Die Ahnenpyramide

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Otto jedenfalls blieb im Ersten Weltkrieg in Rußland vermißt. Seine Mutter heiratete ein zweites Mal, gebar jedoch keine Kinder mehr. Nach ihrem weiteren Schicksal wurde, da sie nicht blutsverwandt war, nicht geforscht. Ob sie und ihr Mann noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor der näherrückenden Front als alte Leute das Land verließen, Hausrat, Geräte und Kleidung auf einen Wagen gepackt, ob dieser Wagen von einer Stoffplane überspannt war, die sie über eiserne Reifen gezogen hatten, die ein Dach bildete, einen primitiven Schutz gegen den Regen und gegen die Kälte der Nächte, ob die Frau vorne im Wagen saß, auf einem als Sitz quergelegten Brett, der Mann neben dem Wagen herging, um die Zugpferde zu entlasten, ob sie über das Ende des Krieges hinaus geblieben sind, dann, weil sie Deutsche waren, das Land Böhmen verlassen mußten, einen Rucksack auf dem Rücken, ein Bündel mit dem Nötigsten in der Hand, WOHIN sie gegangen sind, wo sie schließlich bleiben durften, was sie erlitten haben und wie lange sie noch lebten, ist nicht bekannt.

Mein Schreibtisch hat eine Platte aus hellbraunem Holz, er steht in der Ecke eines Zimmers, dessen Fenster nach Süden gerichtet sind. Die Fotografie des Hauses, das wahrscheinlich schon Adam, der erste unseres Namens, von dem wir wissen, erbaut hat, das von seinen Kindern und von den Kindern dieser Kinder nur erweitert worden ist, hebt sich, schwarzweiß schattiert, von der hellbraunen Holzfläche ab.

Das Haus, durch dessen nach Süden gerichtete Fenster ich einen kleinen Garten mit Blumen, Bäumen und Sträuchern sehe, liegt am äußersten Nordrand Wiens. Wien, die Stadt mit der großen Vergangenheit, einst Mittelpunkt eines riesigen Reiches, Residenzstadt, Kaiserstadt, heute zu groß für den Rest, der geblieben ist, für das kleine neutrale Land, dessen Hauptstadt sie ist. Wenn ich groß bin, sagte das Kind Anni, will ich nach Wien.

Als wir jung waren, sagt der Vater, Urenkel Johann Wenzels des Zweiten, wollten wir alle nach Wien.

Wir sind also da, wohin wir immer schon wollten.

Das Haus, in dem mein Schreibtisch steht, durch dessen Fenster ich in den Garten sehe, gehört Bernhard und mir. Nach unserem Tod wird es vielleicht eines unserer Kinder bewohnen. Bevor wir es bezogen, lebten wir in einer kleinen Wohnung mit winzigen Zimmern. Die ersten Möbel für diese Wohnung schenkte uns die Hilfsgemeinschaft SOS: zwei flache, geschnitzte Schränke, einen ovalen Tisch mit geschnitztem Fuß und einer Platte aus poliertem Nußholz, einen Schreibtisch, einige Stühle. Wir holten die Möbel in einem Handwagen ab, Bernhard zog den Handwagen durch die ganze Stadt, ich schob rückwärts an und achtete darauf, daß nichts verrutschte und nichts vom Wagen herunterfiel.

Vorher besaßen wir ein Ausziehbett im Wohnzimmer von Bernhards Eltern.

Vorher lebten Anni und ihre Eltern in einer Küche mit einem Steinfußboden.

Vorher bewohnten sie einen schlauchartigen Raum im ersten Wiener Gemeindebezirk, gleich hinter dem Stephansdom. Anni gab sich Mühe, ihre von Wanzen zerbissenen und vom Kratzen rot geschwollenen Arme und Beine vor den Augen der Mitschülerinnen zu verbergen. Vorher bewohnte Anni der Reihe nach zuerst die Toilette eines mit Menschen vollgestopften Eisenbahnwaggons, dann ein Gebüsch an einem Bahndamm, der von Tieffliegern beschossen wurde, dann eine Kammer in einem oberösterreichischen Bauernhaus, dann ein Bett in einem Haus auf dem Froschberg in Linz an der Donau. Das Bett war frei geworden, weil man das Oberhaupt der in Linz ansässigen Familie in ein Lager für politische Gefangene abgeholt hatte.

