Furchtbare Juristen

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Zweiter Teil

1. Der Reichstagsbrandprozess

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von dem greisen Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und mit der Bildung einer rechten Koalitionsregierung beauftragt. In diesem Kabinett der »nationalen Erhebung« standen neun deutschnationalen und parteilosen Ministern nur drei Nazis – neben Hitler Innenminister Frick und der Minister ohne Geschäftsbereich Göring – gegenüber. Die Optik täuscht allerdings, denn mit der schon seit Sommer 1932 von Demokraten weitgehend »gesäuberten« preußischen Polizei, die unter dem Kommando des auch als kommissarischer preußischer Innenminister fungierenden Hermann Göring nach der Reichswehr den größten innenpolitischen Machtfaktor darstellte, hielten die Nationalsozialisten mehr Macht in den Händen als die neun konservativen Minister zusammen. Schon einen Tag nach seiner Ernennung erhielt Hitler vom Reichspräsidenten die Befugnis, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Die Parlamentsauflösung war faktisch Voraussetzung für den Erlass diktatorischer Notverordnungen nach Artikel 48 der Reichsverfassung, denn ein noch amtierender Reichstag hätte solche Verordnungen aufheben können. Bereits am fünften Tag der Regierung Hitler erging die Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes,81 die politische Versammlungen und Aufzüge anmeldepflichtig machte und die Polizei ermächtigte, Versammlungen, Demonstrationen und Druckschriften zu verbieten – und das mitten im Wahlkampf. Drei Wochen später, der Wahlkampf war in seine heißeste Phase getreten, ging am Abend des 27. Februar der Reichstag in Flammen auf. Kurz nach Ausbruch des Brandes wurde der arbeitslose holländische Maurergeselle Marinus van der Lubbe in der Nähe des brennenden Plenarsaals festgenommen.

Fast alle anderen Umstände des Reichstagsbrandes sind bis heute strittig, und kaum ein anderes Thema wird unter Historikern mit solcher Leidenschaft diskutiert wie dieses Ereignis. Die beiden Lager, in die seine Analyse die Historikerzunft geteilt hat, sind inzwischen so hoffnungslos zerstritten, dass die gegenseitigen Unterstellungen, Diffamierungen und Verleumdungen vor den Gerichten ausgetragen werden. Unstrittig ist lediglich, dass van der Lubbe an der Brandstiftung beteiligt war. Vieles spricht allerdings auch dafür, dass die Brandlegung nicht das Werk eines Einzelnen war.82

Die sogleich zum Brandort geeilten Nazi-Führer waren sich schnell einig, dass es sich um eine Tat der Kommunisten handle, die damit ein Fanal für den Aufstand setzen wollten. Für diese dann auch von der nationalsozialistischen Propaganda verbreitete Version sprach jedoch nichts. »Belege« dafür, wie zum Beispiel im Karl-Liebknecht-Haus, der Zentrale der KPD, aufgefundenes angebliches Belastungsmaterial, mussten zurückgezogen werden, da sie allzu plump gefälscht waren. Sehr viel mehr sprach dagegen für die naheliegendste, von den Kommunisten in einem Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror83 verbreitete These, die Nazis selbst hätten den Brand auf dem Gewissen. Inwieweit nun die damaligen Untersuchungen, die unter der Regie Görings stattfanden, tatsächlich einseitig auf das Ziel gerichtet waren, den Brand als Gemeinschaftswerk mehrerer darzustellen, um damit die nationalsozialistische Version von der kommunistischen Urheberschaft zu stützen, lässt sich heute kaum feststellen. Eine solche Einseitigkeit hätte sich aber – was auch die Nazis gesehen haben müssten – als Bumerang erwiesen, denn sie bestärkte den naheliegenden Verdacht, sie selbst hätten den Reichstag angezündet. Der damalige Staatssekretär im preußischen Innenministerium, Herbert von Bismarck, soll nach Gesprächen mit Beamten der Berliner Feuerwehr sofort seine Vermutung geäußert haben, »dass die Urheber des Brandes die Nazis selber gewesen« seien, und in einer Besprechung mit Hitler, Göring und Goebbels noch in der Brandnacht fand er angeblich »in dem Verhalten der nationalsozialistischen Größen« eine Bestätigung für diese Vermutung.84 Ein alter Weltkriegskamerad Görings soll sich später in Fliegerkreisen sogar mit der Brandstiftung gebrüstet haben.85

