Dem Kunden verpflichtet

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Einfache Kontexte: Die Domäne der Best Practice

Einfache Kontexte zeichnen sich durch Stabilität und klare Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus. Sie sind für jeden leicht zu identifizieren, denn die Antworten liegen auf der Hand und müssen in den seltensten Fällen hinterfragt werden. Es ist der Bereich des Altbekannten. Entscheidungen sind klar und können schnell getroffen werden, weil alle Beteiligten ein gleiches Verständnis haben. Es sind Bereiche, die sich wenig bis gar nicht ändern. Typische Probleme sind solche, die Unternehmen beispielsweise bei der Abwicklung eines Auftrags bei einem bestehenden Kunden haben können.

Wenn es sich um einfache Kontexte handelt, gilt es, die Dinge einfach zu handhaben und lediglich deren Umsetzung zu überwachen. Manager sind dann gefordert, die Probleme schnell einzuordnen und darauf zu reagieren. Das heißt, sie bewerten die Fakten der Situation, kategorisieren sie und reagieren aufgrund bewährter und etablierter Praktiken. Stark prozessorientierte Abläufe sind meistens in dieser einfachen Domäne zu finden. Geht etwas schief, kann ein Mitarbeiter ganz einfach das Problem als solches identifizieren, es kategorisieren und entsprechend reagieren.

Sowohl Manager als auch Mitarbeiter haben bei solchen Abläufen zumeist Zugriff auf die notwendigen Informationen. Diese braucht es, um mit der Situation gut umzugehen und die Bewältigung des Problems zu überwachen. Die Richtlinien sind einfach, Entscheidungen können leicht delegiert werden und gewisse Ausführungen sind im Regelfall bereits automatisiert. Die Einhaltung von Best Practices ist in dieser Domäne am sinnvollsten. Es bedarf nicht viel Kommunikation zwischen Managern und Mitarbeitern, da Meinungsverschiedenheiten darüber, was zu tun ist, nur ganz selten sind.

Eine Gefahr bei einfachen Kontexten: Führungskräfte, die unabhängig von der Komplexität der Situation ständig nach Informationen fragen, laufen Gefahr, einen falschen Eindruck von der Problematik zu bekommen. Außerdem kann es passieren, dass eine gewisse Selbstgefälligkeit auftritt, wenn die Dinge scheinbar wie von selbst laufen. Ändert sich nun der Kontext zu einem Zeitpunkt, reagiert der Manager meist zu spät.

Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass Snowden deswegen die Kategorie der einfachen Domäne direkt neben der des Chaos platziert. Sein Gedanke dabei ist, dass die häufigsten Einbrüche ins Chaos dann stattfinden, wenn der Erfolg Selbstzufriedenheit erzeugt hat. Diese Verschiebung kann zu einem katastrophalen Scheitern führen, wie es zum Beispiel zu beobachten ist, wenn einst dominante Technologien scheinbar aus dem Nichts durch dynamischere Alternativen ersetzt werden.

Die Lösung liegt darin, dass die Führungskräfte das große Ganze im Blick behalten und so eine Veränderung im Kontext erkennen können. Die meisten Probleme, die in der einfachen Domäne auftreten, können von Mitarbeitern eigenständig gelöst werden. Sie haben dank langjähriger Erfahrung einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie die Arbeit ausgeführt werden sollte. Die Aufgabe der Führungskräfte liegt darin, einen Kommunikationskanal zu schaffen, der frühzeitig warnt und auffällige Entwicklungen anzeigt.

Eine Sache, die es dabei vor allem zu bedenken gilt, ist, dass Best Practice definitionsgemäß bereits in der Vergangenheit praktiziert wurde. Die Verwendung von Best Practices ist in einfachen Kontexten zwar oft die beste Lösung, weil so auch am schnellsten und effektivsten Probleme gelöst werden. Aber dennoch ergeben sich Schwierigkeiten, zum Beispiel wenn die Mitarbeiter keine Möglichkeit haben, den Prozess zu hinterfragen, zu kommunizieren und vor Lösungen zu warnen, die nicht mehr funktionieren. Rückschau in einer komplizierten Welt führt nicht zur Vorschau, deswegen ist eine entsprechende Veränderung des Führungsstils erforderlich.