Annis Eltern bewohnten ungefähr zur selben Zeit der Reihe nach zuerst einen Gemüse- und Obstkeller, dann ein Badezimmer, dann eine Scheune, dann einen kleinen Raum in einem niederösterreichischen Bauernhaus.

Bevor Annis Eltern das Badezimmer bezogen, bewohnten sie mit mehreren Verwandten und Bekannten den erwähnten Gemüse- und Obstkeller. Über ihren Köpfen heulten von der einen Seite her die Stalinorgeln, von der anderen donnerten die letzten Schüsse der deutschen Artillerie. In den umliegenden Obst- und Gemüsegärten detonierten kleinere und größere, jedenfalls die allerletzten der aus Flugzeugen abgeworfenen Bomben des Zweiten Weltkriegs. Aus einem der benachbarten Höfe drangen die furchtbaren Schreie einer Frau, der eine Granate beide Beine weggerissen hatte, in jenen Obst- und Gemüsekeller, in dem Annis Eltern saßen. Die Frau wurde noch während des Beschusses von Sanitätern abgeholt und soll trotz ihrer schweren Verletzungen nur langsam gestorben sein.

Bevor die Eltern den Gemüse- und Obstkeller bezogen, lebten sie zusammen mit Anni in einer normalen, geräumigen Wohnung in der südmährischen Kleinstadt B. Anni verließ die Stadt wenige Tage, bevor die Front B. erreicht hatte. Ihre Eltern, Heinrich, der Urenkel Johann Wenzels des Zweiten, und seine Frau Valerie, mußten, wie beinahe alle Deutschen, das Land nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlassen.

Wie bin ich auf diese Gedanken gekommen? Wieso liegt die Fotografie des Hauses, in dem vielleicht schon Adam, der erste unseres Namens, gelebt hat, auf meinem Schreibtisch, wie ist sie dorthin gekommen?

Ich ziehe die mittlere, große Lade meines Schreibtisches auf, nehme einen Fragebogen heraus, der darin liegt, den mir die Post ins Haus gebracht hat, den ich gelesen und weggelegt, wieder hervorgeholt, wieder gelesen habe, den ich ausfüllen und abschicken soll, den ich aber immer noch nicht ausgefüllt und abgeschickt habe, über den ich mir die verschiedensten Gedanken gemacht habe.

Ich lege den Fragebogen auf die Schreibtischplatte, schiebe die Fotografie des Hauses, in dem Johann Wenzel der Zweite mit seinen Kindern gelebt hat, das sein Sohn Ignaz der Erste von ihm übernommen, in dem sein Enkel Ignaz der Zweite sich aus Kummer das Leben genommen hat, zur Seite, lese noch einmal den Satz, den man als den wichtigsten Satz einer Umfrage rot unterstrichen hat.

Ich fülle nur ungern Fragebogen aus. Obwohl ich die Notwendigkeit der Beantwortung gewisser, mir in Ämtern und bei Behörden, in Kanzleien und Büros, in Versicherungsanstalten und Sparkassenfilialen, bei den verschiedensten Dienststellen und Schaltern immer wieder gestellten Grundfragen natürlich verstehe, schreibe ich doch jedesmal nur widerstrebend hin, wie ich heiße, wo ich jetzt wohne, wo ich vorher gewohnt habe, wo ich in der nächsten Zeit wohnen werde, warum und wieso. Ich hieß früher, heiße jetzt, war vorübergehend, habe besucht, habe absolviert, habe beendet oder nicht beendet, war bei, war nicht bei, habe die Absicht, habe sie nicht, bin geimpft gegen, bin nicht geimpft, habe erlernt oder nicht erlernt, habe geboren, hatte als Kind die Masern, Scharlach und Keuchhusten hatte ich nicht. Ich erkläre, versichere, verspreche, bezeuge, ich schwöre niemals, werde jedoch dazu gezwungen, an Eides Statt zu erklären, nach bestem Wissen und mit dem besten Gewissen. Eine Stadt zählt ihre Bewohner, ein Land gibt die Zahl seiner Einwohner an, ein Wahlkreis ermittelt die Zahl der zur Wahl Berechtigten, ich werde erfaßt, ich werde mitgezählt, ich bin ein winziger, vielleicht wichtiger Bestandteil einer größeren oder kleineren Zahl. Das alles verstehe ich, sehe es ein, wehre mich nicht dagegen. Ich habe das Lesen und Schreiben erlernt, bin in der Lage, den Kugelschreiber oder Bleistift zu halten, Fragen zu beantworten, also lebe ich noch.

