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Holbeinstich

Ein Stickmuster bringt mich auf die Spur des Malers. Ein mit roter Seide auf weissem Leinen gesticktes geometrisches Motiv, um genau zu sein. Eines Tages gebe ich ein paar Stichworte im Internet ein, Begriffe wie «Maler», «Zürich», «17. Jahrhundert» und «Kinderporträt», klicke bei den Suchresultaten auf die Rubrik Bilder und werde überrascht von der Dummheit des Systems. Auf dem Bildschirm poppen nicht etwa die Gesichter von Kindern auf, sondern die Antlitze von alten Männern mit Mühlsteinkragen. Als ich die Eingabe variiere, will man mir zeitgenössische Kunst verkaufen und Ramsch aller Art. Erst als ich die Suche noch mehr verfeinere, tauchen in der unsystematischen Bilderflut zumindest einige Kinderporträts auf, doch sie stammen durchwegs nicht aus dem Barock. Ich versuche es mit einer weiteren Wortkombination, lasse meinen Blick über die unendliche Kaskade von Abbildungen schweifen und finde kein einziges Bild, das meiner Anfrage nur annähernd entspricht. Noch ein letzter Versuch – und endlich stosse ich beim Runterscrollen auf das Bild eines Knaben, der dieselbe weisse Schürze mit exakt demselben roten Muster trägt wie Anna Margaretha. Fiebrig, als ob Stickereien meine Leidenschaft wären, zoome ich sie heran und vergleiche sie mit den Verzierungen auf der mit dem Handy aufgenommenen Fotografie von Anna Margarethas Schürze, die ich ebenfalls vergrössere. Kein Zweifel, dasselbe Muster und derselbe Stich. Ein sogenannter Holbeinstich, nach Hans Holbein, dem Jüngeren, benannt.7 Er war kaum eine Kapazität für Stickkunst, wohl aber für haargenaue Abbildungen. Stickerinnen könnten sich also heutzutage, wenn sie den besagten Stich vergessen haben sollten, an seinen Bildern orientieren. Das dürfte allerdings nicht notwendig sein, denn er ist mehr als einfach: Auf dem «Hinweg» muss die Stickerin auf der Vorderseite jeden zweiten Stich tun, auf dem «Rückweg» dann die Lücken füllen. Der Holbeinstich sieht deshalb auf beiden Stoffseiten gleich aus. So wie sich die beiden Bilder gleichen. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Kinderbildnissen ist frappierend. Ohne Zweifel malte sie ein und derselbe Maler – assistiert von seinen Gehilfen und Verwandten.8 Laut Bildlegende stammt das Jungenporträt vom Zürcher Maler Conrad Meyer, beim Knaben handelt es sich um den einjährigen Joseph aus der angesehenen Familie von Orelli.

Meyer also.9 Nicht irgendein Maler, sondern der wichtigste Zürcher Porträtist seiner Zeit. Viele, die Rang und Namen hatten, liessen sich von ihm abbilden: Damen und Herren der Familien Escher, Lavater, Peyer oder Pfau. Auch der Scharfrichter Johann Jakob Volmar stand mit seiner Frau Modell. Seine erste Ausbildung erfuhr Conrad Meyer in der Werkstatt seines Vaters Dietrich, seinen letzten Schliff erhielt er – nach Stationen in Bern und München – in Frankfurt bei Matthäus Merian, dem Älteren. Dort studierte er unter anderem die Werke der damals tonangebenden niederländischen Maler. Wie üblich kopierte auch er Kunstwerke von berühmten Meistern, so etwa von Hans Holbein, dem Jüngeren, oder von Samuel Hofmann, dem damals bekanntesten Porträtmaler der Eidgenossenschaft.

Entzauberung

Unter dem Adamsapfel eine gepunktete Fliege, auf der Nase eine Brille mit runden Gläsern, auf dem Kopf ein breitkrempiger Filzhut, in der Hand eine abgewetzte Aktentasche aus Leder. Der Gutachter, ein altgedienter Restaurator, verfügt ohne Zweifel über Stilbewusstsein. Nach ein paar höflichen Begrüssungsfloskeln sucht er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, das Bild von Anna Margaretha in der Wohnung, postiert sich davor und inspiziert es eingehend. Eine ganze Weile bleibt er stumm. Dann sagt er, ohne sich umzudrehen: «Für den Klinkerboden hat sich der Maler bestimmt an den Niederländern orientiert. Solche Böden gab es hier nicht.»