Die Kommunisten und die Sozialdemokraten schieden als Täter jedenfalls aus, darüber sind sich heute alle Historiker und objektiven Zeitgenossen einig. Die Schnelligkeit, mit der der Brand von den Nationalsozialisten ausgenutzt wurde, sprach zumindest dafür, dass die noch in derselben Nacht einsetzenden Aktionen gegen politische Gegner von langer Hand vorbereitet waren. Die Frage, wer vom Reichstagsbrand profitierte, musste automatisch auf die Spur der Nazis führen, denn ihnen hat der Brand Anlass und Vorwand geliefert, die parlamentarische Demokratie zu zerschlagen. Schließlich hatten sie auch schon in der Vergangenheit jeden Staatsstreichplan als »Notwehraktion« gegen einen kommunistischen Aufstand getarnt. Ob sie ihn nun selbst herbeigeführt hatten oder nicht, der Reichstagsbrand war das lange erhoffte Signal zum Zuschlagen. In einer beispiellosen Blitzaktion wurden die Büros der KPD besetzt, ihr Vermögen eingezogen und ihre Funktionäre verhaftet. Auf den offenbar schon vorher ausgearbeiteten Verhaftungslisten standen aber nicht nur Kommunisten, sondern auch Sozialdemokraten, Pazifisten und linksgerichtete Schriftsteller, kurzum: politisch Missliebige jeder Couleur.

Bereits am Morgen des 28. Februar wurde die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung) veröffentlicht, eine der wichtigsten Rechtsgrundlagen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems.86 Sie bot der Regierung Ende Februar 1933 auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes nicht nur weitere Handhabe, die Presse der Linksparteien, wie überhaupt jede oppositionelle Publikation, zu verbieten, Wahlversammlungen aufzulösen und willkürlich Verhaftungen politischer Gegner vorzunehmen, sie setzte obendrein auch fast alle anderen Grundrechte der Verfassung außer Kraft. Ebenfalls noch in der Brandnacht wurde die Verordnung gegen Verrat am deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe formuliert, die die Strafen für Landesverrat und Preisgabe militärischer Geheimnisse verschärfte und bewusst die Grenzen zwischen Kritik an der Regierung und Verrat verwischte. Schon das Verbreiten von »Gerüchten oder falschen Nachrichten« – etwa die Behauptung, die Nazis hätten den Reichstag angezündet – galt jetzt als Verrat; auch »hochverräterische Umtriebe« wie zum Beispiel die »Herstellung, Verbreitung oder Lagerung von Schriften«, die zum Aufstand oder zum Streik aufriefen »oder in anderer Weise hochverräterisch« waren, wurden hart bestraft.87

So wurde jegliche Stimme gegen das propagandistische Trommelfeuer und jeder Versuch des Widerstands gegen den Staatsterror nach dem Reichstagsbrand »ganz legal« erstickt. Der Brand war das entscheidende Ereignis auf dem Weg zur tatsächlichen Machtergreifung, denn die uneingeschränkte Macht war Hitler mit der Ernennung zum Regierungschef noch keineswegs zugefallen. Zunächst war er lediglich der 21. Reichskanzler nach dem Krieg, die Macht rissen die Nazis erst mit einer Reihe staatsstreichartiger Aktionen an sich, von denen die entscheidende wohl der Reichstagsbrand-Coup war. Das Ermächtigungsgesetz erwies sich schließlich nur als konsequente Fortsetzung der Entwicklung.

Nachdem die Regierung in einer gigantischen Propagandakampagne die These vom geplanten kommunistischen Aufstand verbreitet hatte, musste sie natürlich neben dem am Brandort verhafteten von der Lubbe noch weitere »Täter« präsentieren. Am 28. Februar hatte sich der Vorsitzende der kommunistischen Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, bei der Polizei gemeldet, nachdem er in den Morgenzeitungen gelesen hatte, er werde der Brandstiftung verdächtigt. Am 9. März wurden die unter falschem Namen in Berlin lebenden Exilbulgaren Georgi Dimitroff, Blagoi Popoff und Wasili Taneff unter dem Verdacht der Mittäterschaft verhaftet. Auch der Publizist Carl von Ossietzky, der bereits in der Brandnacht in »Schutzhaft« genommen worden war, sollte als Mittäter angeklagt werden.88 Die von dem damaligen Chef der politischen Polizei, Rudolf Diels, gesponnene Intrige, die auf der Aussage eines unzuverlässigen Spitzels und einem gefälschten Foto basierte, war jedoch so plump, dass der Oberreichsanwalt die Anklage gegen Ossietzky fallen lassen musste.