SCHREIBEN SIE IN HÖCHSTENS DREISSIG ZEILEN AUF, WAS IHNEN DER BEGRIFF HEIMAT HEUTE BEDEUTET.

Ich soll diese Frage beantworten, ich soll meine Antwort in höchstens dreißig Zeilen hinschreiben, knapp formulieren, ich soll, wenn mir nicht gleich eine Antwort einfällt, über eine Antwort nachdenken. Drei Monate habe ich Zeit.

Nicht nur ich habe diesen Fragebogen bekommen. Fragebogen werden zu Hunderttausenden gedruckt. Vielleicht haben diesen Fragebogen Hunderttausende bekommen. Hunderttausende sollen in dreißig Zeilen aufschreiben, was sie über den Begriff HEIMAT zu sagen wissen.

Hunderttausende sollen ihr Gewissen erforschen, sollen nach bestem Wissen und Gewissen erklären, glaubwürdig formulieren, zusammenfassend feststellen. Hunderttausendmal dreißig Zeilen sollen gesammelt, sortiert, wahrscheinlich in einem Computer gespeichert werden. Tasten werden gedrückt werden, Lampen werden aufleuchten, der Computer wird das Ergebnis auswerfen: HEIMAT IST …

Das Ergebnis wird publiziert werden, es wird in Nachschlagewerken neben das Wort HEIMAT gesetzt werden, es wird genützt und benützt werden. Es wird als Ergebnis gewertet werden.

Bis auf weiteres, bis zur nächsten Aussendung von mehreren hunderttausend Fragebogen, bis zur nächsten Umfrage also, wird angeblich geklärt sein, WAS HEIMAT IST.

Ich will nicht zusammenfassen, ich will nicht beantworten, ich will nicht in den Computer gespeichert werden, ich will nicht benützt werden. Ich lege den Fragebogen in die Lade zurück, ich schiebe die Lade wieder zu.

2

Olle meine Herrn

A Oppl is keene Bern

A Berne is kee Oppl

De Worscht hot zwee Zoppl

Zwee Zoppl hot de Worscht

Dr Bauer dar hot Dorscht

Dorscht hot dr Bauer

S Laba werd’m sauer

Sauer werd’m s Laba

Dr Weinstock treet Raba

Raba treet dr Weinstock

A Kolb is kee Ziechabock

A Ziechabock is kee Kolb

Meine Prediche is holb

Holb is meine Prediche

Mei Brudr is noch leediche

Leedich is mei Brudr

De Kotze is a Ludr

A Ludr is de Kotze

De Maus is a Frotze

A Frotze is de Maus

Meine Prediche is aus.

Es gibt keine Kinder mehr, die diese Reime beim Spiel hersagen. Ich versuche, die mir fremd klingenden Worte zum Leben zu erwecken, ich löse sie ab vom Papier, unterschiebe ihnen eine kleine, selbst erfundene Melodie, es ist eine Melodie, die nur aus wenigen Tönen besteht, die Tonfolgen wiederholen sich, plötzlich weiß ich, daß es Auszählreime sind.

 

Es, zwee, dreie, vere,

Stond a Mannla of dr Teere,

Hot a Flaschla ei dr Hand,

Kom’m Bohla ro gerannt.

Rannte über Wewrsch Haus,

Soch ’n schiene Fraue raus.

Kiephohn, Haushohn,

Dich wan mr naus john.

Ententinus, sauerracka minus,

Sauerracka, tickatacka,

Elle, helle, bums.

Ich sehe eine Gruppe von Kindern auf einem grasbewachsenen Hügelchen stehen, die Kinder heißen Vinzenz, Josef und Anna, auch Ignaz ist dabei, sie leiern den Text nach einer von mir erfundenen Melodie.