Während er Anna Margaretha weiterhin fixiert, reden wir über Conrad Meyer, der in Frankfurt und München die dort ausgestellten Gemälde des Barockmalers Jacob Jordaens und anderer Flamen studiert hatte.

Dann sagt er: «Die Malerei ist etwas provinziell.»

Ich entgegne nichts.

«Aber es gefällt mir», fügt er hinzu.

Ich atme auf.

Er bittet, das Bild abzuhängen und auf einen Tisch zu legen.

«Ich brauche Streiflicht», sagt er.

Als ich ihn fragend anschaue, verlangt er eine Lampe. Ich gebe ihm mein Handy. In einem flachen Winkel richtet er den Lichtstrahl auf das Gemälde und erklärt: «Ich suche nach Übermalungen und Schäden.»

Langsam führt er das Licht über den dunkeln Hintergrund und hält schliesslich inne.

«Hier gibt es eine Stelle, die später übermalt wurde.»

Er deutet auf eine Fläche neben dem Kopf, wo ich nach einer Weile einen anderen Farbton entdecke.

«Möglicherweise hat man das Wappen der Familie und dummerweise auch die Signatur des Malers weggeschliffen. Das war Ende des 19. Jahrhunderts gang und gäbe, weil man solch historisierende Darstellungen nicht mehr mochte. Sie kamen aus der Mode.»

Er beugt sich noch tiefer übers Bild.

«Da sind Ausbrüche», sagt er. «Abblätternde Stellen.»

Nach einer Weile murmelt er: «Die Farbe steht auf.»

Und dann: «Der Firnis ist eingeschlagen.»

Ich reime mir zusammen, dass der letzte Anstrich dünn geworden ist und der Schutz nur noch gering.

Er nähert sich Anna Margaretha bis auf wenige Zentimeter und macht eine Bemerkung zum Inkarnat. Ich unterdrücke die Frage, was das bedeutet.

Dann sagt er: «Das Gesicht ist auffallend unpersönlich.»

Ich möchte ihm widersprechen, doch wie soll ich, die seit Jahrzehnten mit Anna Margaretha lebt, jemandem, der sie erst seit einer Stunde kennt, meine Erfahrung mit ihrem Mona-Lisa-Blick klarmachen?

«Dem Gesicht fehlt jegliche Modulation», befindet er.

Ich nehme an, dass er das Spiel mit Licht und Schatten nicht gelungen findet.

«Die Malerei ist naiv», schliesst er.

Er versucht, mich zu überzeugen: «Schauen Sie, die Stickerei ist nicht in die Falten der Schürze hineingemalt worden.»

Er hat recht: Die roten Muster liegen auf dem Stoff und sind nicht damit verwoben. Zweifellos liegt er auch mit seinen anderen Einschätzungen richtig, doch mit seiner distanzierten Diagnose und seinem kritischen Blick hat er ungewollt «mein» Bild beschädigt. Der Zauber des Gemäldes ist verflogen, sein Nimbus verloren. Dagegen ist mein Wortschatz um einige Fachausdrücke reicher geworden.

«Das Gemälde ist bestimmt ein Original», versichert mir der Gutachter schliesslich und fügt hinzu: «Aber ob es tatsächlich Conrad Meyer gemalt hat, muss weiter abgeklärt werden.»

Ich befolge seinen Rat. Eine kunsthistorische Expertise bestätigt meine Spekulationen, die mit einem Stickmuster und dem Holbeinstich ihren Anfang genommen haben.

Aus heutiger Sicht und im Urteil des strengen Konservators mag die Qualität des Gemäldes mittelmässig sein. Damals war es die beste Kunst, welche die Eltern Anna Margarethas in Zürich bekommen konnten.

Rückblickend

Im November 1618 blickte Johannes Kepler wie gewohnt vom Dach seines Hauses durch das Fernrohr in den Himmel, als er einen Schweifstern entdeckte, der besonders stark strahlte.10 Fasziniert vom hellen Himmelskörper, den er sogar mit blossen Augen beobachten konnte, nannte er ihn einen «klaren Kometen», einen «Cometa Clarissimus». Auch andere Astronomen waren gefesselt von der aussergewöhnlichen Himmelserscheinung. Gewisse Zeitgenossen deuteten den Himmelskörper jedoch als ein Untergangszeichen und charakterisierten ihn als einen «schrecklichen Kometen», einen «Horridus Cometa».

