Belladonnas Schweigen

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Sari: Leo Schwartz #13
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Sie meinen, wir haben es im vorliegenden Mordfall an Kevin Eichinger mit dieser Person zu tun?“

„Könnte doch sein, oder? Schon der dritte Fall, in dem ein Retter zur Hilfe kam, das kann doch kein Zufall sein! Und wenn das nicht die einzigen Fälle waren? Wenn dieser vermeintliche Retter schon öfter eingeschritten ist, ohne dass wir davon was wissen?“

„Danke für die Info, das klingt alles sehr interessant. Was können Sie uns über Martin Mahnstein sagen?“

„Der Martin ist im Grunde genommen ein ganz netter Kerl. Er spielt gerne den Superhelden und es gibt Leute, die sich vor ihm erschrecken. Ich persönlich halte ihn für absolut harmlos. Allerdings haut er öfter ab und streift ohne Begleitung durch Altötting. Ich habe ihn selbst schon hilflos aufgegriffen. Er ging einfach mit jemandem mit und hat dann nicht mehr nach Hause gefunden. Wenn Sie mich fragen, ist seine Mutter mit ihm überfordert. Martin gehört in eine professionelle Einrichtung. Aber zum Glück muss ich das nicht entscheiden, das ist nur meine persönliche Meinung.“

Nachdem Leo seinen Chef und auch Viktoria und Werner telefonisch über die beiden Vorfälle in Altötting unterrichtet hatte, die ebenfalls mit einem vermeintlichen Retter zu tun hatten, rief er den Bewährungshelfer Sporrer an, der gerade auf dem Sprung war und einen Termin außer Haus hatte. Als er hörte, dass sein Schützling Kevin Eichinger ermordet wurde, war er sehr betroffen. Er wollte auf die Polizisten warten und selbstverständlich sofort mit ihren sprechen.

Eichingers Akte lag auf dem Tisch, als die Polizisten eintraten. Sporrer gab freimütig Auskunft.

„Kevin Eichinger war kein leichter Charakter. Er kam nie damit zurecht, dass er damals als Jugendlicher seine Heimat in Ostdeutschland verlassen musste. Ich kann das sehr gut verstehen, ich habe selbst einen ähnlichen Hintergrund. Ich komme aus Chemnitz und auch ich wollte dort nicht weg, schließlich ist das Heimat und die verlässt man nicht einfach so. Aber das Leben stellt nun mal seine Weichen. Nach meinem Studium wurde mir die Stelle hier in Altötting angeboten und ich war sehr froh über diese Chance. Ursprünglich wollte ich nur eine kurze Zeit bleiben, daraus sind nun fast 15 Jahre geworden. Inzwischen gefällt es mir hier sehr gut. Aber ich schweife ab. Sie sind wegen Kevin Eichinger hier und nicht wegen meiner persönlichen Lebensgeschichte. Kevins Eltern wollten damals nach dem Fall der Mauer unbedingt raus aus Ostdeutschland. So, wie ich das in Erinnerung habe, wohnte ein entfernter Verwandter in Altötting, der zwischenzeitlich schon verstorben ist. Kevin Eichinger fand bei der Altöttinger Jugend keinen Anschluss, er war auch ein sehr schlechter Schüler. Er rutschte ab und geriet in Kreise, die ihn immer weiter herunterzogen. Eine Straftat zog die andere nach sich und die Knastaufenthalte häuften sich. Aber seit drei Jahren war Kevin Eichinger sauber. Er ging einer geregelten Arbeit nach, es gab nie Beschwerden. Sie kennen den Arbeitgeber?“

„Ja. Unsere Kollegen sind bereits vor Ort. Sie haben einen engeren Kontakt zu Kevin Eichinger gepflegt?“

„Das handhabe ich so, obwohl das nicht üblich ist. Meine Kollegen halten nur sporadisch Kontakt zu ihren Schützlingen, manche kennen sie nicht einmal persönlich. Ich mache meinen Job aus Leidenschaft und sehe immer das Gute im Menschen, auch wenn alles noch so hoffnungslos scheint. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass bei engem Kontakt Straftaten verhindert oder zumindest erschwert werden. Das bedeutet zwar einen umfangreichen Zeitaufwand meinerseits, aber den nehme ich für die gute Sache gerne in Kauf.“

„Sie kennen auch Kevins Bruder Justin?“

„O ja, den durfte ich kennenlernen und ich halte nichts von ihm. Justin war kein guter Umgang für Kevin. Ich kann offen sprechen? Justin ist ein ganz labiler Charakter, der mir große Bauchschmerzen verursacht. Wenn Sie mich fragen, bewegt er sich in Kreisen, die es einem schwer machen, sauber zu bleiben. Ich befürchte bei ihm das Schlimmste. Aber Justin ist nicht mein Schützling und deshalb ist es nicht meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern.“

„Noch etwas, das für uns wichtig wäre?“

Sporrer schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr.