Ich lese in einer Chronik nach, die einer der letzten deutschsprachigen Bewohner des Dorfes geschrieben hat, zeichne einen Kranz grasbewachsener und bewaldeter Koppen um ein kesselförmig geweitetes Tal, nenne zwei der östlich gelegenen Koppen mit Namen: Ebereschenberg und Buchberg, lasse von ihren Hängen rieselnde Quellen zum Bach zusammenfließen. Der Bach schlängelt sich durch das Tal, einer Senke zu, stürzt dann steiler ab, zwischen felsigen Hängen, dem breiteren Wasserlauf der Stillen Adler entgegen. Ich setze Forellen in den Bach, die ruhig gegen die Strömung stehen, große dunkelgrüne Krebse unter die flachen Ufersteine, im Grün der Baumkronen lasse ich die feuerroten Beerenbüschel der Ebereschen leuchten. Dieses gedachte Bild ergänze ich durch Gerüche, Geräusche und Bilder, die mir das Kind Anni, obwohl es gerade dieses Dorf niemals betreten hat, doch als Erinnerung an ähnliche, in der näheren Umgebung gelegene Dörfer mitgegeben hat. Ich rieche zum Trocknen aufgehängten Wiesenkümmel, in Scheiben geschnittene Pilze, ich schmecke die kleinen wilden Erdbeeren, die winzigen bräunlichen Samen des Leins, ich erinnere mich an die Furcht, mich im Wald zu verirren, SCHATZHAUSER IM DUNKLEN TANNENWALD, BIST SCHON VIEL HUNDERT JAHRE ALT, erinnere mich an Märchen, Sagen, dem Kind erzählte Geschichten, in denen Berggeister vorkamen, die das Böse bestraften und das Gute belohnten, in denen von armen Leuten, häufig von Glasmachern, die Rede war, obwohl die Glasbläser in diesen Wäldern gar nicht zu Hause waren, obwohl ihre Hütten in viel weiter nördlich und nordwestlich gelegenen Wäldern standen. DIR GEHÖRT ALL LAND, WO TANNEN STEHN, LÄSST DICH NUR SONNTAGSKINDERN SEHN.

Auf dem Grund des Talkessels verteile ich, um den Wasserlauf des Baches, die Häuser, Hütten und Keuschen der Weber und Korbflechter, der Bürsten- und Pinselmacher, der Färber, Händler und Zimmerleute, die Höfe der Bauern.

Ich lese über das wechselvolle Schicksal des Dorfes nach, immer wieder erbaut, zerstört, niedergebrannt, Pest, Mißernten, Hungerjahre, Heuschrecken und Zigeuner, die Katastrophen hatten viele Namen, die Prüfungen waren hart und zahlreich, aber immer gab es einige von den Bewohnern, denen es gelang, sich vor irgendwelchen Söldnerscharen in die Wälder oder über die Grenze zu flüchten, immer überlebten einige, kamen wieder, begannen neu, hielten aus.

Man hatte sie ins Land gerufen, verjagt, man ließ sie zurückkehren, man haßte, bewunderte, duldete sie, man vertrug sich mit ihnen, man lebte mit ihnen, man lernte von ihnen.

Zu allen anderen Plagen kamen die Glaubenskämpfe, die religiösen Spannungen, ein Teil von ihnen fiel vom rechten Glauben ab, Gottliebs Vater Paulus, Sohn Georgs des Zweiten, und seine Frau Susanna, eine geborene Pollak, stifteten die Statue dem heiligen Johannes von Nepomuk zu Ehren, um ihn zur himmlischen Fürbitte gegen den Irrglauben der protestantischen Ketzer zu bewegen. O HEILIGER JOHANNES, VOR GARSTGEM SPOTT UND SCHAND BEWAHRE UNS. HIER IN UNSEREM VATERLAND. Ein schlichtes, zuletzt schon windschiefes Kirchlein aus Holz wurde auf Geheiß des Fürsten von und zu Liechtenstein abgerissen und an seiner Stelle von einem Baumeister aus Wien eine Kirche im spätbarocken Stil errichtet. Dies geschah in den Jahren 1781 und 1782, damals war Gottlieb ein alter Mann und sein Sohn Wenzel der Erste war zweiundvierzig Jahre alt. Johann Wenzel der Erste und seine zwölf Geschwister, seine Frau Juliane und ihre fünfzehn Kinder waren katholisch, sie gehörten dem RECHTEN GLAUBEN an, sie gehörten nicht zu jenen Ketzern, die man, nachdem man sie ordentlich verprügelt hatte, dazu zwang, am Bau der neuen Kirche mitzuarbeiten. Der Bischof kam aus Königgrätz, um den Kirchenbau zu inspizieren. Den Protestanten, die sich wegen der demütigenden Behandlung bei ihm beschwerten, riet er aus Mitleid, sich an den Kaiser in Wien zu wenden. Tatsächlich ging eine protestantische Abordnung aus dem Dorf im Adlergebirge nach Wien, wurde von Kaiser Josef II. empfangen und brachte die Zusicherung kaiserlichen Schutzes und die Bewilligung zur freien Religionsausübung mit nach Hause zurück. Zweihundertfünfzig Kilometer bis nach Wien, zweihundertfünfzig Kilometer zurück in das in den Wäldern am Rande Böhmens gelegene Dorf, eine beachtliche Leistung, der größte Teil des Weges mußte zu Fuß zurückgelegt werden, die Postkutschen waren teuer, und die Eisenbahn war noch nicht erfunden. Vielleicht hat sich ein fahrender Händler der armen Teufel unterwegs erbarmt, sie ein Stück des Weges mitgenommen, vielleicht durften sie hin und wieder auf einem Bauernwagen aufsitzen. Lange Wegstrecken jedenfalls werden in beschwerlichen Fußmärschen zu bewältigen gewesen sein.