Heute trägt der Stern den eindrücklich neutralen Namen «C/1618 W1».

Auch in der Eidgenossenschaft konnte man den spektakulären Schweif sehen. Im protestantischen Zürich las man ihn als göttlichen Fingerzeig. Viele waren überzeugt, dass Gott damit Krieg und Unheil verkündete. Der Komet zeigte sich einige Monate nach der Geburt von Heinrich, Anna Margarethas Vater. Vor ihm hatte seine Mutter drei Kinder geboren, die nur wenige Tage oder höchstens ein paar Jahre lebten, bevor sie im Juli 1618 Heinrich das Leben schenkte.11 Der Knabe sollte auf der Welt bleiben, auch wenn die Zeichen der Zeit anderes verhiessen.

Einige Monate vor seiner Geburt geschah im fernen Prag etwas Ungeheuerliches, was man die «zweite Defenestration» nennt.12 Vertreter der protestantischen Stände warfen zwei Statthalter des katholischen Kaisers sowie den Kanzleisekretär kurzerhand aus einem Fenster der Prager Burg, da die Krone ohne die Stände zu herrschen gedachte. Der zweite Prager Fenstersturz vom Mai 1618 verursachte ein unendliches Schlachten auf europäischem Boden und löste den Krieg zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Monarchie und Ständen aus. Allein im Deutschen Reich raffte er – und in seinem Gefolge Seuchen und Hunger – jeden fünften Bürger dahin.

Heute interpretiert man den Fenstersturz als den Anfang des Dreissigjährigen Kriegs.

Auch wenn der verheerende Krieg die Eidgenossenschaft – mit Ausnahme des heutigen Kantons Graubünden – nur wenig tangierte, wurde Heinrich in eine Endzeitstimmung hineingeboren. Die Angst vor der Apokalypse hatten nicht nur der Komet und der Fenstersturz geschürt, auch das Wetter spielte verrückt und zeigte sich seit Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts von einer kalten Seite.13 Die Winter wollten nicht mehr aufhören, die Sommer waren nass und kalt, wie Heinrichs Eltern Sebastian und Margarethe bei ihrer Hochzeit erleben mussten. Missernten brachten Hunger.

Heute nennen wir die damalige Klimaveränderung die «Kleine Eiszeit».

 

All dies konnte Heinrich nichts anhaben: Er erblickte als Spross aus einem reichen Haus das Licht der Welt und erhielt mit Junker Hans Heinrich Escher einen Paten aus einem der führenden Zürcher Geschlechter. In dieser komfortablen Lage tat er als Erwachsener das, was schon seine Vorväter getan hatten: Er übte den Beruf eines Kaufmanns aus und handelte unter anderem mit Fellen, Leder und Pelzen. Und er nahm sich eine reiche Braut: Anna Bertschinger war die Tochter des wohlhabenden Baumwollhändlers Martin Bertschinger und dessen Frau Anna, einer geborenen Leu. Gerade mal 19 Jahre alt, gab sie Heinrich 1648 das Ja-Wort.14

Todesreigen

19 Mal würde Anna Bertschinger gebären.15 Beinahe jedes Jahr presste sie ein Kind in die Welt, das erste kam nach der üblichen Spanne, neun Monate nach der Hochzeit, es lebte lediglich ein halbes Jahr, das zweite starb noch am Tag der Geburt, das dritte hingegen blieb den Eltern und der Welt erhalten und bekam den Namen Anna Barbara. Auch das vierte überlebte, es war Anna Margaretha.