Van der Lubbe, Torgler, Dimitroff, Popoff und Taneff wurden in Untersuchungshaft genommen, als Untersuchungsrichter fungierte der Reichsgerichtsrat Paul Vogt. Die Anklage wurde vor dem für Hoch- und Landesverrat zuständigen 4. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig erhoben, jenem Senat, der Carl von Ossietzky im Weltbühnen-Prozess verurteilt hatte89 und der in dem Verfahren gegen die drei Ulmer Reichswehroffiziere Hitler seinen Legalitätseid leisten ließ. Die gerichtliche Voruntersuchung verlief von Anfang an einseitig. Der Untersuchungsrichter hielt sich streng an das Verbot, nach eventuellen nationalsozialistischen Mittätern van der Lubbes zu forschen. Die Beschuldigten waren während der Untersuchungshaft vielerlei in der Strafprozessordnung nicht vorgesehenen Schikanen ausgesetzt, sie blieben zum Beispiel auf Anordnung Vogts während der sechsmonatigen Untersuchungshaft Tag und Nacht gefesselt.90

Erst nach vielen Eingaben und Bitten wurde dem Angeschuldigten Dimitroff täglich eine halbstündige Befreiung von den Fesseln gestattet. Dimitroffs Wahlverteidiger, Rechtsanwalt Wille, setzte man dermaßen unter Druck, dass er das Man­dat niederlegte. Zahlreiche Anträge ausländischer Rechtsanwälte, als Wahlverteidiger zugelassen zu werden, was rechtlich durchaus möglich gewesen wäre, wurden abschlägig beschieden. Schließlich ordnete das Reichsgericht den Beschuldigten Pflichtverteidiger bei, die allein sein Vertrauen, nicht das der Angeklagten besaßen. Untersuchungsrichter Vogt hielt ständig Kontakt mit der preußischen Staatsregierung und drängte dort auf eine »zuverlässige Besetzung« des 4. Senats für die Verhandlung.91

 

Eine Woche vor der Hauptverhandlung, deren Beginn auf den 21. September festgesetzt war, tagte in London unter großer Pressebeteiligung eine unabhängige, aus acht renommierten Juristen bestehende internationale Untersuchungskommission, um die Vorgänge der Brandnacht zu durchleuchten. Ihre Untersuchung hatte zum Ergebnis, dass van der Lubbe unmöglich alleiniger Brandstifter sein konnte, dass die angeklagten Kommunisten nichts mit dem Brand zu tun hatten und die Täter »wahrscheinlich« im nationalsozialistischen Lager zu suchen seien.92 Parallel zur Verhandlung vor dem Reichsgericht fand dann schließlich in London ein großer Gegenprozess statt, gerichtsförmig aufgezogen, mit umfangreicher Beweisaufnahme und unter Beteiligung prominenter Deutscher, die ins Ausland hatten fliehen müssen. Das am 20. Dezember 1933 verkündete Urteil im »Gegenprozess« lautete: »1. Lubbe ist nicht Alleintäter. 2. Es besteht der schwere Verdacht, dass nationalsozialistische Kreise die Brandstiftung veranlasst und durchgeführt haben. 3. Die Kommunisten sind unschuldig. 4. Das Gesetz vom 28. Februar 1933 (Reichstagsbrand-Verordnung) ist ungültig. 5. Eine Verurteilung Torglers würde den Protest der ganzen Welt hervorrufen.«93

Die schon am Tage nach dem Brand erlassene Reichstagsbrandverordnung sah neben der Außerkraftsetzung aller wesentlichen Grundrechte auch die Todesstrafe für Brandstiftung, Hochverrat und einige andere Straftaten vor. Ein am 29. März von der Reichsregierung beschlossenes Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe erklärte darüber hinaus, dass diese Strafverschärfung auch für Taten gelte, »die in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar begangen sind«.94 Schließlich ermächtigte dieses Gesetz die Reichsregierung auch noch, in solchen Fällen das Todesurteil durch Erhängen, was als besonders entehrende Hinrichtungsart galt, vollstrecken zu lassen. Damit waren die »legalen« Voraussetzungen für die Hinrichtung der mutmaßlichen Reichstagsbrandstifter geschaffen.