Komplizierte Kontexte: Die Domäne der Experten

Bei komplizierten Kontexten kann es im Gegensatz zu einfachen Kontexten mehrere richtige Antworten geben. Die Krux liegt darin, dass nicht jeder die klare Beziehung zwischen Ursache und Wirkung sehen kann. Snowden definiert diesen Bereich als den der »bekannten Unbekannten«.

Während Manager in einem einfachen Kontext eine Situation wahrnehmen, kategorisieren und darauf reagieren sollten, müssen sie in einem komplizierten Kontext wahrnehmen, analysieren und reagieren. Dieser Ansatz ist nicht einfach und erfordert oft einiges an Fachwissen: Ein Autofahrer weiß vielleicht, dass mit seinem Auto etwas nicht stimmt, weil die Anzeige das so sagt oder er ein Klopfen wahrnimmt, aber er muss es zu einem Mechaniker bringen, um das tatsächliche Problem analysieren und beheben zu lassen.

Da der komplizierte Kontext die Analyse mehrerer Optionen erfordert, ist es besser, wenn zunächst auch mögliche Ursachen aufgedeckt und besprochen werden, bevor ein bewährtes Verfahren angewandt wird. Zum Beispiel könnte der übliche Ansatz zum Entwickeln eines neuen Produkts die Eigenschaft A über die Eigenschaft B hervorheben und erklären, aber dennoch ist es sinnvoll, eine alternative Eigenschaft C zu entwickeln und zu besprechen, um gezielt zu planen.

Ein anderes Beispiel, das Snowden anführt, ist die Suche nach Öl- oder Mineralvorkommen. Der Aufwand erfordert in der Regel ein Team von Experten. Es ist wichtig, dass mehrere potenzielle Bohrstellen identifiziert werden, da mehr als ein Ort möglicherweise mehr und auch bessere Ergebnisse produzieren wird. Das bedarf allerdings einer genauen und zumeist komplizierten Analyse. Diese Analyse wiederum braucht ein Verständnis der Folgen auf mehreren Ebenen.

Wenn in komplizierten Kontexten die Experten das Feld übernehmen, neigen sie dazu, andere und durchaus innovative Vorschläge von Nicht-Experten zu übersehen oder abzulehnen. Schließlich haben die Experten immens viel Zeit und Energie in den Aufbau ihres Wissens investiert. Doch diese Sturheit kann mitunter zu verpassten Chancen führen.

Verlagert sich allerdings der Kontext, ist ein Zugang zu neuen und anderen Ideen durchaus hilfreich. Ein Manager, der dieses Problem hat, kann also den Experten um Rat fragen, sollte aber gleichzeitig neue Gedanken und Lösungen von anderen begrüßen. In meinem Beratungsalltag habe ich schon erlebt, dass der Portier gewonnen hat, als der Vorstand eines großen Konzerns unternehmensintern zu einem Brainstorming-Prozess für ein neues Produkt aufgerufen hatte. Er wurde sogar für einen internationalen Preis vorgeschlagen.

Ein weiteres potenzielles Hindernis ist die Paralyse durch zu viel Analyse. Dabei wird eine Situation so intensiv analysiert, dass eine Entscheidung hinausgezögert oder gar ganz verhindert wird. Auf der Suche nach der perfekten Lösung wird eine mögliche Entscheidung durch den Betroffenen als zu kompliziert bzw. zu umfangreich angesehen.

