirklich half, war das gemeinsame Studentendasein, der Unialltag, das ganz normale Leben. Und, natürlich, auch die mit endlosen Diskussionen angefüllten alkoholgetränkten Nächte.

Leo hatte endlich erkannt, dass ihre Mutter krank war. Mehrmals hatte Hanna Heller sich wegen Depressionen bei einem alten Freund der Familie in Behandlung begeben. Während Leo jetzt das tote Laub von Ludwigs Grab scharrte, erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Katie auf der Schwelle von Irschingers Praxis. Anfangs begleitete Leo ihre Mutter zu den Sitzungen bei Irschinger und holte sie später wieder ab, bis Hanna dann schließlich in ein Heim wechseln musste.

Joseph Irschinger war ein Kriegsgefährte ihres längst verstorbenen Großvaters und der einzige Arzt, zu dem Hanna Heller Vertrauen hatte, was Leo mehr als merkwürdig fand. Sie selbst hatte als Kind vor diesem hageren Mann mit den durchdringenden blauen Augen immer Angst verspürt, auch dann, wenn er ihr kleine Geschenke mitbrachte wie den Bernsteinbrocken, der immer noch als Briefbeschwerer auf ihrem Schreibtisch lag. Joseph Irschinger musste inzwischen weit über achtzig sein; das letzte Mal waren sie sich bei der Beerdigung von Leos Mutter begegnet. Irschinger und Ludwig Heller waren sich meist aus dem Weg gegangen. Vielleicht vermied Onkel Ludwig eine Begegnung, weil er sich für den Geisteszustand seiner Schwester mitverantwortlich fühlte. Doch als er starb, schrieb Irschinger einen freundlichen Brief an die liebe Leonore mit einer Einladung nach München.

Sie hätte ihn längst schon einmal besuchen sollen und nahm sich vor, nicht so lange zu warten, bis es zu spät war wie bei ihrem Onkel.

Das brachte sie wieder zurück an das unscheinbare Grab und in die Kälte dieses nebligen Novembertages. Leo fing an, den Efeu in |38|der Schale zu arrangieren und dann die Wurzelknollen sorgfältig mit Erde zu bedecken. Ein paar Grünpflanzen waren ein jämmerlicher Dank für das, was Onkel Ludwig getan hatte. Sein Leben lang hatte er für Hanna und ihre Tochter gesorgt. Er beglich die Miete, unterstützte Leo während des Studiums und übernahm schließlich einen Großteil der Kosten für das teure Pflegeheim, in dem ihre Mutter die letzten Jahre ihres Lebens in geistiger Verwirrung verbrachte. Mit ihren sporadischen Verdiensten als Aushilfsgärtnerin hätte Leo das niemals finanzieren können. Die monatlichen Kosten konnten einen Menschen mit einer Strumpfmaske über dem Gesicht und einer Schreckschusspistole in der Hand in die nächste Bankfiliale treiben. Bevor Leo eine kriminelle Karriere startete, opferte Onkel Ludwig seine Ersparnisse und die Lebensversicherung, die er hatte. Für Hanna war das Beste gerade gut genug. Wenigstens am Ende ihres Lebens sollte seine Schwester bekommen, was ihr nach ihrer Meinung immer zugestanden hatte, auch wenn sie davon nichts mehr begriff.