„Wenn wir hier fertig sind, müsste ich los. Hier ist meine Karte.“

Der nächste Weg führte sie in die Bierschwemme, in der um diese Uhrzeit schon einiges los war. Vier Tische waren besetzt und der Mann hinter der Theke war gerade dabei, die Gläser des Vorabends zu spülen. Leo und Hans zeigten ihre Ausweise.

„Sie sind wegen Kevin Eichinger hier? Ich habe von dem Mord gehört, kann dazu aber nichts sagen.“ Der Inhaber Stefan Amann war zwar nicht unfreundlich, aber man merkte deutlich, dass er die Polizei nicht mochte und nicht gewillt war, Auskunft zu geben. Trotzdem bohrte Leo nach, so schnell wollte er nicht aufgeben.

„Uns ist zu Ohren gekommen, dass Kevin Eichinger immer wieder auffällig geworden ist?“

Amann schüttelte den Kopf und spülte ungehindert weiter.

„Nicht mehr wie andere auch. Ich kann über Kevin nichts Negatives sagen.“

„Und über seinen Bruder Justin?“

„Auch er ist ein gern gesehener Gast, über den ich nur Gutes zu berichten habe.“

„Jetzt spielen Sie doch hier nicht den Ahnungslosen, Amann. Wir haben die Akten der Polizei über die Vorkommnisse hier in der Bierschwemme gesehen. Sie tun ja gerade so, als wenn wir hier von braven Bürgern sprechen.“

„Sicher gab es das eine oder andere. Aber ich muss mich wiederholen: Mit den beiden gab es nicht mehr Probleme als mit anderen.“

„Mit wem war Kevin Eichinger befreundet?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mal saß Kevin mit den einen am Tisch, mal mit den anderen, das wechselte ständig.“

„Erzählen Sie uns doch keinen Blödsinn! Nach unseren Informationen war Kevin Eichinger Dauergast in Ihrem netten Etablissement.“

„Hören Sie. Ich habe hier noch etwas anderes zu tun, als mich darum zu kümmern, wer mit wem zusammensitzt. Ich habe meine Aussage gemacht. Und wenn die Ihnen nicht passt, kann ich Ihnen auch nicht helfen, mehr weiß ich nun mal nicht. Was meine Kneipe betrifft, erfülle ich alle mir gestellten Auflagen und zahle pünktlich meine Steuern, mehr bin ich dem Staat nicht schuldig.“

Viktoria und Werner parkten ihren Wagen direkt neben der Staubsauger-Station der Tankstelle in Neuötting. Nach ihren Informationen arbeitete Kevin Eichinger seit drei Jahren hier.

„Kripo Mühldorf. Wo finden wir den Chef?“, fragte Viktoria die junge Frau hinter der Kasse, die herzhaft gähnte und mit überlangen, funkelnden Fingernägeln in ihr Handy tippte. Ohne eine Antwort zeigte sie nur auf eine Metalltür, wobei sie den Blick immer auf dem Display ihres Handys hatte. Die Frau war ja ein echtes Herzchen. Hinter der Metalltür befand sich ein schmuddeliger Aufenthaltsraum, der wiederum direkt in die Werkstatt führte. Ein älterer Mann stand an der Werkbank.

„Kripo Mühldorf, mein Name ist Untermaier, das ist mein Kollege Grössert. Sie sind der Besitzer der Tankstelle?“

„Besitzer wäre gut, ich bin lediglich der Betreiber. Kurz mein Name, Berthold Kurz. Was will die Kripo von mir?“

„Wir sind wegen Kevin Eichinger hier.“

„Hat er etwas angestellt?“

„Er wurde getötet.“

„Kevin ist tot? Das darf doch nicht wahr sein!“ Die Reaktion war nicht gespielt, Kurz wusste noch nichts vom Tod seines Mitarbeiters. „Ich habe mich schon gewundert, warum er heute nicht zur Arbeit erschienen ist und habe mehrfach versucht, ihn zu erreichen. Ich dachte, er hätte verschlafen. Deshalb habe ich heute meine Tochter Corinna eingesetzt, die deshalb stinksauer ist. Sie ist im Kundenverkehr eine Katastrophe. Aber was soll ich machen?“ Kurz trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. „Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass Kevin tot ist. Was ist denn in Gottes Namen passiert?“

„Er wurde erstochen. Hatte er mit irgendjemandem Streit? Ist Ihnen in letzter Zeit etwas aufgefallen?“

Kurz schüttelte den Kopf.