Von deinen vielen Geschwistern, die deine Mutter zur Welt bringt, überlebt kaum eines. Du wirst dich an die ständige Anwesenheit des Todes gewöhnt haben. Als du einjährig bist, wird deine Mutter von einer Totgeburt entbunden. Ich nehme an, du hörst ihre Schreie, als ihre Wehen einsetzen, und du siehst, wie kurz darauf ein in Tuch geschlagenes Ding aus dem Haus getragen wird. Dreijährig musst du miterleben, dass dein Schwesterchen, das man auf den Namen Ursula tauft, nach einem Monat nicht mehr atmet. Ein Jahr später hält es deinen Bruder Hans Heinrich ebenfalls nur vier Wochen in der Welt. Darauf schafft es ein Schwesterchen, immerhin drei Monate durchzuhalten, bis eine Krankheit es dahinrafft. Dann ist ein Jahr Pause. Du kannst aufatmen. Doch dann setzt sich der Todesreigen fort. Du bist sechsjährig, als ein Bruder gleich nach der Geburt nicht mehr unter euch sein will, siebenjährig, als ein weiterer Bruder nach einer Woche von der Welt geht. Achtjährig erhältst du endlich ein jüngeres Geschwister, das bleibt. Der Knabe erhält den Namen Rudolf und zwei Paten aus angesehenen Familien: aus der Familie Leu und aus der Familie Grebel. Er wird zwar gedeihen, doch er wird euren Eltern wenig Freude bringen, aber das können sie damals noch nicht wissen. Dem nächsten Bruder gibt der Tod eine Auszeit von sechs Monaten. Du bist mittlerweile elf Jahre alt, als du erneut ein Geschwister bekommst, das sich an euch klammert und sich in euren Hausstand fügt. Das Mädchen erhält – wie die Mutter – den Namen Anna und eine Patin aus der guten Familie Escher. Susanna heisst das Kind, das zwei Jahre später zur Welt kommt, fünfjährig stirbt es an den Pocken. Danach setzt wieder der rasche Wechsel zwischen Geburt und Tod ein, Hans Jacob stirbt einen Monat nach der Geburt an «Kindswehen», ähnlich ergeht es einer zweiten Susanna. Einen grausamen Tod erleidet Hans Caspar: Er wird von seiner Amme im Bett erstickt. Ob es sich um einen Unfall handelt und die Amme das Kind im Schlaf erdrückt oder ob sie sein Geschrei nicht mehr aushält und deshalb kurzerhand ein Kissen auf das Gesicht des zweimonatigen Säuglings presst, ist nicht klar. Du bist damals 17 Jahre alt. Danach ist Schluss mit Kindern.

Zeitsprung

In der Auslage wenig Ware. Ein paar Puppen ohne Kopf, über dem Rumpf Kleider in dezenten Farben. Von der Decke warmes Licht. Ein teurer Laden. Der Werbespruch irritiert: «Sweat once a day». Schwitze ein Mal pro Tag. Um trotz Hitze cool zu wirken – so die Botschaft des Sportbekleidungsgeschäfts –, soll ich mir die stylishe Jogginghose oder das glänzende Shirt kaufen.

Am Haus das blaue Schild der Denkmalpflege: Hier am Ende der Marktgasse stand einst das städtische Haus zum Guldin Rad, eine Weinschenke. Später nannte man es das «Haus zum Elsässer», weil der verkaufte Wein vorwiegend aus dem Elsass kam. Als die Stadt das Weinmonopol aufgab, kaufte Sebastian, Anna Margarethas Grossvater, das Haus 1645 für 4000 Gulden, ein paar Monate später zudem die angrenzende Liegenschaft Zum goldenen Helm.16

Hier also wohnte Anna Margaretha vor mehr als 350 Jahren. Ich habe Mühe mit dem Zeitsprung. Es will mir nicht gelingen, mich in die damalige Zeit zurückzuversetzen: zu schrill die Werbung, zu luxuriös die Inneneinrichtung. Mit dem vorherigen Geschäft, einer seriösen Buchhandlung, wäre mir dies bestimmt eher geglückt, aber damals wusste ich noch nichts von der familiären Verknüpfung. Davor war hier die Papeterie Racher einquartiert, die dem Haus den Namen gab. Jahrzehntelang verkaufte sie unter anderem noble Schreibstifte, die ich mir gern im Schaufenster ansah. Und ganz früher, nach der Ära Kitt und vor der Ära Racher, gehörte der «Elsässer» der Buchhandlung und dem Verlag Orell, Gessner, Füssli und Cie.17

