Das Hortensien-Grab

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Sari: Leo Schwartz #38
Loe katkendit
Märgi loetuks
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2.

„Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt!“ Leo Schwartz rannte seiner Verlobten Sabine Kofler hinterher. Sie war sauer und ließ sich nicht aufhalten. Wütend stieg die temperamentvolle Journalistin in ihren Wagen, schlug die Fahrertür zu und fuhr davon. Leo konnte ihr nur noch hinterhersehen, denn hinterher laufen war nicht drin, er hatte keine Schuhe an. Er fluchte.

„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“ Tante Gerda saß an diesem milden Frühsommermorgen mit dem Hofhund Felix auf der Bank vor dem umgebauten Bauernhaus. Leos Vermieterin und Ersatzmutter streichelte Felix und fütterte ihn mit kleingeschnittenen Leberwurstbrot-Stückchen.

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas gemacht habe?“

„Weil ich dich kenne. Setz dich. Ich bringe dir einen Kaffee und dann erzählst du mir alles ausführlich.“

Leo setzte sich, auch wenn er keine Lust auf ein Gespräch mit Tante Gerda hatte, die im vorliegenden Fall voreingenommen schien. Wie kam sie nur darauf, dass er Schuld an dem Streit hatte? Gedankenverloren aß er von dem Leberwurstbrot, was Felix mit leichtem Knurren quittierte. Tante Gerda kam mit Kaffee und einem Stück Kuchen zurück. Sie setzte sich Leo gegenüber, zog den Teller mit den letzten Leberwurstbrot-Stückchen zur Seite und fütterte Felix weiter.

„Hör auf, den Hund zu mästen!“, maulte Leo.

„Willst du jetzt auch noch Streit mit mir?“ Tante Gerda zog die Augenbraue nach oben, was kein gutes Zeichen war. „Was ist nun mit Sabine? Was hast du gemacht?“

„Natürlich nichts! Ich hatte ihr lediglich vorgeschlagen, zu mir zu ziehen, damit dieser Hickhack endlich ein Ende hat. Sie lebt in München und ich in Altötting, das ist doch kein Dauerzustand!“

„Wie soll das gehen? Sabine hat einen Job, den sie von München aus sehr viel effektiver ausüben kann.“

„Dasselbe hat sie auch gesagt, nur mit anderen Worten. Sie war weniger diplomatisch. Sie warf mir vor dickköpfig zu sein, was nun wirklich nicht zu mir passt. Dabei will ich doch nur…“

Tante Gerda musste lachen.

„Du bist der Dickkopf in Person, mein lieber Leo. Du musst doch verstehen…“

In dem Moment klingelte Leos Handy. Als kommissarischer Leiter der Mordkommission musste er sofort rangehen. Er mochte diesen Job nicht und hatte sich nur bereiterklärt, diesen zu übernehmen, da Hans sich strikt weigerte. Diana war zu jung dafür und Annette war nur ein Ersatz. Sie war aus Regensburg ausgeliehen worden, um das Team zu komplettieren. Insgeheim hoffte er, dass sie bleiben würde, denn er kam sehr gut mit ihr zurecht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte er sich rasch an sie gewöhnt – und das sollte auch so bleiben.

„Wir haben einen Toten“, sagte er nur und ging, was ihm nicht unangenehm war. Tante Gerda war auf Sabines Seite, da erübrigte sich jedes weitere Wort. Er befand sich im Recht. Was hatte er denn getan? Nichts!

Leo traf zuerst in Tüßling ein. Eine aufgebrachte Gruppe versammelte sich um ihn, als er sich auswies und es schnell die Runde machte, dass er Polizist war. Es war sehr laut und Leo verstand kein Wort.

„Jetzt beruhigen wir uns erst mal alle“, schrie er sehr laut. Da keiner eine Maske trug, zog er seine demonstrativ auf. Da der Chef etwas gegen seine lustige Affenmaske hatte, wählte er ein neutrales und damit langweiliges Exemplar, das er nur während der Arbeitszeit aufzog. Erst jetzt traten alle zurück und setzten ihre Masken auf – verdammtes Corona! Die Zahlen waren seit Wochen zwar gesunken, trotzdem bestand immer noch Maskenpflicht. „Wo ist die Leiche?“, wandte er sich an eine Frau, die völlig aufgelöst war.