Zur Zeit Johann Wenzels des Zweiten bildeten, wie ich in einer Chronik lese, Kirche und Pfarrhaus, EIN STATTLICHER BAU MIT STUFENDACH, sowie die schräg gegenüberliegende Schule, ebenfalls ein STATTLICHER BAU, von hohen Bäumen, wahrscheinlich Ulmen, umgeben, bereits einen ZENTRALEN, MALERISCHEN KOMPLEX inmitten des Dorfes. Der Bach soll KLAR gewesen sein. Das Erbgericht muß ebenfalls erwähnt werden, unter dessen mächtigem Dach ALLE GETREIDESORTEN PLATZ FANDEN. Der Gerichtssaal war Tanzsaal zugleich, eine Herberge und ein Stall boten den Fuhrleuten und ihren Pferden Unterkunft. Dem Fuhrwesen kam in jener Zeit GROSSE BEDEUTUNG zu.

Das von grünen Koppen umgebene, vom KLAREN FORELLENBACH durchflossene, vom schmiedeeisernen Kreuz des Kirchturms überragte, von Baumkronen durchgrünte, ZWISCHEN WALDBERGEN FAST VERLORENE DORF ist Johann Wenzel dem Zweiten, seiner Frau und seinen Kindern, auch seinem Vater und Großvater, deren Vätern und Großvätern, schon ADAM, dem um 1580 Geborenen, schon dessen Vater und Großvater HEIMAT gewesen.

Schlof ok, schlof, mei liew’s Kend,

Ei dam Peschl gieht dr Wend,

Ofm Meste kräht dr Hohn,

Ei dr Stuwe brummt dr Mon.

Ei dr Keche kocht dos Kraut,

Ei dam Stüwla flennt de Braut.

Es ist Anna Josefa, geborene Bühn, die der kleinen Anna ein Wiegenlied singt. Ich sehe sie durch die Lupe, die ich vor mein rechtes Augenglas halte, ich sehe durch die Mauer des Hauses hindurch. Die kleine Anna liegt in der Wiege, Strohsack und Federbett sind mit weißem Leinen überzogen, die kleine Anna trägt ein Hemdchen aus Leinen, ein Häubchen aus Leinen, Anna Josefa trägt über dem weißleinenen Hemd und dem weißleinenen Unterrock Rock und Leibchen aus Leinen, aber braun oder blau gefärbt, darüber eine Schürze aus Leinen. Hemd, Unterrock, Schürze, beinahe alles leinene Bettzeug, die Laken, die Überzüge, hat Anna Josefa in die Ehe mitgebracht, sie hat den Faden dazu selbst gesponnen, den Flachs, aus dem sie den Faden drehte, mit eigener Hand gerauft, geriffelt, gebrochen, geschwungen, gehechelt. Den Faden hat sie zum Weber getragen, vom Weber hat sie die fertige Leinwand geholt, hat die Stücke zugeschnitten, geheftet, genäht, hat sie gewaschen, an sonnigen Tagen auf die Wiese gebracht, ausgebreitet, immer wieder mit Wasser besprengt, wenn es zu regnen begann, zusammengefaltet, ins Haus getragen, am nächsten Sonnentag wieder ausgebreitet, so lange, bis sie weiß leuchteten wie frisch gefallener Schnee. So hat es ihre Mutter gehalten, die Großmutter, so haben es alle Frauen in der Gegend gehalten, solange man zurückdenken kann. Nach ihrer Heirat hat sie ihren Kindern und natürlich auch Johann Wenzel Hemden aus Leinen genäht.