Das Arbeiten in unbekannten Domänen kann Managern und Experten die Augen öffnen und zu kreativeren Entscheidungen führen. Zum Beispiel habe ich für ein Projekt eine Woche lang Marketingspezialisten in mehreren medizinischen Forschungsumgebungen eingesetzt. Die Umgebungen waren ungewohnt und herausfordernd, hatten aber trotzdem Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Einsatzgebiet: In beiden Fällen ging es darum, mit einer großen Menge an Daten zu hantieren. Sowohl in der Medizin als auch im Marketing wird viel mit Langzeitwerten gearbeitet. Es werden etliche Befragungen, Untersuchungen, Beobachtungen etc. vorgenommen, um möglichst genaue Aussagen treffen zu können. Die Marketingspezialisten sollten verschiedene Trends und Signale am Markt identifizieren. Je länger die Experten in diesem Bereich arbeiteten, desto mehr Parallelen fanden sie. So war zum Beispiel der Umgang mit Endkunden ein ähnlicher, ebenso der Prozess der Erforschung von neuen Trends. Diese Übung half der Marketinggruppe zu lernen, wie sie einen möglichen Verlust von Loyalität rasch erkennen und gezielt Maßnahmen ergreifen kann, bevor ein wichtiger Kunde zu einem Konkurrenten wechselt. Durch die Verbesserung ihrer Strategie dank des neuen Wissens konnten die Marketingleute weitaus erfolgreicher agieren und die Kundenzufriedenheit steigern.

Aber nicht nur neue Bereiche fördern neues Denken. Ein weiterer Ansatz, den wir im Design Thinking nutzen, sind Spiele. Spaß durch Spiele fördert neues Denken enorm. So habe ich ein Spiel entwickelt, das auf einem fiktiven Planeten angesiedelt ist. Bei diesem Spiel basiert die Kultur allerdings auf einer echten Kundenorganisation. Als die Führungskräfte auf dem fremden Planeten »landeten«, wurden sie gebeten, die Probleme und Chancen der Bewohner anzusprechen. Die Probleme, auf die sie stießen, waren verschleiert, aber so gestaltet, dass sie reale Situationen widerspiegelten, von denen viele kontrovers oder sensibel waren. Da die Umgebung jedoch so fremd und abgelegen zu sein schien, fanden die Spieler es viel einfacher, neue Ideen zu entwickeln, als es sonst der Fall gewesen wäre. Ein metaphorisches Spiel zu spielen, steigert die Experimentierfreudigkeit von Managern, ermöglicht es ihnen, Probleme einfacher und kreativer zu lösen, und erweitert die Auswahlmöglichkeiten innerhalb der eigenen Entscheidungsprozesse. Das Ziel von Spielen liegt generell darin, so viele Perspektiven wie möglich zu bekommen, um eine uneingeschränkte Analyse zu fördern.

Entscheidungen in der komplizierten Domäne zu treffen, kann viel Zeit in Anspruch nehmen. Häufig erfordert die Suche nach der richtigen Antwort, nach einer letztgültigen Entscheidung auch einen Kompromiss. Wenn die richtige Antwort jedoch schwer zu finden ist und Sie Ihre Entscheidung auf unvollständige Daten stützen müssen, befinden Sie sich vielleicht eher in einer komplexen als in einer komplizierten Domäne.

 

Komplexe Kontexte: Die Domäne der Emergenz

In einem komplizierten Kontext existiert mindestens eine richtige Lösung bzw. Antwort. In einem komplexen Kontext gibt es jedoch keine eindeutig richtige Antwort. Für ein besseres Verständnis hilft vielleicht dieser Vergleich: Nehmen Sie ein Auto und den Verkehr. Autos sind zwar komplizierte Maschinen, aber ein erfahrener Mechaniker kann sie auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, ohne etwas zu verändern. Das Auto ist statisch und letztlich immer die Summe seiner einzelnen Teile. Der Verkehr hingegen ist etwas, das ständig in Bewegung ist. Die Verkehrsteilnehmer ändern sich, das Wetter beeinflusst die Straßen und unterliegt Schwankungen, ein Bauprojekt führt zu Umleitungen etc. Das Ganze ist bei Weitem mehr als die Summe seiner Teile. Dieser Bereich ist der der »unbekannten Unbekannten«. Und es ist jener Bereich, in dem sich heutzutage die meisten Unternehmen befinden.