„Dort drüben, kommen Sie mit!“ Nadine Olschewski war sehr aufgeregt. Alle anderen zwar auch, aber sie noch sehr viel mehr, denn schließlich ging es um ihr Grundstück. Sie hatte geerbt und das alte Haus günstig erwerben können. Sie hatte schon als kleines Mädchen von einem Eigenheim geträumt, das in ihren Vorstellungen allerdings mehr einem Palast glich. Das alte, renovierungsbedürftige Haus sah zwar ganz anders aus, aber es gehörte nur ihr – zumindest der Teil, der nicht der Bank gehörte. Und jetzt lag auf ihrem Grundstück eine Leiche! In ihren Gedanken malte sie sich die wildesten Geschichten aus, in denen es um Mord und Totschlag ging.

Josef Hiermaier stand starr am Zaun der Nachbarn. Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.

Auch Sabine Thomas hatte sich dazugesellt und beobachtete, was hier ablief. Sie hatte Leo Schwartz sofort erkannt. Ob sie ihm zuwinken sollte? Nein, das war dann doch zu viel des Guten.

Leo sah in die Grube und erschrak. Das Skelett war tatsächlich das eines Menschen, ohne jeden Zweifel. Der Schädel schien zu grinsen, was er aber für sich behielt. Er drängte die Menschenmenge zurück und hoffte darauf, dass Fuchs mit den Kollegen der Spurensicherung endlich anrückte und diesmal ganz besonders weiträumig absperrte.

Die Kollegen fuhren vor und Friedrich Fuchs übernahm sofort das Kommando.

„Sparen Sie nicht mit Ihrer Absperrung, Fuchs, es kommen auch immer mehr Kinder dazu“, wies Leo den Kollegen an.

„Sagen Sie mir nicht, wie ich meinen Job zu machen habe!“ Fuchs hatte heute schlechte Laune. Es war Vollmond und dabei schlief er miserabel. Außerdem war er nicht wirklich ausgelastet, denn seit Wochen gab es keinen interessanten Fall mehr, was sich jetzt hoffentlich änderte. Noch war er skeptisch. Er nahm die Leiter und stieg in die Grube, nachdem er einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen hatte.

Der neunundfünfzigjährige Hans Hiebler war eingetroffen und stand neben Leo an der Baugrube, auch wenn Fuchs das nicht gerne sah. Er hasste es, wenn sich jemand zu nahe an den Tatort begab, wenn er ihn noch nicht freigegeben hatte.

„Erinnert dich das an etwas?“, fragte Hans, der heute wieder viel zu viel Parfum aufgelegt hatte. Außerdem sah er aus, als wäre er in Rimini an der Strandpromenade: Weiße Hose, hellblaues Leinenhemd, Lederslipper und eine moderne Sonnenbrille, die fast das ganze Gesicht bedeckte.

„An die Baugrube in Mühldorf“, nickte Leo.

Die beiden unterhielten sich über den damaligen Fall, in dem eine Leiche nach über dreißig Jahren gefunden wurde. Fuchs verstand jedes Wort und fühlte sich gestört.

„Können Sie sich nicht woanders unterhalten?“, maulte er.

„Das könnten wir, aber wir wollen nicht“, gab Leo zurück. „Was schätzen Sie? Wie lange liegt die Leiche schon dort? Ich tippe auf fünfzig Jahre, Hans meint länger.“

„Das ist ein Tatort und kein Wettbüro!“ Fuchs schüttelte den Kopf und bat einen Kollegen zu sich in die Grube. Während die beiden arbeiteten, hörten die Kollegen Schwartz und Hiebler nicht auf mit ihrem Geschwätz, was Fuchs mehr und mehr zur Weißglut brachte.

„Können Sie nicht endlich den Rand halten?“, herrschte er die beiden schließlich an.

„Nicht in dem Ton, Fuchs!“, maulte Leo zurück. Es war augenscheinlich, dass Fuchs schlechte Laune hatte, aber die hatte er auch.

Fuchs hielt sich zurück. Er kannte den Kollegen Schwartz schon lange und spürte, dass er es heute auf einen Streit ankommen ließ – und darauf wollte er sich nicht einlassen.