Jetzt, während sie der kleinen Anna ein Wiegenlied singt, sitzt sie auf einer Holzbank, hat ein Spinnrad vor sich stehen, zieht mit zwei Fingern Fasern vom Rocken, dreht die Fasern mit den Fingern zusammen, die mit den Fingern zusammengedrehten Fasern werden als fertiger Faden auf der sich drehenden Spindel aufgerollt, die Spindel wird durch eine über das Rad gespannte Schnur gedreht, das Rad wird über eine Tretkurbel betrieben. Als sie jung war, saß sie an den Abenden mit den anderen Mädchen des Dorfes beisammen und spann den Faden für ihr Heiratsgut. Es soll lustig zugegangen sein in diesen Spinnstuben, man erzählte Geschichten, Spukgeschichten, Schauergeschichten, Druden und Hexen kamen darin vor, Irrlichter und Spukgestalten, Johann Wenzel wird, wie andere Burschen seines Alters, wahrscheinlich dabeigewesen sein.

Anna Josefa und Johann Wenzel an den Abenden in der Spinnstube, ich stelle mir die beiden vor, obwohl wir keine Bilder von ihnen besitzen, ich leihe mir die Gesichter später Geborener, Blutsverwandter für sie, Gesichter, die ich von Fotografien her kenne, ich leihe Anna Josefa mein eigenes Gesicht, etwas von ihr ist ja in mich übergegangen. Ich sehe die junge Anna Josefa, wie sie den Faden vom Rocken zieht, heimlich blickt sie zu Johann Wenzel hinüber, heimlich wirft ihr Johann Wenzel Blicke zu, Anna Josefa errötet unter Johann Wenzels Blick, ihre Augen glänzen, sie dreht ihren Faden ungleich zusammen, der an solchen Abenden von Anna Josefa gesponnene Faden wird vielleicht hart, voller Knoten gewesen sein, man wird aus diesen Fäden vielleicht kein Leinen für Kinderhemdchen gewebt haben. Vielleicht sind sie später zusammen aus der Spinnstube weggegangen, vielleicht hat Johann Wenzel das Spinnrad getragen, vielleicht waren die Nächte warm und die Wiesen noch nicht gemäht, vielleicht gingen die beiden ein Stück am Waldrand entlang, nahmen nicht gleich den kürzesten Weg zu Anna Josefas Haus. Ihr erstgeborenes Kind kam fünf Monate nach der Hochzeit zur Welt.

SCHLOF OK, SCHLOF, MEI LIEW’S KEND, EI DAM PESCHL GIEHT DR WEND.