„Kevin war trotz seiner Vorgeschichte zuverlässig, fleißig und bei meinen Kunden sehr beliebt. Es gab nie Ärger mit ihm. Anfangs war ich nicht gerade begeistert, einen Exknacki einzustellen, habe aber für den Job und die miese Bezahlung niemand anderen gefunden. Heute möchte sich keiner mehr freiwillig die Hände schmutzig machen. Außerdem ist die Unterstützung vom Staat fast genauso hoch wie der Verdienst. Da bleiben die meisten doch lieber zu Hause, liegen den ganzen Tag auf der Couch und glotzen in den Fernseher. Aber mehr als den Mindestlohn kann ich leider nicht bezahlen, dafür wirft die Tankstelle und die kleine Werkstatt viel zu wenig ab.“ Berthold Kurz ließ aus dem alten Kaffeeautomaten frischen Kaffee in seinen schmuddeligen Kaffeebecher und schüttelte immer wieder den Kopf. „Der Kevin ist tot. Das kann ich kaum glauben. Ich habe einen sehr wertvollen Angestellten verloren. Jetzt muss ich wieder lange suchen, bis ich für den Hungerlohn einen adäquaten Ersatz gefunden habe.“

„Gibt es auf Ihrem Firmengelände Überwachungskameras?“

„Natürlich, welche Tankstelle hat die nicht? Schon seit Jahren häufen sich wegen der hohen Spritpreise die Tankdiebstähle, dagegen muss man was tun. Schließlich bleiben wir Betreiber auf den Kosten sitzen, wenn wir den Diebstahl nicht beweisen können. Wir Tankstellen-Betreiber können nun wirklich am wenigsten für die Preispolitik im Ölgeschäft, uns fragt doch niemand. Wir müssen die Preise hinnehmen, die die großen Konzerne bestimmen. Dafür bekommen wir den Ärger der Kunden ab. Als ob wir durch das Tanken reich werden! Glauben Sie mir, das ist eine der undankbarsten Branchen überhaupt.“

„Würden Sie uns die Aufzeichnungen der Überwachungskameras überlassen?“

 

„Wenn Sie mir einen offiziellen Gerichtsbeschluss zeigen, gerne. Ich weiß, dass das nicht gerade für mich spricht, aber ich habe schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht.“

Berthold Kurz sah den beiden Polizisten hinterher. Mit Kevin selbst kam er prima zurecht. Seine kleinen Geschäfte, die er nebenher abwickelte, nahm er ohne nachzufragen hin. Schließlich hatte auch er selbst eine Nebentätigkeit, mit der er sich ein Zubrot verdiente. Er wollte nicht wissen, was Kevin machte und es ging ihn auch nichts an. Zumindest so lange nicht, wie diese Geschäfte seine Arbeit nicht beeinträchtigten. Es gab nur ab und zu Ärger, wenn Kevins Freunde und vor allem sein Bruder vorbeikamen. Das waren echt gefährliche Typen, die sich einen Spaß daraus machten, Kunden anzupöbeln und zu erschrecken. Zum Glück hielten sich diese Besuche in Grenzen und Kevin konnte die Situation immer schnell klären. Trotzdem war es auf jeden Fall besser, die Aufzeichnungen der Überwachungskameras sofort verschwinden zu lassen.