Denn die Mehrzahl der Situationen und Entscheidungen in Unternehmen ist komplexer Natur. Zahlreiche Unternehmen befinden sich inmitten großer Veränderungen: Ein schlechtes Quartal, ein neues Management, eine Fusion oder Übernahme bedingen gewisse Unvorhersehbarkeiten. In diesem Bereich können Sie meist nur im Nachhinein begreifen, warum sich die Dinge auf diese Art und Weise entwickelt haben. Deswegen ist in dieser Domäne das Experiment von so großer Bedeutung: Es gilt, geduldig zu verstehen, auszuprobieren, zu prüfen, dann zu spüren und im letzten Schritt zu antworten. Einfach vorzupreschen und eine Idee mit Gewalt durchzusetzen, kann allein deswegen schon nicht funktionieren.

Oftmals sind Unternehmen mit speziellen Herausforderungen konfrontiert, die eine Situation in die komplexe Domäne manövrieren. Es bedarf einer schnellen Lösung und der Druck ist enorm. Experten werden angeheuert, und im besten Fall versuchen diese, die Situation nachzuvollziehen und zu simulieren. Keiner der Experten wird in diesem Bereich sofort wissen, welche Antwort funktionieren wird. Stattdessen muss hier aus den zur Verfügung stehenden Informationen eine Lösung entwickelt werden.

Gerade bei Innovationen ist es oft unmöglich, alle Anwendungen und Einsatzbereiche vorherzusagen, die letztlich existieren könnten. Die Nutzer müssen zunächst überhaupt damit beginnen, ein neues Produkt einzusetzen. Erst danach kann ein Unternehmen die aufkommenden Muster unterstützen und erweitern.

Wie in den anderen Kontexten stehen die Führungskräfte in diesem komplexen Bereich vor mehreren Herausforderungen. Von größter Bedeutung ist die Versuchung, wieder in bekannte Managementstile zu fallen. Wie verlockend klingen in solchen Situationen ausfallsichere Businesspläne mit definierten Ergebnissen? Führungskräfte, die nicht verstehen, dass eine komplexe Domäne ein experimentelleres Vorgehen erfordert, werden schnell ungeduldig, da sie scheinbar nicht die Ergebnisse erzielen, die sie anstreben.

Aber nicht nur das: Es ist auch extrem schwierig, Scheitern und Versagen nicht nur zu tolerieren, sondern als Teil eines Lernprozesses zu verstehen. Dabei ist gerade das ein wesentlicher Aspekt des experimentellen Verständnisses. Wenn Sie versuchen, das Unternehmen zu kontrollieren und jeden Schritt vorzugeben, haben Sie nicht die Chance, natürlich auftretende Muster zu entdecken. Führungskräfte, die versuchen, in einem komplexen Kontext Ordnung zu schaffen, werden scheitern, aber diejenigen, die die Möglichkeiten des Ausprobierens begrüßen, die bewusst einen Schritt zurücktreten, Muster geduldig entstehen lassen und dann erst bestimmen, welche davon wünschenswert sind, werden Erfolg haben. Sie werden viele Möglichkeiten für Innovation, Kreativität und neue Geschäftsmodelle erkennen.

Chaotische Kontexte: Die Domäne der schnellen Reaktion

In einem chaotischen Kontext ist die Suche nach der richtigen Antwort wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen: schlicht und ergreifend sinnlos. Denn die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung sind unmöglich zu bestimmen, weil sie sich ständig verschieben und keine überschaubaren Muster existieren – es herrschen nur Turbulenzen. Die Ereignisse vom 11. September 2001 fallen in diese Kategorie. Willkommen im Reich des Chaos.