Unter den Schaulustigen, die nicht alle Anwohner der Rosenstraße waren, hatte sich auch ein Mann eingefunden, der nicht fassen konnte, was hier gerade geschah: Karl Braun. Sein Haus befand sich in der Parallelstraße, nur der Garten grenzte an die Rosenstraße – und er war nicht scharf auf das Großaufgebot an Polizei. Nicht mehr lange, und die Presse war vor Ort – das konnte er nicht brauchen! Karl Braun war nicht sein richtiger Name, den hatte er sich nicht selbst ausgesucht. Seinen Geburtsnamen hatte er abgelegt und hatte keinen Bezug mehr dazu. Er lebte seit knapp zwei Jahren unbehelligt in dem verschlafenen Tüßling, wo er auch arbeitete. Neben seiner Werkstatt im Keller des bescheidenen Eigenheimes schrieb er an einem Roman, der autobiographische Züge hatte. Ob das jemals auf den Markt kam? Er war skeptisch, denn die Öffentlichkeit war sehr gefährlich für ihn und sein Geheimnis. Auch deshalb ging er nie ohne Schal, Mütze und Sonnenbrille vor die Tür – bei jedem Wetter. Die Maskenpflicht kam ihm sehr entgegen, denn damit konnte er sich in der Öffentlichkeit gut verstecken. Er war noch nie kontaktfreudig gewesen und mochte kein Geschwafel mit langweiligen Menschen, weshalb er keine Probleme mit der Pandemie und deren Verbote und Einschränkungen hatte. Auf die Lockerungen, die seit Wochen galten, hätte er gerne verzichtet. In der Nachbarschaft musterte man ihn argwöhnisch, denn niemand wusste, was er eigentlich tat. Dass Braun sein Geld pünktlich jeden Monat überwiesen bekam und er dafür nicht viel tun musste, durfte niemand wissen. Es gab einige Telefonate, deren Inhalt er direkt nach München weitergab. Von dort bekam er Anweisungen und gab auch diese weiter. Jetzt stand er hier in der Rosenstraße und war neugierig. Noch hatte er nicht verstanden, worum es eigentlich ging. Er hätte fragen können, aber dann müsste er mit jemandem sprechen und das wollte er nicht. Die Anweisung war – keinen Kontakt zu Fremden, und daran hielt er sich. Also stand er einfach nur da und beobachtete. Gerüchte gingen durch die Reihen, die er nicht ernst nahm. Er kannte Menschen und konnte beobachten, wie die erwarteten Mechanismen um sich griffen. Mutmaßungen reihten sich an dumme Geschichten, bis sogar Namen genannt wurden. Eine alte Frau meinte sogar, den Täter des vermeintlichen Mordopfers zu kennen. Sie lebte schon immer in Tüßling und kannte die Vorbesitzer des Grundstückes, das erst in den Nachkriegsjahren zum Baugebiet wurde. Alle hingen an den Lippen der Alten, die das sichtlich genoss.

„Das war der Gröbner-Bauer, ein richtiger Lump. Der hatte es faustdick hinter den Ohren, das könnt ihr mir glauben“, erzählte die Frau, die alle nur Annemirl nannten. „Der Gröbner wusste, wie er zu Geld kommt. Der hat sogar noch aus Scheiße Gold gemacht!“ Gelächter machte sich breit. Da sich von Seiten der Polizei nichts rührte, waren die Anekdoten der Annemirl eine willkommene Abwechslung. Sie schmückte ihre Geschichten aus und kam dann zum Schluss. „Mit dem Gröbner hat es kein gutes Ende genommen. Frau und Kinder hatte er vertrieben, selbst seine Brüder sprachen kein Wort mehr mit ihm. Er hatte einen Schlaganfall und ist hilflos und einsam auf dem Küchenboden verreckt. Als man ihn fand, war seine Leiche schon verwest.“ Dass das nur Gerüchte waren, behielt die Annemirl natürlich für sich, schließlich konnte das heute niemand mehr überprüfen. Die Familie war längst ausgestorben und niemand scherte sich um ihre Geschichten.

 

„Und dieser Gröbner soll ein Mörder gewesen sein?“ Sabine Thomas hatte zugehört und verstand den Zusammenhang nicht.