Er ging vorbei an seiner Tochter Corinna, die immer noch fleißig in ihr Handy tippte. Kurz schüttelte den Kopf, die Frau war echt eine Katastrophe. Hoffentlich fand sie bald einen Mann, der sich um sie kümmert und sie versorgt, denn allein wäre Corinna aufgeschmissen. Und er hatte keine Lust, noch länger für das Lotterleben seiner Tochter aufzukommen. Das Verhältnis zwischen den beiden war schon seit vielen Jahren sehr angespannt, noch bevor die Mutter abgehauen ist und die Tochter zurückgelassen hatte. Corinna wusste genau, dass ihr Vater nicht viel von ihr hielt, und sie provozierte ihn, wo sie nur konnte. Sie sah ihm hinterher und spürte, dass er etwas vorhatte. Schon allein die Tatsache, dass er die Tür des Büros hinter sich zumachte, bestätigte ihren Verdacht. Sie ging in den Aufenthaltsraum, von dem ein Fenster ins Büro ging. Durch die schmutzige Scheibe konnte sie beobachten, wie ihr Vater einige DVDs aus der Überwachungsanlage nahm und in eine Tasche steckte. Das Ganze dauerte nur wenige Augenblicke. Ihr Vater stand auf und Corinna lief schnell hinter den Kassentresen zurück. Wie vorher auch blickte sie stur auf ihr Handy. Ihr Vater sah sie an und wie immer schüttelte er nur den Kopf. Dann ging er nach draußen und warf die Tasche mit den DVDs in den Müllcontainer. Sie wartete, bis ihr Vater wie üblich zur Bank ging. Dann ging sie zum Müllcontainer und fischte die Tasche mit den DVDs raus und verstaute sie in ihrer Handtasche. Später, wenn sie Zeit und Lust hätte, würde sie sich ansehen, was ihr Vater vor der Polizei zu verbergen hatte.

„Der Mann weiß was und sagt nichts,“ sagte Werner wütend, der es nicht leiden konnte, wenn er angelogen wurde. Viktoria informierte Krohmer, der sich umgehend um den Beschluss kümmern wollte.

„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mir gerne den Tatort ansehen.“ Werner war nach den vielen Wochen Abwesenheit wieder in seinem Element und genoss die Arbeit. Auch wenn er gerne Zeit mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau verbrachte, liebte er auch seinen Job.

„Von mir aus, wenn wir schon mal hier sind…“ Viktoria war davon nicht begeistert, denn sie wusste nicht, was das bringen sollte. Sie hatten dort gestern sehr viel Zeit verbracht und es war nichts dabei herausgekommen. Außerdem könnte sich Werner den Tatort auch auf Fotos ansehen. Aber sie wollte sich nicht gleich am ersten Tag mit ihm anlegen und fuhr los.

Sie parkten den Wagen in der Trostberger Straße und gingen die wenigen Meter zu Fuß zur Marienstraße. Hier auf der linken Straßenseite vor dem leerstehenden Geschäft war es geschehen. Nur eine getrocknete Blutlache und Kreidereste auf dem Boden zeugten noch von der gestrigen Gewalttat. Werner besah sich alles genau. Gedanklich ging er das Verbrechen durch. Hier auf dem Gehweg stand das Opfer, vor sich befand sich die Frau, die er verprügelte. Von dort unten oder aber von der Seitenstraße muss der vermeintliche Retter gekommen sein, obwohl die wenigen Zeugen nur von der Marienstraße gesprochen hatten. Viktoria wurde stutzig, als sie Werners Blicken folgte.

„Du meinst, der Typ kam vom Kreuzweg?“

„Warum nicht? Lass uns nachsehen, vielleicht haben wir Glück.“

„Na gut, wenn wir schon mal hier sind…“ Viktoria war sich sicher, dass Fuchs auch diese Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Allerdings wusste sie auch, dass sich die meisten Zeugenaussagen auf die Marienstraße konzentrierten und dabei die kleine Gasse vielleicht vernachlässigt wurde. Wie auch immer. Werner wollte sich selbst überzeugen und sie folgte ihm.

Sie gingen über die Straße in die schmale Gasse Am Kreuzweg, die die Marienstraße mit dem Kapellplatz verband. Werner lief sehr langsam voraus, hielt den Blick immer auf den Boden und bückte sich ab und zu. Sie waren bis zum Eingang des Kreuzweges vorgedrungen, der sich links befand. Sie passierten den Brunnen mit den Symbolen der sieben Sakramente und Viktoria staunte nicht schlecht, als Werner den Kreuzweg betrat, der bislang nicht in Betracht gezogen wurde.

„Keiner der Zeugen hat den Kreuzweg erwähnt. Nichts deutet darauf hin, dass der Täter hier gewesen wäre,“ maulte sie. Sie wusste genau, dass der Kreuzweg vom Vormittag bis zum Nachmittag immer gut besucht war, denn für die meisten Besucher der Gnadenkapelle gehörte der Kreuzweg zum Programm. Es wäre doch irgendjemandem aufgefallen, wenn der Täter hier gewesen wäre. Sie hielt diese Möglichkeit für absolut unwahrscheinlich.