Mit jedem Jahrhundert und jedem Besitzerwechsel bekam das Haus eine neue Aura. Die Ausstrahlung, die es in der Frühen Neuzeit hatte, zerbröckelte im Lauf der Zeit. Die Gegenwart frisst die Vergangenheit auf. Sie dröhnt in meinen Ohren. Alle Versuche, das Haus zum Sprechen zu bringen, misslingen. Es erzählt mir nichts. Also versuche ich, in einem damaligen Stadtplan Anhaltspunkte zu finden, bemühe mich, mir aufgrund des sogenannten Murerplans von 1576 die damalige Architektur und Lage vorzustellen.18


Das Haus zum Elsässer lag am oberen Ende der Marktgasse in einer wirtschaftlich und politisch wichtigen Zone, was Anna Margarethas Vater, dem Geschäftsmann, bestimmt gelegen kam: fast gegenüber das Münzhaus, gleich um die Ecke ein paar Zunfthäuser, in der Nachbarschaft das Rathaus, eine Herberge sowie einige Wirtschaften.19 Im mehrstöckigen Haus lebten die Eltern Heinrich und Anna, die Geschwister Barbara, Rudolf und Anna. Und selbstverständlich Anna Margaretha. Bestimmt wohnten auch Anverwandte und Angestellte im Haus. Wie viele Zimmer gab es? Führte eine enge Treppe in die oberen Stockwerke? Haben die Holzböden gequietscht? Roch es nach Rauch? Kroch im Winter die Kälte in die Knochen? Welche Gäste kamen zu Besuch?

Ich male mir aus, wie Conrad Meyer unten an die Haustür klopft, wie er die Treppe zur guten Stube im ersten Stock hochgeht, dort seine Zeichenutensilien auspackt und Barbara und Anna Margaretha zu skizzieren beginnt.

Ich stelle mir vor, wie du im Hinterhof mit dem Reif spielst. Und ich sehe dich mit der Magd und der älteren Schwester das Haus verlassen. Sie begleitet euch zur Deutschen Mädchenschule jenseits der Limmat. Ihr geht die Marktgasse hinunter, an der Wirtschaft Zum goldenen Schwert vorbei, wo der Geruch des sauren Weins in die Nase sticht, passiert das Zunfthaus zur Meisen, das linkerhand liegt, ebenfalls das Zunfthaus zur Saffran, wo euer Vater verkehrt. Dann geht ihr am Rathaus vorbei, wo verschiedene deiner Verwandten amten, nicht aber ein Kitt, ihr betretet die Niedere Brugg, eine Holzbrücke, auf der eure Schuhe klappern. Du wirfst einen Blick auf das Wasserschöpfrad in der Limmat, verweilst beim Brunnen, wo die Mägde Gefässe mit Wasser füllen und das Gemüse waschen, willst auf der Brücke verweilen, um die Weidlinge im Wasser zu beobachten, die bei den Fischerhütten zugange sind, doch die Magd zieht dich weiter. Beim Roten Turm biegt ihr links ab, geht durch die Storchengasse, und noch bevor ihr auf den Münsterplatz kommt, wo es nach Vieh und Schweinen stinkt, die hier zum Verkauf stehen, müsst ihr rechts Richtung Zeughaus abbiegen. In Gassen liegt die «Schul». Dort lernst du die Buchstaben kennen, dann die Wörter, bald kannst du den kleinen Zürcher Katechismus lesen.20 Lesen ist wichtiger als schreiben, du sollst wenigstens die Bibel entziffern können, das hat man euch eingeschärft, sollst aus der Heiligen Schrift lernen, wie du später deine Kinder christlich erziehen kannst. Kinder interessieren dich noch nicht. Du lernst aber auch schreiben und rechnen, diese Fertigkeiten brauchst du, um später einem kaufmännischen Haushalt vorstehen zu können. Du magst beides. Es gefällt dir besser als der Chorgesang, den ihr regelmässig einübt. Auch Gebete aufsagen behagt dir nicht. Bald kalkulierst du besser als deine ältere Schwester, rechnest dem Teufel ein Ohr ab. Du bist ein aufgewecktes Kind und wirst von deinem jüngeren Bruder dies und jenes aufgeschnappt haben, das er in der – den Knaben vorbehaltenen – Lateinschule gelernt hat.