„Sicher! Dem Mann war alles zuzutrauen!“

Sabine lächelte, sie glaubte der Alten kein Wort. Sie kannte die Annemirl und machte lieber einen Bogen um die gehässige Frau, die an niemandem ein gutes Haar ließ. Ja, sie war alt und hatte außer dem Pflegedienst niemanden, der sich um sie kümmerte – aber das rechtfertigte noch lange nicht ihre Boshaftigkeit. Auch Sabine war schon Thema bei der Frau, die sich sehr hässlich darüber ausließ, dass sie keinen Mann und keine eigenen Kinder hatte. Die Betitelung alte Jungfer zog seine Kreise - einige zeigten mit dem Finger und tratschten hinter vorgehaltener Hand über sie und Dagmar. Sabine machte das nichts aus, denn ihr Privatleben ging niemanden etwas an. Sie liebte ihr Leben und war mit sich im Reinen. Allerdings konnte Dagmar richtig sauer werden, wenn sie die alte Bissgurn1 Annemirl sah. Zu allem Überfluss erzählte sie nämlich überall herum, dass Sabine sich das Haus unter den Nagel gerissen hätte und der Bruder mit einem Butterbrot abgespeist wurde. Keiner wusste, wie das mit dem Haus wirklich ablief, denn Sabine hatte mit niemandem darüber gesprochen. Das ärgerte Dagmar, ließ Sabine aber völlig kalt. Sollte die Alte doch ihr Gift versprühen, das berührte sie nicht weiter. Die Frau war verbittert und konnte sich und ihr Leben nur ertragen, wenn sie über andere sprach und sie schlecht machte. Sabine hatte Mitleid mit der Annemirl, während Dagmar ihr liebend gerne den Hals umdrehen würde.

Leo und Hans kämpften sich durch die Massen der Schaulustigen, die sogar aus Teising und Altötting angereist waren – der Informationsfluss funktionierte. Als Leo die Personalien derjenigen aufnahm, musste er den Kopf schütteln. Hans lächelte nur. Er kannte die Neugier der Menschen, die durch die Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen noch viel größer geworden war.

„Ätzend“, sagte Leo zu Hans.

„Ich kann die Leute verstehen. Denen ist langweilig. Wer weiß, wie es uns ergehen würde, wenn wir tagtäglich zuhause eingesperrt wären.“

„Trotzdem muss dieser Sensationstourismus nicht sein. Außerdem ist die Pandemie fast vorbei, das ist keine Entschuldigung für diesen Wahnsinn.“

Dann stand Leo vor Sabine Thomas und musterte sie.

„Wir kennen uns doch!“

„Ja. Der Fall mit den Amanns.“

„Richtig. Was machen Sie in Tüßling?“

„Ich wohne hier.“

„Was ist mit dem Mädchen? Wie ist noch der Name?“

„Dagmar Steinke.“

„Stimmt! Mir war der Name entfallen. Wie geht es Dagmar?“

„Sehr gut. Sie wohnt bei mir.“

Leo lächelte. Er hatte Frau Thomas richtig eingeschätzt. Wer weiß, was aus dem armen Mädchen geworden wäre, wenn sie sich nicht um sie gekümmert hätte.

Alle waren sprachlos. Die Thomas kannte den Polizisten, der hier offenbar etwas zu Sagen hatte. Wie war das möglich?

„Die ist ein Polizeispitzl“, sprach Annemirl das aus, was viele dachten. Auch Sabine bekam Wind davon und musste schmunzeln. Dass sie jetzt wieder Dorfgespräch sein würde, lag auf der Hand. Sie hätte alles richtigstellen können, wobei sie aber über Dagmar sprechen müsste, und das wollte sie nicht. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Sie entschied, allen ihren Spaß zu lassen.

Leo stand jetzt vor Annemirl. Dass sie geschwätzig war und eine der Haupt- Rädelsführer, hatte er schon mitbekommen. Er notierte Name und Adresse.

„Sie wohnen nicht in dieser Straße?“

„Nein. Ich bin zufällig vorbeigekommen.“

„Aha.“ Mehr sagte Leo nicht.

„Woher kennen Sie die Frau Thomas? Arbeitet sie für die Polizei?“

„Das ist streng geheim!“, flüsterte er ihr zu. „Frau Thomas ist eine unserer Undercover-Agentinnen, sie ist sogar eine 00-Agentin.“

„Eine was?“

„Sie müssen vorsichtig sein, sie hat die Lizenz zum Töten.“

Leo zwinkerte der Frau zu und grinste.

„Verarschen kann ich mich selber!“, schimpfte Annemirl und alle lachten. Eigentlich wäre sie wegen dieser Unverschämtheit am liebsten nach Hause gegangen, aber dann würde sie vielleicht etwas verpassen. Also verschränkte sie nur die Arme, blickte beleidigt zur Seite und blieb an ihrem Platz, von dem aus sie einen hervorragenden Blick hatte.

Jetzt hatte auch Hans Hiebler Sabine Thomas erkannt. Mit einem freudigen Lächeln ging er auf sie zu. Sie tauschten Erinnerungen aus und lachten. Auch Hans war zufrieden, dass die schüchterne Dagmar ein gutes Zuhause gefunden hatte.