Von Zeit zu Zeit taucht Anna Josefa die beiden Finger, mit denen sie die Fasern zum Faden zusammendreht, in ein Wassergefäß, das an der Rockenstange angebracht ist. Mit dem Fuß tritt sie die Kurbel, die Kurbel bewegt das Rad, das Rad dreht die Spindel, die Spindel rollt den Faden auf. OFM MESTE KRÄHT DR HOHN, EI DR STUWE BRUMMT DR MON. Anna Josefa hat die Kunst des Spinnens von ihrer Mutter erlernt, es hat lange gedauert, bis sie es zuwege brachte, den Faden so weich, so gleichmäßig zu spinnen, daß man das feine Leinen daraus weben konnte, aus dem zum Beispiel das Hemdchen der kleinen Anna genäht worden ist. Schon ist zu viel Zeit vergangen, schon fällt es schwer, sich vorzustellen, daß sie es überhaupt konnte, heute, da diese Arbeit nur noch von Maschinen geleistet wird, da die menschliche Hand nur noch die Hebel dieser Maschinen bedient. Nicht nur von der Feinheit und Weichheit der Flachsfaser hing es ab, je nachdem, wie viele Fasern Anna Josefa vom Rocken zog, je nachdem, wie stark oder weniger stark der Druck gewesen ist, den Daumen und Zeigefinger auf diese vom Rocken gezupften Fasern ausübten, so wurde der Faden, den die Spindel aufrollte: fein oder weniger fein, dünn oder dick, hart oder weich. Faden zum Weben von Kinderhemdchen, von Kissenbezügen, von Laken und Mehlsäcken. Schon ist zu viel Zeit vergangen, um sich, weiterdenkend, vorstellen zu können, daß die Hausweber auf ihren einfachen, aus Pfosten und Latten gefügten Webstühlen zustande brachten, was dann zu Wäsche oder zu Bettuch verarbeitet werden konnte. Tausende feiner Fäden mußten gespannt werden, viele tausend Male mußte der Weber mit den Füßen die Tritte bedienen, das Schiffchen werfen, mit dem Weberkamm den durchgeschossenen Faden an das Webgut anschlagen, zweimal, dreimal, nicht zu stark, nicht zu schwach, zehntausendmal die gleiche Bewegung der Arme, der Beine, der Hände, zehntausendmal der Griff nach dem Schiffchen, das die Spule enthielt, den auf dem Spulenstock gleichmäßig über ein Stück Schilfrohr oder Holunderholz gewickelten Faden. Zehntausendmal hin und her, hin und her, auf und nieder, vor und zurück, tagelang, nächtelang, bis ein Stück Leinwand gewebt war, dann verkauft werden konnte, oft für sehr wenig Geld. Reich wurden die Weber nicht. Was sie verdienten, reichte für Kartoffeln, für Knoblauchsuppe, selten für Fleisch, für Fett, für Eier und für das Mehl, das sie für den Teig der Krautkuchen brauchten. Das Kraut für die Krautkuchen zogen sie auf einem Stückchen Land, das sie vielleicht besaßen. So jedenfalls stelle ich, die viel später Geborene, es mir vor. Johann Wenzel dem Zweiten und den Seinen mag es besser gegangen sein. Sie zogen Korn und Kartoffeln auf ihren Feldern. Die Winter waren schneereich, der Boden enthielt viel Feuchtigkeit. Obwohl der Flachs erst Anfang Mai gesät werden konnte, gedieh er gut. Wenn der Acker frei von Unkraut blieb, wenn der Südwind nicht kam, den sie den BÖHMISCHEN WIND nannten, der die jungen Pflänzchen welken ließ, verbrannte, wenn sich die Erdflöhe nicht stark vermehrten, wenn Spätfröste nicht alles noch verdarben. Der Flachs stellte zwar, was die Qualität des Bodens betraf, keine Ansprüche, brauchte aber Feuchtigkeit zur richtigen Zeit, MAIREGEN BRINGT SEGEN. Setzte vor der Ernte eine Regenperiode ein, konnte es geschehen, daß die Pflanzen noch einmal zu blühen begannen. Lösten sich die Zöpfe der Frauen und Mädchen beim Faschingstanz, daß die Haare flogen, waren die Eiszapfen im Winter lang, dann war eine gute Flachsernte zu erwarten.

 

Grüß dich Gott mei liebr Flochs,

tu nimmer nix, wie immer wochs,

long wie a Weid,

klor wie a Seid,

dr Mutter Gottes of a Kleid.

Ich sage LEINEN und weiß mehr als andere, die ebenfalls Leinen sagen. Ich höre, rieche, taste dieses Wort, ich sehe Farben, die mit dem Wort in Verbindung stehen, auf deren Hintergrund das Wort schwimmt, von dem es sich abhebt, das Wort liegt in langen Bahnen ausgespannt, an den Enden angepflockt, auf grasbewachsenen Flächen, wird aus Gießkannen berieselt, liegt in Ballen gerollt, zusammengefaltet im Schrank. Ich sage LEINEN und höre Unterröcke rascheln, die vor dem Bügeln in Kartoffelstärke getaucht worden sind, ich sehe WEISS, wenn ich Leinen sage, aber dieses Weiß ist umgeben von Grün, ich sehe Sonne über dem Grün, stehe mit nackten Füßen bis zu den Knöcheln im Bach, schöpfe Wasser, wate im Wasser.

Ich verlange Leintücher von einer Verkäuferin in einem Bettwarengeschäft, sie bringt in durchsichtige Kunststoffhüllen Verpacktes, ich lese die Aufschrift, sage: das ist Baumwolle, das wollte ich nicht, die Verkäuferin antwortet, das sei Baumwolleinen.

Sie können auch Mischware haben, sagt die Verkäuferin, Baumwolle mit Kunstfaser, beinahe bügelfrei, jedenfalls PFLEGELEICHT, ich rate Ihnen dazu, ich habe selbst nur pflegeleichte Bettwäsche.