„Wenn nun alle durch die Tat abgelenkt waren? Vielleicht waren zu dem Zeitpunkt keine Besucher im Kreuzweg? Ich möchte nur kurz nachsehen, es dauert auch nicht lange,“ antwortete Werner und ging seinen Weg weiter. Es war ihm egal, was die Zeugen sagten. Er versetzte sich in die Situation des Täters und er an seiner Stelle wäre hierher gerannt und hätte hier irgendwo die Tatwaffe entsorgt.

Viktoria fügte sich murrend und sah sich um. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen, genauer gesagt seit den Feierlichkeiten zur Renovierung des Kreuzwegs 1991, zu den sie ihre damalige Schwiegermutter gedrängt und überredet hatte. Ja, ihre Schwiegermutter konnte nerven, aber sie war eine Seele von Mensch, fast zu gut für diese Welt. Von dieser Charaktereigenschaft hatte ihr geschiedener Mann leider nichts geerbt: Er war selbstsüchtig, egoistisch und hinterfotzig. Schnell zwang sie sich dazu, die Gedanken an ihren Exmann aus dem Kopf zu verdrängen, und erinnerte sich viel lieber an den damaligen Besuch mit ihrer Schwiegermutter, die leider kurz darauf schon sterben musste. Sie hatten 1991 den weiten Weg auf sich genommen und waren früh morgens losgefahren, um pünktlich hier zu sein und in vorderster Reihe einen guten Platz zu ergattern. Damals wusste sie noch nicht, dass Altötting einmal zu ihrem beruflichen Wirkungskreis gehören würde. Wie das Leben nun mal so spielt. Sie ging langsam weiter, während sich Werner irgendwo ganz hinten aufhielt. Damals waren vor allem die rollstuhlgerechten Wege und die Grünanlagen noch vollkommen neu. Viktoria staunte nicht schlecht, wie sich vor allem die Botanik verändert hatte. Sie bewunderte die sauberen Natursteinplastiken der einzelnen Stationen, wofür Werner kein Auge hatte. Er suchte systematisch nach einem Hinweis auf das gestrige Verbrechen. Als sich Viktoria gerade die 9. Station der insgesamt 15 Stationen des Kreuzweges besah, rief Werner aufgeregt. Das gibt es doch nicht! Hatte Werner tatsächlich etwas gefunden? Sofort lief sie zu ihm und sah, dass er mit einem Taschentuch triumphierend ein großes Klappmesser in der Hand hielt.

„Das muss die Tatwaffe sein,“ sagte Werner. Viktoria kramte in ihrer Handtasche und zog einen Plastikbeutel hervor, in den Werner das Messer legte. Jetzt besah sich Viktoria das Fundstück genauer: Das auf der Klinge war ganz sicher Blut. Schnell verstaute sie das Messer in ihrer Handtasche, denn eine kleine Gruppe Wallfahrer betraten den Kreuzweg.

„Was jetzt? Es könnten noch mehr Spuren auf dem Kreuzweg sein. Wenn die Gruppe hier durch ist, können wir die womöglich vergessen,“ sagte Werner und sah seine Chefin flehend an. Die wusste genau, was in Werners Kopf herumspukte.

„Du willst den Kreuzweg sperren lassen? Das ist irre, dafür bekommen wir riesigen Ärger.“ Sie überlegte und war in einer Zwickmühle. Zum einen war dieser Kreuzweg eine unverzichtbare Attraktion für Gläubige und Wallfahrer, die am heutigen Feiertag Fronleichnam ganz bestimmt wieder zu Tausenden nach Altötting pilgerten. Aber zum anderen musste sie Werner Recht geben, hier könnten tatsächlich Spuren des Täters zu finden sein. Die Gruppe näherte sich immer mehr und nun entschied sie spontan, denn eigentlich hätte sie vorher ihren Chef informieren müssen. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie ging auf die Gruppe zu und hob dabei ihren Ausweis in die Höhe.

„Kriminalpolizei. Ich möchte Sie bitten, den Kreuzweg aus ermittlungstechnischen Gründen zu verlassen. In drei bis vier Stunden ist die Polizeimaßnahme vorbei, dann können Sie sich hier wieder ungehindert aufhalten. Die Kriminalpolizei bedankt sich für Ihr Verständnis.“ Sie sprach sehr laut und sehr bestimmt, während Werner an ihrer Seite stand.

Natürlich waren die Besucher nicht erfreut über den Rauswurf und auf Viktoria prasselten von allen Seiten verschiedene Fragen ein.