„Sie sind eine tolle Frau! Solche Menschen wie Sie gibt es viel zu selten“, sagte er laut. Niemand hier würde Sabine Thomas als Polizeispitzel bezeichnen. „Was wissen Sie von den Vorbesitzern dieses Hauses?“

„Nicht viel. Ein ruhiges Ehepaar ohne Kinder. Der Mann starb vor etwa fünfzehn Jahren, die Frau vor acht Jahren. Seitdem stand es leer.“

„Ich vermute wegen den Erben?“

„Es gab zwei entfernte Neffen, die sich nicht einig wurden. Ob das stimmt, weiß ich nicht sicher.“

„Das finden wir heraus. Vielen Dank!“

Endlich waren nun auch die Kolleginnen Diana Nußbaumer und Annette Godau vor Ort. Nachdem sich die Männer unter den Schaulustigen spröde und wortkarg gaben, war die Stimmung sofort sehr viel besser. Das lag vor allem an Diana, die heute wieder fantastisch aussah. An diesem trüben, grauen Tag war sie durch ihr hellgelbes Kostüm und den hochhackigen Schuhen eine Augenweide.

„Du bist hier doch nicht bei der Modenschau“, maßregelte sie Annette, die sich über die Outfits ihrer Kollegin tagtäglich wunderte, auch wenn sie sie sehr mochte. Wie viel Zeit es kostete, immer so auszusehen wie Diana, wollte sie sich nicht vorstellen. Annette war noch nicht lange bei der Kriminalpolizei in Mühldorf. Eigentlich war sie nur ein Ersatz für Hans Hiebler gewesen, aber der war längst wieder zurück. Allerdings war die Leiterin der Mordkommission Tatjana Struck gegangen, weil ihre Mutter erkrankte und ihr Vater sie bat, die Geschäfte zu übernehmen, da er sich um die Mutter kümmern wollte. Also blieb Annette, bis die Personalfrage der Mühldorfer Mordkommission endlich geklärt wurde.

Diana überhörte die spitze Bemerkung, denn wie sie sich kleidete, war einzig und allein ihr Problem und ging niemanden etwas an – auch die Kollegin nicht. Sie liebte es, sich herauszuputzen, und gab sich viel Mühe, um vor allem sich selbst zu gefallen. Was war daran falsch? Dass Annette heute ein zerknittertes T-Shirt mit einem fetten Kaffeefleck trug, war ihr ja schließlich auch egal.

Leo und Hans übergaben die Befragungen an die Kolleginnen, die vielleicht mehr herausbekamen. Sie gingen wieder zu Fuchs, der jetzt hoffentlich endlich etwas für sie hatte, mit dem sie etwas anfangen konnten.

„Und? Wie sieht es aus, Kollege Fuchs? Wie lang liegt unsere Leiche hier begraben? Wer gewinnt den Jackpot? Hans oder ich?“ Leo lachte. Das Gespräch mit Frau Thomas hatte ihn gefreut und seine Laune hatte sich schlagartig verbessert.

Fuchs verdrehte nur die Augen und stieg die Leiter nach oben.

„Sie liegen beide falsch. Meiner Meinung nach liegt die Leiche erst seit wenigen Jahren hier. Ich vermute zwei bis maximal drei Jahre.“

„Aha. Und wie kommen Sie darauf?“

„Weil der Mann das hier am Handgelenk trug.“ Fuchs hielt den Kollegen einen Beutel vor die Nasen.

„Was soll das sein?“, fragte Leo und sah Hans an, der ebenfalls die Schultern zuckte. „Ein blaues Armband?“

„Ein Fitnessarmband, das 2018/2019 hergestellt wurde. Ich hatte dasselbe Modell. Es wurde noch im Jahr 2019 wegen gravierender Fehler vom Markt genommen.“

„Das sagt doch noch nichts! Vielleicht hat das des Mannes funktioniert“, motzte Leo.

„Dieses High-Tech-Fitnessarmband wurde vom Hersteller zurückgenommen und durch ein überarbeitetes Modell kostenlos ersetzt. Glauben Sie mir, dass dieses Angebot alle User angenommen haben, schließlich kostete dieses Armband damals ein Vermögen.“

„Wieviel?“

„Sechshundert Euro.“

„Für ein Sportarmband? Das ist ja Wahnsinn! Wer kann sich denn so ein Späßle leisten?“

Fuchs sagte nichts dazu. Für ihn waren solche Ausgaben sinnvoll und er musste sich vor niemandem rechtfertigen – schon gar nicht vor Kollegen, die von Sport nichts hielten.