Schon dreht sie sich zu den Regalen um, greift nach weiteren Bettüchern, in Klarsichtfolie verpackt, legt sie mir auf das Pult.

Nein, sage ich, das wollte ich nicht. Ich wollte Leintücher aus LEINEN.

Das wird bei uns nicht mehr erzeugt, sagt die Verkäuferin, das gibt es nicht mehr. Vielleicht in der Tschechoslowakei, wenn Sie einmal hinüberfahren.

(Einige Wochen vor ihrem Umzug in den erwähnten Gemüse- und Obstkeller wurde von Annas Eltern in der zu diesem Zeitpunkt noch völlig intakten Wohnung ein großer, mit grünem Leinen bespannter Koffer gepackt. In diesen Koffer legte die Mutter Leib- und Bettwäsche, einige warme Kleidungsstücke, Strümpfe, Handtücher und Taschentücher. Nach sieben Kriegsjahren gab es nicht mehr viel Entbehrliches, das man verpacken konnte. Selbst die Abschnitte auf den Kleiderkarten, die zum Bezug von Textilien berechtigten, waren nicht mehr einlösbar, die Geschäfte hatten kaum noch etwas zu verkaufen. Zwei oder drei Kleider aus verschiedenfarbigen Stoffen ergaben ein neues.

DAMALS WAREN DIE KOMBINIERTEN KLEIDER IN MODE, sagt die Mutter, erinnerst du dich?

Für Schuhe mußte man einen Bezugsschein beantragen, einmal im Jahr gab es ein Paar Sandalen aus buntem Baumwoll- oder Zellwollstoff, die Sohlen waren aus Holz.

Als die Mutter alles verpackt hatte, was irgendwie entbehrlich war, war in dem Koffer immer noch Platz. Sie holte ein rotsamtenes Abendkleid aus dem Schrank, das sie Jahre vor Kriegsbeginn zum Feuerwehrball getragen hatte, legte es sorgfältig zusammen und verstaute es im Koffer. Vielleicht würde man sich, wenn man nichts anderes mehr hatte, nicht scheuen, ein Kleid aus feuerrotem Samt zu tragen. Die noch verbliebenen Hohlräume im Koffer füllt sie mit gestrickten mehrfarbigen Wollsocken, Fäustlingen, schließlich mit Tischwäsche aus. Zuletzt ging sie noch einmal zum Schrank und entnahm ihm ein sehr großes, über und über besticktes Leinentischtuch mit zwölf dazugehörigen ebenfalls bestickten Servietten, deckte mit Tischtuch und Servietten das feuerrote Abendkleid zu und schloß den Koffer sorgfältig ab.

Der Koffer wurde mit einem der damals noch verkehrenden Züge FÜR ALLE FÄLLE zu Bekannten nach Österreich geschickt.

Leib- und Bettwäsche, Handtücher und Taschentücher, Strümpfe und Wollsocken haben Anna und ihren Eltern schon kurze Zeit später ein Vermögen bedeutet. Das rotsamtene Abendkleid ist gegen Lebensmittel eingetauscht worden. Das kostbar bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen Servietten haben sich als unverkäuflich erwiesen, weil jedes Stück mit einem kunstvoll gestickten Monogramm versehen war. Leute, die sich in der ersten Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestickte Leinentischtücher und dazugehörige übergroße Servietten leisten konnten, wollten diese mit ihrem eigenen Monogramm versehen haben.

Nachdem wir, Bernhard und ich, die uns von der Hilfsgemeinschaft SOS geschenkten Möbel, die beiden Schränke, die vier Stühle, den ovalen Tisch mit dem geschnitzten Fuß und den Schreibtisch, vom Handwagen abgeladen und ins Haus getragen, in den Zimmern der Wohnung gleichmäßig und gerecht verteilt hatten, fuhren wir noch einmal mit dem Handwagen durch die Stadt und holten das Ausziehbett ab.

Die Eltern schenkten uns zur Komplettierung unseres Haushaltes das bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen, ebenfalls bestickten Servietten, von denen jede einzelne so groß war, daß wir sie als Tischtuch für einen kleineren Tisch, den wir später noch kauften, verwenden konnten.

Das bestickte Tischtuch und die Servietten sind die einzigen Wäschestücke in unserem Haus, von denen ich mit Sicherheit sagen kann, daß sie wirklich aus LEINEN gewebt sind.)