„Die Entscheidung ist nicht diskutierbar. Sie gehen jetzt, oder ich muss Sie dazu zwingen.“ Das klang vielleicht etwas hart, aber die Besucher gingen jetzt endlich unter großem Protest. Werner rief die Spurensicherung. Sie brauchten nicht lange warten. Friedrich Fuchs, der Leiter der Spurensicherung, sprang aus seinem Wagen und gab lautstark Anweisungen an seine Leute. Dass das Tatwerkzeug auf dem Kreuzweg hätte sein können, lag nach den Angaben der Kripobeamten nicht nahe und es hatte ihn niemand darauf hingewiesen. Trotzdem ärgerte er sich darüber, dass sie nur wenige Meter vom Tatwerkzeug entfernt völlig umsonst gesucht hatten. Aber woher sollte er das ahnen? Er arbeitete nach Anweisung der Kollegen und vermied es, eigenmächtig unnötig Kosten zu verursachen. Passanten waren erschrocken von der Aktion, denn es sah bedrohlich aus, als Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen hinter großzügigen Absperrungen nach irgendetwas suchten.

„Hier sind bestimmt mehr Menschen als auf dem Kapellplatz,“ stöhnte Viktoria und schüttelte verständnislos den Kopf. „Wenn vermeintlich etwas passiert ist, dann kriechen die alle aus ihren Löchern. Blick dich doch mal um! Kaum ein Fenster, an dem nicht einer rausschaut!“

„Das müssen wir ausnützen. Gehen wir reihum und befragen nochmals die Anwohner. Erfahrungsgemäß sind die gesprächiger, wenn sie sich von der Polizei Informationen erhoffen.“

„Du schlauer Hund! Die Zeit zuhause hat dir nicht geschadet.“

Sie klingelten und klopften so lange an allen Türen, bis ihnen geöffnet wurde. Sie stellten Fragen zum gestrigen Verbrechen und heute waren die Anwohner tatsächlich offener und hilfsbereiter. Aber sie wurden enttäuscht, niemand wusste etwas oder hatte etwas gesehen. Eine Frau war besonders gesprächig.

„Gestern war ich nicht hier, ich muss diese schreckliche Tat nur knapp verpasst haben, denn als ich heimkam, war die Polizei noch nicht hier. Wenn ich nur fünf Minuten früher heimgegangen wäre, wäre ich eine Augenzeugin gewesen.“

„Schade, trotzdem vielen Dank.“

„Moment,“ rief ihnen die Frau hinterher. „Das habe ich ganz vergessen: Die Bofinger Rosi kam mir dort unten entgegen. Die könnte etwas gesehen haben.“

„Wer ist die Frau?“ Viktoria hatte den Namen noch nie gehört.

„Die Rosi kennen Sie nicht? Sie ist die Kastler Dorfschlampe. Ihr Künstlername ist Belladonna, aber das interessiert mich nicht. Was braucht diese Frau für ihren schändlichen Beruf auch noch einen besonderen Namen? Für mich ist und bleibt sie die Bofinger Rosi.“ Man spürte, dass die Zeugin diese Rosi oder auch Belladonna nicht mochte. Viktoria hatte noch nie von der Frau gehört. „Die Rosi schafft schon seit vielen Jahren an und hat auch in Altötting ihre Kundschaft. Mehr sag ich nicht, und mehr möchte ich auch nicht wissen. Und von mir haben Sie Ihre Information nicht.“

Die Frau schloss die Tür und ging wieder ans Fenster, um die Vorgänge auf dem Kreuzweg weiter zu beobachten. Je länger sie darüber nachdachte, was sie wegen Rosi gesagt hatte, desto mehr bereute sie ihre Aussage. Warum hatte sie ihren Mund nicht halten können? Warum musste sie der Polizei gegenüber Rosi überhaupt erwähnen? Die Frau war ihr seit vielen Jahren ein Dorn im Auge, als ihr Mann - Gott hab ihn selig - mit dieser Schlampe in Verbindung gebracht wurde. Hohn und Spott erntete sie überall, was ja noch erträglich gewesen wäre. Aber diese mitleidigen Blicke waren wie Nadelstiche und verletzten sie bis ins Mark. Ihrem Mann hatte sie den Besuch bei Rosi nie verziehen, obwohl Erwin immer wieder dementierte, jemals bei ihr gewesen zu sein. Aber sie glaubte ihm nicht – bis heute nicht. Trotzdem war es nicht richtig, die Polizei auf Rosi zu hetzen. Aber sie hatte sich hinreißen lassen, sie bei der Polizei anzuschwärzen. Vielleicht lag es daran, dass sich heute Erwins Todestag zum achten Mal jährte? Egal, gesagt war gesagt, obwohl das schlechte Gewissen an ihr nagte. Aber sie hatte sie doch gesehen! Ganz sicher sogar! War es nicht sogar ihre Pflicht, das der Polizei gegenüber zu erwähnen? Je länger sie darüber nachdachte, desto beruhigter wurde sie: Sie hatte die Schlampe nicht angeschwärzt, sondern nur die Wahrheit gesagt!