In der chaotischen Domäne besteht die unmittelbare Aufgabe eines Managers nicht darin, Muster zu entdecken, sondern darin, das Feuer auf dem Dach zu löschen. Zunächst muss gehandelt werden, um eine gewisse Ordnung wiederherzustellen. Erst dann kann sich der Fokus darauf richten, wo Stabilität vorhanden ist und wo sie eindeutig fehlt. Danach wird darauf reagiert, und zwar so, dass die Situation von Chaos zu Komplexität transformiert wird. Dort, wo auftauchende Muster als solche identifiziert werden, können sowohl zukünftige Krisen verhindert als auch neue Möglichkeiten erkannt werden. Kommunikation ist in dieser Situation nicht nur der direkte Weg, sondern der einzig mögliche. Zu kommunizieren ist zwingend notwendig.

Leider beruhen die meisten Führungsrezepte auf Beispielen eines guten Krisenmanagements. Das ist ein Fehler, nicht nur weil chaotische Situationen glücklicherweise selten sind. Obwohl die Ereignisse vom 11. September nicht unmittelbar nachvollziehbar waren, erforderten die Anschläge ein entschlossenes Handeln. Der damalige Bürgermeister von New York, Rudy Giuliani, zeigte unter chaotischen Bedingungen außergewöhnliches Geschick, indem er Richtlinien erließ und Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung ergriff. In seiner Rolle als Bürgermeister wurde er jedoch häufig für genau diesen Top-down-Führungsstil kritisiert, der sich während der Ausnahmesituation als so enorm effektiv erwies. Auch nachdem sich eine gewisse Ruhe wieder eingestellt hatte, wurde Giuliani kritisiert, weil er vorgeschlagen hatte, Wahlen zu verschieben, damit er Ordnung und Stabilität aufrechterhalten könne. In der Tat besteht eine besondere Gefahr für Führungskräfte nach einer Krise darin, dass einige von ihnen weniger erfolgreich werden, wenn sich der Kontext verschiebt, weil sie nicht in der Lage sind, den Stil zu wechseln und anzupassen.


Darüber hinaus können Manager, die in chaotischen Kontexten sehr erfolgreich sind, ein übersteigertes Selbstbild entwickeln und in der eigenen Wahrnehmung zum Helden werden. Wenn sie aber tatsächlich zu einer Legende werden, wird das Managen schwieriger, weil ein Kreis bewundernder Unterstützer sie von den wirklichen Informationen bewusst und unbewusst abschneidet.

Dennoch ist die chaotische Domäne fast immer der beste Ort für Führungskräfte, um Innovationen voranzutreiben. Die Menschen sind in diesen Situationen offener für Neuerungen und Veränderungen als in anderen Kontexten. Eine ausgezeichnete Technik besteht darin, Chaos und Innovation parallel zu managen: In dem Moment, in dem Sie in eine Krise geraten, ernennen Sie einen zuverlässigen Manager oder ein Krisenteam, um das Problem zu lösen. Zur gleichen Zeit stellen Sie ein weiteres Team zusammen, das sich darauf konzentriert, die Dinge anzustoßen und anders zu machen. Wenn Sie warten, bis die Krise vorbei ist, ist die Chance vertan.

Führung über Kontexte

Eine gute Führung erfordert vor allem Offenheit für Veränderungen auf individueller Ebene. Erfolgreiche Führungskräfte wissen nicht nur, wie sie den Kontext, in dem sie gerade arbeiten, identifizieren, sondern auch, wie sie ihr Verhalten und ihre Entscheidungen so ändern, dass ihr Verhalten diesem Kontext entspricht. Sie bereiten ihre Mitarbeiter auch darauf vor, die verschiedenen Kontexte und die Bedingungen für den Übergang zwischen ihnen zu verstehen.