Am 21. September 1933 begann die Hauptverhandlung im Großen Sitzungssaal des Reichsgerichts in Leipzig. Die Anklage vertraten Oberreichsanwalt Werner und der spätere stellvertretende Chefankläger beim Volksgerichtshof, Landgerichtsdirektor Parrisius. Am 10. Oktober übersiedelte das Gericht nach Berlin, um sechs Wochen in dem unzerstörten Saal des Haushaltsausschusses im Reichstag an Ort und Stelle zu tagen.

Im Zuge der Beweisaufnahme wurden auch prominente Nationalsozialisten, unter anderem der im März ernannte Reichs­propagandaminister Goebbels und der inzwischen zum preußischen Ministerpräsidenten aufgestiegene Hermann Göring, als Zeugen gehört. Höhepunkte des Prozesses waren die Rededuelle zwischen dem schlagfertigen Dimitroff und den beiden Nazi-Größen. Der sonst so selbstsichere Göring verlor bei der Zeugenbefragung zusehends die Fassung. Als Dimitroff ihn zum Beispiel fragte, ob nicht die einseitige Untersuchung Spuren, die in andere Richtung wiesen, verwischt habe, wies Göring den Vorwurf empört zurück, um ihn gleichzeitig mit seiner Antwort zu bestätigen: »Für mich ist es ein politisches Verbrechen, und ebenso war es meine Überzeugung, dass die Verbrecher in Ihrer Partei zu suchen sind. Ihre Partei ist eine Partei von Verbrechern, die man vernichten muss! Und wenn die richterliche Untersuchung sich in dieser Richtung hat beeinflussen lassen, so hat sie nur in der richtigen Spur gesucht.« Im weiteren Disput verlor Göring immer mehr die Beherrschung: »Ich will Ihnen sagen, was im deutschen Volke bekannt ist. Bekannt ist im deutschen Volke, dass Sie sich hier unverschämt benehmen, dass Sie hergelaufen sind, um den Reichstag anzustecken. Aber ich bin nicht dazu da, um mich von Ihnen wie von einem Richter vernehmen und mir Vorwürfe machen zu lassen! Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der direkt an den Galgen gehört.«

Spätestens hier hätte der Gerichtsvorsitzende, Senatspräsident Dr. Bünger, eingreifen müssen, um den Zeugen zurechtzuweisen, der den Angeklagten dermaßen beleidigte und ihm sogar offen mit dem Galgen drohte. Bünger rüffelte aber nicht Göring, sondern den Angeklagten: »Dimitroff, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sie hier keine kommunistische Propaganda zu treiben haben. Sie dürfen sich dann nicht wundern, wenn der Herr Zeuge derartig aufbraust! Ich untersage Ihnen diese Propaganda auf das strengste. Sie haben rein sachliche Fragen zu stellen.«

Die Auseinandersetzung eskalierte jedoch weiter. Als Dimitroff die Ausführungen Görings lächelnd mit den Worten quittierte: »Ich bin sehr zufrieden mit der Antwort des Herrn Ministerpräsidenten«, intervenierte Bünger emeut: »Ob Sie zufrieden sind, ist mir gleichgültig. Ich entziehe Ihnen jetzt das Wort.« Auf Dimitroffs Insistieren, er habe »noch eine sachliche Frage zu stellen«, rief der Gerichtsvorsitzende sichtlich nervös: »Ich entziehe Ihnen das Wort«, und Göring brüllte dazwischen: »Hinaus mit Ihnen, Sie Schuft!« Als Dimitroff sich noch ein letztes Mal verhalten an den Zeugen wandte, um sich zu erkundigen: »Sie haben wohl Angst vor meinen Fragen, Herr Ministerpräsident?«, verlor Göring schließlich vollends jede Fassung: »Warten Sie nur, bis wir Sie außerhalb der Rechtsmacht dieses Gerichtshofs haben werden. Sie Schuft!«

Der Vorsitzende rügte nicht einmal diese weitere unverhohlene Drohung; er griff stattdessen zu einer damals in der Prozessordnung noch nicht vorgesehenen Maßnahme – dem AusSchluss des Angeklagten aus der Hauptverhandlung: »Dimitroff wird ... drei Tage ausgeschlossen! Sofort hinaus mit ihm!«95

Jedem unbefangenen Beobachter und der anwesenden Weltpresse war bei diesen Szenen die Nervosität der NS-Führung offenbar geworden, und nicht zu übersehen war auch die Unsicherheit des Gerichts, das bei dem Versuch, die Erwartungen der Nazis zu erfüllen und gleichzeitig vor der Öffentlichkeit einen Rest richterlicher Würde zu bewahren, hoffnungslos ins Schwimmen geriet.