 

Werner fuhr zielsicher nach Kastl und parkte vor dem Haus von Rosi Bofinger. Ganz am Ende des alten Dorfkerns von Kastl, abseits gelegen und gut versteckt zwischen hohen Tannen und alten Obstbäumen, stand das Haus der Frau, zu dem ein kleiner, schmaler, privater Kiesweg führte. Der Zaun war kaputt und der Garten war sehr ungepflegt. Auch dem Haus selbst hätte ein Anstrich nicht geschadet. Sie klingelten und klopften an der Haustür, an der tatsächlich der Name Belladonna stand, aber niemand öffnete.

„Wollen Sie zu Frau Bofinger? Die ist nicht da,“ rief eine ältere Frau, die ihnen auf dem schmalen Kiesweg entgegenlief. „Die ist aber nicht lange weg, sie ist mit dem Radl unterwegs.“

„Danke, dann warten wir.“

Die Frau machte keine Anstalten zu gehen und stand nun direkt vor ihnen.

„Sie sind von der Polizei, gell? Ich habe Sie schon mal gesehen,“ strahlte sie Viktoria an.

Viktoria konnte sich nicht erinnern. Die 66-jährige Frau mit der Kittelschürze und der altmodischen Kurzhaarfrisur lächelte sie mit schiefen Zähnen erwartungsvoll an. Aber sie mussten sich schon mal gesehen haben, schließlich wusste sie, dass sie von der Polizei war.

„Es tut mir leid, ich erinnere mich nicht. Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.“

„Das verstehe ich, Sie haben bestimmt täglich mit so vielen Menschen zu tun, dass Sie sich nicht alle Gesichter merken können. Wir sind uns bei dem Fest der Ukrainer in Mühldorf begegnet.“

Jetzt dämmerte es Viktoria langsam. Der Ukrainische Verein war Teil der Ermittlungen um ein Faschingskostüm und die Kripo wurde zu einem riesigen Fest eingeladen. Sie wäre auf dieses Fest nicht scharf gewesen, aber einige Kollegen und vor allem der Chef waren davon begeistert. Viele Kastler waren ebenfalls dort und hatten sich an den Feierlichkeiten beteiligt.

„Ich erinnere mich,“ log sie und gab der Frau die Hand. „Aber an Ihren Namen kann ich mich nicht erinnern.“

„Das glaube ich gern. Bergmann Sieglinde mein Name. Ich wohne dort drüben, das große gelbe Haus mit dem Gickerl auf dem Dach. Was wollen Sie denn von der Rosi? Ist etwas passiert? Hat sie was angstellt?“

„Nur eine Befragung, reine Routine.“

Unschlüssig stand Frau Bergmann bei den Polizisten. Soll sie Auskunft geben? Eigentlich gehörte sich das nicht, aber da sie die Polizistin Frau Untermaier quasi privat kannte, war es ihre Pflicht, ihr Wissen weiterzugeben.

Werner und Viktoria spürten, was in der Frau vorging, und konnten sich ein Lachen nur schwer verkneifen. Sieglinde Bergmann war eine der Frauen, die sich gerne mitteilten und jeden Tratsch weitertrugen.