„Hatte der Tote Papiere bei sich?“

„Nein, wir haben nichts gefunden.“

„Auch kein Handy oder Schmuck?“

„Wenn ich sage, dass wir nichts gefunden haben, dann meine ich das auch so. Ich bringe die Leiche zur Pathologie, dann sehen wir weiter.“

„Sobald Sie etwas für uns haben, melden Sie sich, okay?“

Fuchs nickte auch jetzt. Der Kollege Schwartz leitete momentan die Mordkommission und war noch nerviger als sonst. Es war an der Zeit, dass sich der Chef bezüglich der Nachfolge von Frau Struck entschied. In seinen Augen kam nur der Kollege Hiebler dafür infrage, aber seine Meinung war nicht gefragt.

Während Fuchs und seine Mitarbeiter die Leiche bargen, stand Diana Nußbaumer vor Karl Braun. Der war nicht an ihrer Schönheit interessiert und wollte eigentlich nur weg, aber dafür war es zu spät. Viele Nachbarn hatten ihn erkannt und würden verraten, dass er hier gewesen war. Daher entschied er, die Fragen der blonden Frau zu beantworten, um sich nicht verdächtig zu machen. Allerdings vermied er, den Personalausweis zu zeigen, schließlich war der nicht echt. Er gab vor, ihn vergessen zu haben.

„Sie wohnen wo?“

„Das dort ist mein Haus.“

„Dann darf ich Sie bitten, den Ausweis zu holen, ja?“ Diana lächelte den Mann an und ging dann zur nächsten Person.

Karl Braun nickte eifrig und ging nach Hause. Dort nahm er seine Sporttasche und packte alles ein, was nötig war. Er musste weg von hier. Niemals hätte er gedacht, dass man die Leiche Brauns finden würde. Noch rechnete man damit, dass er irgendwann irgendwo wieder auftauchen könnte. Hektisch warf er die Wertgegenstände aus dem Tresor in die Tasche. Sein ganzer Fokus stand auf Flucht – aber wo sollte er hin? Er atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Er besah sich den Personalausweis, dessen Bild ihm nicht wirklich ähnlich war. Dann nahm er sein Handy.

„Eine Leiche wurde gefunden“, sagte er ohne Gruß.

„Was? Ich verstehe nicht...“

„Haben Sie mich nicht verstanden? Es wurde eine männliche Leiche gefunden!“

„Sie meinen, dass das Ihr Vorgänger sein könnte?“

„Ja, das denke ich. Sie nicht?“ Braun war außer sich.

„Jetzt bleiben Sie ruhig, noch ist nichts passiert.“

„Nichts passiert? Die Polizei hat meine Daten. Was meinen Sie, wie lange sie brauchen, um die Identität des Toten herauszufinden? Sie werden sofort merken, dass da etwas nicht stimmt!“

„Sie haben Ihre Daten? Wie konnte das passieren?“

„Für lange Erklärungen habe ich jetzt keine Zeit! Was soll ich tun?“

„Sie müssen sofort verschwinden!“

„Und wohin?“

„Meine Schwiegermutter hat in Mühldorf einen Schrebergarten. Ein kleines Häuschen ohne Komfort, aber dort wären Sie vorerst sicher. Ich melde mich, wenn ich eine Alternative gefunden habe.“

„Was mache ich mit den Hinweisen in meinem Haus? Ich habe keine Zeit, alles einzupacken und Spuren zu beseitigen.“

„Darum kümmere ich mich. Bringen Sie sich in Sicherheit, alles andere wird erledigt.“

Karl Braun ging mit Bauchschmerzen. Ob er sich auf die Versprechungen verlassen konnte? Er musste, denn welche Alternative hatte er? Wie kam er unbemerkt aus Tüßling raus? Zum Glück hatte er einen Zweitwagen, den er sich vor einem halben Jahr gekauft hatte und seitdem neben einer alten Scheune nach dem Ortsschild Richtung Teising versteckte. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, da eine Übergabe kurz bevorstand und er mit dem Gedanken spielte, sich nicht an die Vorgaben zu halten. Um was es ging, wusste er bis heute immer noch nicht, man zog ihn nicht ins Vertrauen. Aber das war ihm auch egal, denn er dachte nicht daran, sich wie eine Schachfigur fremdbestimmen zu lassen. Er wollte sein eigenes Süppchen kochen und fett absahnen.