Die umfangreiche Beweisaufnahme ergab keinerlei Anhaltspunkte für eine Mittäterschaft der Exilbulgaren bei der Brandstiftung. Der Oberreichsanwalt beantragte schließlich selbst Freispruch für sie. Für Torgler und van der Lubbe forderte er dagegen die Todesstrafe.96 Die Anklage gegen Torgler hatte sich aber im Laufe der Verhandlung als ein loses Gespinst vager Verdächtigungen erwiesen, kombiniert mit der vom Reichsgericht schon in republikanischen Zeiten entwickelten Fiktion, dass die KPD stets den Umsturz plane und jede kommunistische Tätigkeit daher Vorbereitung zum Hochverrat sei. Aufrufe zur Bildung einer Einheitsfront und zum »außerparlamentarischen Kampf«, die unter anderen Torglers Unterschrift trugen, hatten der Anklage als einziger Beleg für den »fortgesetzten Hochverrat« gedient. Beim besten Willen war aber keine Verbindung zwischen Torgler und dem Reichstagsbrand herzustellen gewesen. Und was van der Lubbe anbelangte, so hatte die Beweisaufnahme zwar ergeben, dass dieser einmal Mitglied der wallonischen kommunistischen Partei gewesen, inzwischen jedoch längst ausgetreten war, und in der Gerichtsverhandlung hatte sich keinerlei Kontakt des Holländers mit Kommunisten in Deutschland belegen lassen.

Dimitroff, Popoff und Taneff wurden antragsgemäß freigesprochen, und auch Torgler konnte nicht verurteilt werden. Trotz des Freispruchs aller kommunistischen Angeklagten brachte das Urteil das Kunststück fertig, die KPD für den Brand verantwortlich zu machen: »Wenn ... auch die Angeklagten Torgler und die Bulgaren als Mittäter nicht überführt werden konnten, so besteht kein Zweifel darüber, in welchem Lager sich diese Mittäter befunden haben ... Unzweifelhaft war der Reichstagsbrand eine politische Tat. Die ungeheure Größe des Verbrechens, also des Mittels, weist auf die Größe und Gewaltigkeit des Kampfobjekts hin. Das kann nur der Besitz der Macht gewesen sein ... Es kann sich nur um die Tat linksradikaler Elemente handeln, die sich von der Ausnutzung dieses Verbrechens die Möglichkeit eines Regierungs- und Verfassungssturzes und ihrer Machtergreifung versprachen ... Die KPD hat solche hochverräterischen Ziele als ihr Programm bekannt. Sie war die Partei des Hochverrats.«

Den naheliegenden Verdacht, die Nazis selbst seien die Brandstifter gewesen, ließ das Gericht dagegen gar nicht erst aufkommen: »Wie Reichsminister Dr. Goebbels als Zeuge mit Recht ausführte, hat die NSDAP vor dem 5. März, infolge ihrer starken Übermacht und der Schnelligkeit ihres Anwachsens, den Wahlerfolg schon in der Tasche gehabt. Sie hatte es nicht nötig, durch ein Verbrechen ihre Wahlaussichten zu verbessern. Die gesinnungsmäßigen Hemmungen dieser Partei schließen derartige Verbrechen und Handlungen, wie sie ihr von gesinnungslosen Hetzern zugeschrieben werden, von vornherein aus.«97

Offenbar war allein den Mitgliedern des Reichsgerichts verborgen geblieben, dass die NSDAP bei den Wahlen am 5. März 1933 trotz Behinderung der Linksparteien, massiver Eingriffe in die Wahl, brutaler Gewaltakte gegen die KPD und pausenloser Propaganda mit 43,9 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit im Reichstag deutlich verfehlt, den Wahlerfolg also keineswegs »in der Tasche« gehabt hatte. Dass das Gericht angesichts des Terrors, der von der NSDAP im Jahre 1933 im ganzen Reich entfesselt worden war, angesichts der Hunderte von Morden, der Tausende illegaler Verhaftungen, der Zerschlagung aller oppositionellen Gruppen und der rücksichtslosen Unterdrückung jeglicher Freiheit von den »gesinnungsmäßigen Hemmungen« dieser Partei sprach, kam der Satire nahe.