„Sie wissen, was die Frau Bofinger beruflich macht?“ Viktoria ging einen Schritt näher auf Frau Bergmann zu und zeigte sich interessiert. „Sie ist eine Prostituierte.“ Diesen Satz flüsterte sie, obwohl weit und breit niemand außer ihnen war. Bei dem Wort Prostituierte brach sie sich fast die Zunge ab. „Aber was Genaues weiß ich nicht. Gerüchte gibt es viele, aber ich spreche mit Rosi nicht über ihre Arbeit. Das ist mir zu peinlich, dafür bin ich zu anständig.“ Die Polizisten mussten sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. „Ich kenne die Rosi schon seit fast dreißig Jahren und nenne sie nur Rosi, wie viele hier im alten Dorfkern. Rosi möchte eigentlich Belladonna genannt werden, unter dem Namen ist sie schon fast eine Berühmtheit. Aber für mich ist und bleibt sie die Rosi.“ Als weder Viktoria, noch Werner darauf reagierten, fuhr sie fort. „Ich hab jung geheiratet und wir haben das Haus hier vor achtundzwanzig Jahren von meinem Onkel übernommen. Wenn wir gewusst hätten, dass hier ein Puff ist, hätten wir uns das vielleicht noch überlegt. Aber einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul!“ Sie lachte und wurde wieder ernst. „Jaja, die Rosi. Über die Jahre sind sehr viele Männer hier ein- und ausgegangen, meist über die Hintertür. Aber ich habe sie trotzdem gesehen und auch viele erkannt. Einige Männer gaben sich Mühe, sich unkenntlich zu machen, andere gehen ganz ungeniert zur Rosi. Aber ich habe nie ein Wort darüber verloren, ich bin ja keine Ratschen. Es ist schon schlimm, dass es so was bei uns auf dem Land, in unserem beschaulichen Kastl gibt. Das gehört sich einfach nicht.“

Angelockt von dem Gespräch auf dem Privatweg vor Frau Bofingers Haus kam eine Frau auf sie zu, die freundlich grüßte.

„Griaß di Monika,“ rief ihr Sieglinde Bergmann entgegen. „Die Polizei ist da und wartet auf die Rosi. Weißt du was von der Rosi? Ich weiß ja nichts und hab auch nichts gsagt.“

„Monika Seligmann, ich wohne dort hinten. Das Haus mit den neuen Dachschindeln. Können Sie es sehen?“ Die 64-jährige Frau plauderte ähnlich munter darauf los. Sie war beinahe so gekleidet wie Frau Bergmann und sie hatte sogar fast die gleiche Frisur.

„Kennen Sie Frau Bofinger näher?“

„Mei, die Rosi. Des is in Kastl a ganz a schwarze Gschicht.“

„Streng dich an und red Hochdeutsch. Der hübsche junge Mann hier versteht sonst kein Wort,“ ermahnte sie Frau Bergmann, die Werner Grössert in seinem sündhaft teuren Anzug anschmachtete. Werner hatte bisher keinen Ton von sich gegeben und musste sich zwingen, ernst und interessiert zu bleiben. „Du kennst die Rosi besser, bist ja auch hier aufgewachsen und kennst die ganze Gschicht. Ich weiß ja nicht viel, leb ja noch nicht so lange hier,“ fügte sie hinzu.

„O Sieglinde, stell dich doch nicht so unwissend und dumm! Jeder weiß, was die Rosi macht, das ist doch kein Geheimnis mehr. Außerdem bist du auch eine gebürtige Kastlerin und weißt genauso wie ich schon lange, was es mit der Heidrun und dann mit ihrer Nichte Rosi auf sich hat.“ Sieglinde Bergmann war beleidigt über die direkte Art ihrer Nachbarin und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sie Monika Seligmann einen verächtlichen Blick zuwarf. Aber der war das egal, sie redete einfach weiter. „Wissen Sie, die Rosi ist den Kastlern seit vielen Jahren ein Dorn im Auge. Vor über dreißig Jahren hat sie das Haus von ihrer Tante Heidrun geerbt. Die Heidrun habe ich noch gekannt, des war ganz eine fesche Frau. Als Kind hab ich sie immer bewundert und ging oft heimlich zu ihr, die Eltern hatten es mir verboten. Damals habe ich das nicht verstanden, ich war ja noch klein. Die Heidrun hat immer so leckeren Kakao gemacht, außerdem hatte sie die süßesten und saftigsten Birnen von ganz Kastl. Der Baum steht heute noch, der dort hinten im Eck ist es. Und schöne Geschichten konnte sie erzählen, das war echt klasse.“ Frau Seligmanns Augen glänzten.

„Ja das stimmt,“ sagte Sieglinde Bergmann fast wehmütig. „Die Heidrun konnte sehr gut mit Kindern, das war eine schöne Zeit. Mein Onkel hat uns Kindern natürlich verboten, dass wir Kontakt zur Heidrun haben, wir durften nicht mit ihr sprechen, sie nicht einmal grüßen. Aber mei, wie die Monika schon gesagt hat: Damals waren wir noch jung und dumm.“