 

Er fuhr aus der Garage. Die neugierige Nachbarin Kühbauch war sicher bei den anderen, was ihm jetzt zugutekam. Er wechselte unbemerkt das Fahrzeug und fühlte sich gut. Den Wagen, der ihm zur Verfügung gestellt wurde, ließ er einfach in der Nähe des Schlosses stehen. Braun war sich sicher, dass ihn niemand gesehen hatte. Noch waren die Polizisten mit dem Toten und die Nachbarn mit der Neugier beschäftigt und das war sein Vorteil.

Als Braun in Mühldorf an der genannten Adresse ankam, war er erschrocken. Unweit der Schrebergärten war ein griechisches Lokal, das inzwischen wieder geöffnet hatte. Rund herum befanden sich einige Firmen. Was sollte der Scheiß? Hier befand er sich auf dem Präsentierteller! Wütend nahm er sein Handy.

„Was soll das? Hier kann ich nicht bleiben!“, schrie er.

„Ja, die Hütte ist nicht optimal, aber eine andere Lösung habe ich nicht.“

„Ich gebe Ihnen fünf Minuten! Wenn Sie bis dahin nichts Besseres haben, lernen Sie mich von meiner unangenehmen Seite kennen. Sie wollen doch nicht, dass ich zur Polizei gehe? Oder sogar zur Presse?“

„Natürlich nicht! Ich melde mich sofort wieder, versprochen.“

Karl Braun hatte aufgelegt. Er setzte sich auf den wackligen Stuhl der kargen Hütte und sah sich um. Hier würde er um nichts in der Welt bleiben wollen!

„Braun könnte auffliegen, er muss untertauchen.“ Grünberger sprach diesen Satz ohne Gruß ins Telefon, da er befürchtete, dass Doktor Valentin Schober ihn sonst nicht anhörte. Ob er ihm sagen sollte, dass eine Leiche gefunden wurde, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der ganzen Aktion stehen könnte? Schober war in Eile, der würde ihm sowieso nicht zuhören.

Valentin Schober hasste es, wenn er direkt vor einer Gerichtsverhandlung gestört wurde, aber dieser Anruf war etwas anderes. Er sah sich um, denn Zuhörer konnte er nicht brauchen.

„Lassen Sie sich etwas einfallen, Grünberger, ich kann mich jetzt nicht darum kümmern!“

„Ich habe nur die Laube einer Tante anzubieten, aber die gefällt Braun nicht. Ich kann ihn verstehen, die ist nicht wirklich sicher.“

„Kommen Sie endlich, Herr Schober, die Verhandlung fängt gleich an!“, drängelte der Oberstaatsanwalt Wolfgang Terpitz, der Unpünktlichkeit auf den Tod nicht leiden konnte. Da er auf andere keinen Einfluss hatte, sollte sich wenigstens sein engster Mitarbeiter daran halten.

„Sofort, Herr Terpitz, geben Sie mir noch eine Minute“, lächelte Schober gequält.

Murrend ging der Oberstaatsanwalt in den Sitzungssaal.

„Was ist jetzt? Was mache ich mit Braun? Er hat gedroht, zur Polizei oder Presse zu gehen. Wir brauchen eine Lösung, und zwar schnell“, drängelte Grünberger. Er war vor zwei Jahren von Schober mit diesem Sonderauftrag betraut worden, der bisher keine Probleme gemacht hatte. Außer einiger weniger Kontakte, deren Inhalt er direkt an Schober weiterleitete, gab es nichts, was er groß hätte machen müssen. Es gab sogar Zeiten, in denen Grünberger Brauns Existenz und das Drumherum völlig vergaß. Aber jetzt sah die Lage anders aus. Braun steckte in der Klemme und brauchte seine Hilfe – und er hatte keine Lösung. Er saß, wie Schober auch, in München, bis ins kleine Kaff Tüßling waren es fast einhundert Kilometer. Da Grünberger keine Ahnung hatte, was zu tun war, musste Schober helfen – aber der ließ ihn jetzt hängen.

„Mir fällt spontan nichts ein, Grünberger, Sie müssen sich vorerst selbst behelfen. Ich melde mich nach der Verhandlung, bis dahin habe ich sicher eine Lösung.“

„Wie lange...“ Die Verbindung wurde unterbrochen. Grünberger drückte die Wahlwiederholung, aber Schober hatte sein Handy ausgeschaltet. Wütend lehnte sich Grünberger zurück. Hatte Schober damals nicht ausdrücklich betont, dass er bei Problemen immer für ihn erreichbar wäre? Dass das nicht so war, hätte er sich denken können. Jetzt, da er in Not war und alles drohte aufzufliegen, ließ ihn der Drecksack einfach im Stich. Was sollte er jetzt tun? Braun wartete auf seinen Rückruf und auf eine Lösung. Die Gerichtsverhandlung könnte Stunden dauern, auf deren Ende konnte er nicht warten. Wütend nahm er seine Jacke, stieg in seinen Sportwagen und fuhr los. Dann rief er Braun an.