Den Angeklagten van der Lubbe verurteilte das Reichsgericht »wegen Hochverrats in Tateinheit mit aufrührerischer Brandstiftung« zum Tode. Die juristische Konstruktion mit Hilfe eines rückwirkenden Gesetzes erforderte jedoch einigen argumentativen Aufwand. Das Urteil vertrat die Auffassung, dass – davon abgesehen, dass mit dem Ermächtigungsgesetz die Regierung zum Erlass auch verfassungsändernder Gesetze ermächtigt worden sei – die Todesstrafe gegen van der Lubbe gar nicht gegen den elementaren rechtsstaatlichen Grundsatz »Nulla poena sine lege« (Keine Strafe ohne Gesetz) verstoße; dieser Grundsatz betreffe nämlich nur die Strafbarkeit, und strafbar sei die Brandstiftung ja schon vorher gewesen. In diesem Falle handele es sich dagegen nur um eine rückwirkende Erhöhung der Strafe, und die könne der Gesetzgeber jederzeit beschließen, ohne gegen rechtsstaatliche Grundsätze zu verstoßen. »Nur mit Hilfe solcher mörderischer Konstruktionen«, schrieb 1935 der in die USA emigrierte Staatsrechtler Otto Kirchheimer, »waren die Hinrichtungen politischer Gegner möglich«; seine Prognose, dafür würden die »Juristen des Dritten Reiches – Theoretiker und Praktiker – sich einmal verantworten müssen«,98 sollte sich allerdings als Irrtum erweisen.

Die Meinungen über das Urteil waren geteilt und sind es bis heute – wohl auch deshalb, weil das Regime seine Erwartungen scheinbar nicht erfüllt sah. Die Nationalsozialistische Parteikorrespondenz sprach von einem »glatten Fehlurteil«,99 der Völkische Beobachter berichtete unter der Überschrift »Letzter Anstoß zur Überwindung einer überalterten Rechtsprechung: Das nationalsozialistische Deutschland wird die Folgerungen zu ziehen wissen.«100 Und Hitler redete später in vertrauter Runde von einem »lächerlichen Ergebnis« des Prozesses.101 Angesichts solcher Reaktionen musste das Reichsgerichtsurteil wie ein mutiger Akt des Widerstands gegen die damaligen Machthaber erscheinen, und so wird es heute in der juristischen Literatur unter Hinweis auf die Naziäußerungen auch fast durchgängig dargestellt.

Die Reaktionen der Nationalsozialisten waren allerdings hochgradig heuchlerisch. Der weisungsabhängige Oberreichsanwalt hatte selbst auf Freispruch für die drei Bulgaren plädiert, und bei der Bedeutung des Reichstagsbrandprozesses ist es ausgeschlossen, dass er diese Entscheidung ohne Rücksprache getroffen hatte; belegt ist jedenfalls, dass der Prozess in mehreren Kabinettssitzungen diskutiert wurde. Angesichts der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit war das Dritte Reich gezwungen, in dem Verfahren von international üblichen rechtsstaatlichen Standards nicht allzu weit abzuweichen, denn der Prozess sollte schließlich alle Behauptungen, im »neuen« Deutschland gehe es nicht rechtsstaatlich zu, Lügen strafen. Wenn das Verfahren sich auch deutlich von dem unterschied, was später vor dem Volksgerichtshof stattfand, hat das Reichsgericht im Reichstagsbrandprozess mit dessen Vorbereitung und Durchführung, den polemischen Ausfällen gegen die Kommunisten, den tiefen Verbeugungen vor den neuen Machthabern im Urteil und schließlich mit der Anwendung der mörderischen Rechtskonstruktion der rückwirkenden Todesstrafe für Marinus van der Lubbe – wie das Landgericht Berlin, 47 Jahre später, es nannte – »politische Zweckjustiz« im Sinne der Nationalsozialisten geübt.102