Der Zeitsprung mag gewagt sein, aber er ist abgesichert. Es ist nicht abwegig, Anna Margaretha als Schülerin und zudem als gute Schülerin zu imaginieren. Begüterte Familien sandten ausser den Knaben auch Mädchen zur Schule. Und es gab manche Eltern, die ihre Töchter gezielt förderten – wie etwa Johann Rudolf Waser und Esther Müller, die ihrer Tochter Anna (und zukünftigen berühmten Malerin) eine breite Bildung ermöglichten.21 Auch Heinrich pflegte im Alltag eine frauenfreundliche Haltung.22 Als etwa Mitglieder der Zunft zur Saffran den Schwestern Baumann verbieten wollten, den Laden ihrer verstorbenen Eltern weiterzuführen, setzten sich er und ein paar andere Kaufleute vehement für die drei Frauen ein.

Frauengüter

Der Blick geht in die Berge. Der Glärnisch mit dem Vrenelisgärtli. Davor das helle Karstgebirge, die Silberen. Vor dem Haus ziehen sich die Rebstöcke bis zum markanten Turm auf der Krete hoch. Heute ist er das Wahrzeichen der Zürcher Gemeinde Erlenbach. Damals nannten ihn Heinrich und seine Angehörigen ihr «Lusthaus». Was sie dort taten, gibt der Turm nicht preis. Wie auch das heutige Wohnhaus samt Nebengebäuden nur noch wenig von der damaligen Sommerfrische mit dem bezeichnenden Namen «Schönegg» offenbart. Da das einstöckige, lang gezogene Haus mit dem grosszügigen Dachstock. Dort die ehemalige Trotte. Die Bestallungen und der Schopf dem Erdboden gleichgemacht, die Gärten verschwunden.

Was für «ein herrliches Landgut», schwärmte einst ein Zeitgenosse.23 Schon von Weitem konnte er den frei stehenden Bauernhof sehen mit seinem «schönen Räbberg von ungefähr 10 oder 11 Jucharten, am welchem der beste rothe Wein, so um den Zürichsee ist, wächst».24 Jahr für Jahr werden Heinrich Kitt und Anna Bertschinger mit Anna Margaretha und deren Geschwistern in die Sommerfrische am Zürichsee gefahren sein, in eine Idylle mit Sicht auf den See und in die Berge, ringsum nur Reben und Bäume. Und jeden Herbst wird Heinrich den besten roten Zürichsee-Wein, den sein Lehenmann Hans Werdmüller mit anderen Angestellten herstellte, nach Zürich geführt und die Flaschen im Keller des «Elsässers» gelagert haben.

Die «Schönegg» stammte aus dem Besitz des Hauses Grebel. Heinrichs betagte Mutter hatte das elterliche Gut von ihrem Bruder geerbt, aber weil sie sich nicht um den Landsitz in Erlenbach kümmern konnte, übernahm Heinrich die Verwaltung. Kurz darauf kam in der Nachbargemeinde Herrliberg ein zweiter Betrieb dazu: Seine Frau Anna hatte nach dem Tod ihrer Eltern ausser 30 000 Gulden – was 137 Jahreseinkommen eines Mauermeisters entsprach – auch eine Mühle bekommen.25 Diese musste in Heinrichs Augen Profit abwerfen, und er setzte die Pächter unter Druck: Jährlich hatten die Witwe Fierz und ihr Sohn durchschnittlich 5500 Kilogramm Korn abzuliefern, dazu auch frische und trockene Früchte.26

Mit den Erbschaften hatte Heinrich sein Geschäft zunehmend diversifiziert. In der Stadt handelte er mit Pelzen und Leder, auf dem Land beaufsichtigte er die Frauengüter – die bald seinen Namen trugen: Die Mühle wurde zur «Kittenmühle», die «Schönegg» zum «Kittschen Landgut». Heinrich, der Lederhändler und Landmann, profitierte von seiner Verbindung mit vermögenden Familien. Zwar war er bereits 1651 beim Tod seines Vaters Sebastian in den Genuss eines ansehnlichen Nachlasses und in den Besitz des Hauses zum Elsässer gekommen. Doch es waren die Güter seiner Mutter und seiner Frau, die ihm den Ausbau seines wirtschaftlichen Herrschaftsanspruchs erlaubten – einer kleinen, aber nicht zu verachtenden Macht, die er durch Allianzen absicherte.