„Ich bin unterwegs, wir sehen uns gleich.“

„Wann sind Sie hier?“

„In etwa einer Stunde. Bis dahin halten Sie die Füße still, verstanden?“

Braun hatte das Motorengeräusch gehört, also log Schober nicht. Und wenn doch, dann würde er ihm den Arsch aufreißen. Warum hatte er sich nur auf diesen Schwachsinn hier eingelassen? Das Angebot war verlockend und er hatte sofort zugestimmt, als Schober mit ihm sprach. In den letzten zwei Jahren war alles gut gegangen und er hatte ein ruhiges, fast luxuriöses Leben führen dürfen. Und das, obwohl er keinen Finger krümmen musste. Die Leiche war gefunden worden, was alle für undenkbar hielten. Um wen es sich dabei handelte, konnte er sich denken.

Braun saß in dieser schäbigen Bude und fühlte sich wie im Käfig gefangen. Es gab kein Fenster, durch das er die Lage im Auge behalten könnte. Hier konnte er nicht bleiben! Er ging zu seinem Wagen und fuhr zu einem riesigen Supermarkt. Auf diesem Parkplatz wollte er warten, bis Schober sich meldete.

Inzwischen waren die Überreste der Leiche vom Grundstück der Familie Olschewski in Tüßling abtransportiert worden. Fuchs fuhr selbst und rief seine Freundin Lore Pfeiffer an, die für die Einteilung der Leichen in der Münchner Pathologie zuständig war.

„Ich bin mit einem neuen Patienten auf dem Weg zu euch. Hat Doktor Schnabel heute Dienst?“

„Ja. Möchtest du zu ihm?“

„Wenn das möglich ist?“

„Selbstverständlich, ich kümmere mich darum. Hast du heute Zeit für ein Abendessen?“

„Das kommt auf die Untersuchungsergebnisse an. Du weißt ja, wie lästig die Kollegen bei Ungereimtheiten werden können.“

Leo Schwartz konnte jetzt den jüngeren Sohn der Familie Olschewski Leo-Max befragen, nachdem die besorgten Eltern ihr Einverständnis gaben. Sie saßen links und rechts neben ihrem Sohn, der auf Leo einen aufgeweckten Eindruck machte.

„Du bist also der Leo-Max.“

„Sagen Sie einfach nur Leo.“

„Den Namen kann ich mir gut merken, ich heiße nämlich auch Leo.“

„Das sagen Sie doch nur, um sich bei mir einzuschleimen.“

Leo lächelte und griff zu seinem Ausweis. Der Junge war clever. Die Eltern hingegen waren nicht begeistert, dass ihr Sprössling dermaßen frech mit einem Polizisten sprach. Sie versuchten, ihm seinen Fehler zu erklären, was sehr, sehr lange dauerte und vor allem Hans auf die Nerven ging.

„Jetzt zeig dem Jungen deinen Ausweis, damit wir vorankommen!“, sagte Hans gelangweilt.

Der Junge las den Ausweis mit großen Augen.

„Tatsächlich, Sie haben wirklich die Wahrheit gesagt. Sorry, aber Erwachsene lügen oft.“

„Das stimmt, das kann ich bestätigen.“

„Erwachsene lügen die Polizei an?“

„Jeden Tag. Aber wir sind nicht dumm und merken, wenn man uns anlügt.“

„Ich merke das auch sofort!“

„Das glaube ich dir gerne. Du hast gesehen, was in der Grube lag?“

„Ja, das war echt krass. Ich habe noch nie eine Leiche in echt gesehen!“

„Du wohnst zwar noch nicht lange hier, trotzdem entgeht dir sicher nichts. Das stimmt doch, oder?“

Leo-Max nickte. Der Zwölfjährige wäre ein guter Informant. Ob er das ausnutzen durfte? Mal sehen, wie weit er gehen konnte.

„Die Arbeit der Polizei besteht zum größten Teil aus Beobachtungen. Man muss einen Blick fürs Wesentliche haben. Verstehst du, was ich meine?“