Universitäten, aber auch Unternehmen bilden ihre Führungskräfte dazu aus, in gelenkten und geordneten Bereichen zu arbeiten (einfach und kompliziert), aber die meisten Manager benötigen heute andere Fähigkeiten, da sie in ungeordneten Kontexten (komplex und chaotisch) arbeiten. Angesichts der heutigen Komplexität reichen auch Intuition, Intellekt und Charisma nicht mehr aus. Es bedarf vielmehr neuer Instrumente und Ansätze, um Unternehmen sicher durch weniger vertraute Gewässer zu bringen.

Viele Führungskräfte lernen, ihren Entscheidungsstil an wechselnde Geschäftsumfelder anzupassen. Einfache, komplizierte, komplexe und chaotische Kontexte erfordern unterschiedliche Reaktionen. Durch die richtige Identifizierung des herrschenden Kontexts, das Erkennen von Gefahrensignalen und das Vermeiden unangemessener Reaktionen können Manager in einer Vielzahl von Situationen erfolgreich führen.

Nach den Morden im Fast-Food-Lokal 1993 stand der stellvertretende Polizeichef Walter Gasior gleich vier Kontexten gleichzeitig gegenüber:

•Er musste über die Medien sofort Maßnahmen ergreifen, um die Welle der aufkommenden Panik einzudämmen, indem er die Bürger auf dem Laufenden hielt (chaotisch).

•Er musste dazu beitragen, dass seine Abteilung routinemäßig und nach festgelegten Verfahren funktionierte (einfach).

•Er musste Experten hinzuziehen (kompliziert).

•Und er musste die Bevölkerung auch noch in den Tagen und Wochen nach dem Verbrechen weiterhin beruhigen (komplex).

Die letztgenannte Aufgabe erwies sich als die größte Herausforderung. Die Eltern hatten Angst, ihre Kinder in die Schule gehen zu lassen, und die Angestellten sorgten sich um die Sicherheit an ihrem Arbeitsplatz. Hätte Gasior den Kontext als einfach verstanden, hätte er vielleicht gesagt: »Macht doch einfach weiter wie bisher. Es wird schon nichts passieren.« Das hätte allerdings die Menschen sicher nicht wieder beruhigt. Und wenn er Experten hinzugezogen hätte, um zu erklären, dass die Situation wieder sicher sei, hätte er wohl an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren.

Stattdessen richtete Gasior einen Raum für Unternehmer, Schüler, Lehrer und Eltern ein, um Informationen wie auch Sorgen auszutauschen. Es war der richtige Ansatz für einen komplexen Kontext: Er ließ Lösungen aus der Gemeinschaft selbst hervorgehen, anstatt sie ihr aufzudrängen.

In der komplexen Umgebung der heutigen Geschäftswelt werden Führungskräfte oft aufgefordert, gegen ihren Instinkt zu handeln. Dabei sollten sie wissen, wann sie die Macht teilen und wann sie allein vorgehen müssen. Oder wann sie auf die Schwarmintelligenz der Gruppe hören und wann sie ihren eigenen Erkenntnissen folgen sollen.

Ein tiefes Verständnis des Kontexts, die Fähigkeit, Komplexität als solche zu erkennen und anzunehmen, sowie die Bereitschaft, den eigenen Stil flexibel anzupassen, werden mehr denn je für Führungskräfte erforderlich sein, die in einer Zeit zunehmender Unsicherheit etwas bewegen wollen.

AUF DEN PUNKT GEBRACHT

•»Die welt ist kompliziert geworden«, wird oft gesagt. Tatsächlich hat sie vor allem an Komplexität zugenommen.

•Der Hauptunterschied zwischen komplizierten und komplexen Systemen liegt darin, dass Sie bei Ersteren normalerweise Ergebnisse vorhersagen können, bei Letzteren nicht.

•Unternehmen haben es überwiegend mit komplexen Situationen und Entscheidungen zu tun.