ENDSTATION

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Sari: Leo Schwartz #21
Loe katkendit
Märgi loetuks
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3.

Die Parteispitze, bestehend aus drei Personen, traf sich hinter verschlossenen Türen. Niemand durfte sie stören. Das war zum einen der Mühldorfer Kilian Martlmüller, die Brigitte Dickmann ebenfalls wohnhaft in Mühldorf, und der Münchner Xaver Thiel. Martlmüller leitete drei Pflegeheime, Thiel war Seniorchef einer Anlagefirma und Brigitte Dickmann war Anwältin mit eigener Kanzlei in Trostberg, auch wenn sie in Mühldorf lebte. Die drei lenkten von Anfang an die Geschicke der noch sehr jungen bayerischen Partei, die erst vor sechs Jahren gegründet worden war und deren Parteibüros sich bereits über das ganze Bundesland Bayern ausbreiteten. München, Mühldorf und Regensburg hatten den größten Anteil der neugewonnenen Mitglieder verzeichnen können, was nicht zuletzt an der blendenden Organisation und den sehr aktiven Politikern lag. Das aggressive Parteiprogramm schlug nicht nur damals, sondern auch noch heute hohe Wellen und traf den Nerv der Zeit. Als Hauptanliegen schrieb man sich die Interessen Bayerns auf die Fahnen. Der Länderfinanzausgleich, von dem auch Bayern einen großen Anteil zu bestreiten hatte, wurde stets zuerst genannt. Man befand es als ungerecht, dass mühsam erwirtschaftete Einnahmen auf andere Bundesländer verteilt würden. Die Vorschläge, was man mit diesem Geld in Bayern machen könnte, füllten mehrere Broschüren. Weitere, wichtige Punkte des Parteiprogramms war der Schutz bayerischer, mittelständischer Betriebe und deren Unterstützung sowohl im Steuer-, als auch im Erbrecht, der Bildungspolitik, sowie dem bayerischen Brauchtum. Die Mitgliederzahl wuchs und wuchs. Und mit Esterbauer als brillantem Redner hätten sie auf Bundesebene eine Chance gehabt, nicht nur gehört, sondern auch respektiert zu werden. Noch immer verspottete man die südlichen Bundesländer und machte sich über die Dialekte lustig, obwohl der Süden Deutschlands wirtschaftlich und finanziell am besten von allen dastand.

Die drei Parteiführer waren bestürzt über den Tod von Esterbauers Frau, aber noch mehr über dessen eigenes Schicksal. Als Thiel informiert wurde, war er sofort von München losgefahren, um sich mit Martlmüller und Dickmann zu treffen, für die nach diesen schlechten Neuigkeiten nun ebenfalls die Belange der Partei im Vordergrund standen. Die bevorstehende Wahl war ohne einen Spitzenkandidaten in Gefahr und das durfte nicht sein, sonst wären die letzten Jahre voller harter Arbeit und Entbehrungen doch völlig umsonst gewesen.

Verstand Martlmüller richtig? Hatte Brigitte Dickmann gerade mehrfach betont, dass sie auch nicht wisse, wo Esterbauer war? Er beobachtete sie genau. Sie vermied jeglichen Blickkontakt. War das Taktik, damit Thiel nichts mitbekam?

„Keiner weiß, wo Uwe ist. Ich habe heute mit dem Chef der Mühldorfer Kripo gesprochen. Die tappen noch völlig im Dunkeln.“ Martlmüller startete einen letzten Versuch, von Brigitte Dickmann einen eindeutigen Hinweis zu bekommen. Endlich sah sie ihn an und schüttelte mit dem Kopf. Sie wusste es tatsächlich nicht! Konnte das wahr sein? Was war schiefgelaufen?

„Mich wundert das nicht. Diese Provinz-Polizisten sind mit einem solchen Fall doch völlig überfordert.“, sagte Xaver Thiel. „Wir sollten München einschalten.“

„Das liegt nicht in unserem Entscheidungsbereich. Ich vertraue auf die hiesige Polizei“, sagte Martlmüller, der keine Sekunde an die Fähigkeiten der Provinzler glaubte. Er kannte Krohmer aus Kindertagen und mochte ihn nicht. Mit ihm an der Spitze konnte die Mühldorfer Polizei nichts sein. In Martlmüllers Augen machten die sowieso nur Dienst nach Vorschrift und hinkten bei allem hinterher. Nein, die Ermittlungen waren bei den Mühldorfern genau richtig aufgehoben. Eine übereifrige Polizei, die überall ihre Nase reinsteckte, konnte er nicht brauchen.

„Wir brauchen Esterbauer, ohne ihn sind wir aufgeschmissen.“

Eine heftige Diskussion entbrannte, in der vor allem Thiel seinen Frust abließ. Bis zu den Wahlen war nicht mehr viel Zeit. Wie sollte es weitergehen? Sollten sie darauf warten, ob Esterbauer doch noch auftauchte und alles auf eine Karte setzen? Brigitte Dickmann betonte erneut, dass sie nicht an eine Rückkehr Esterbauers glaubte. Sie brauchten eine neue Strategie.

„Wir müssen schnell handeln. Wir brauchen einen neuen Kandidaten und eine noch aggressivere Werbung, sonst haben wir nicht den Hauch einer Chance. Allein mit unserem Parteiprogramm kommen wir nicht weit. In Bayern haben wir viele Anhänger gewinnen können, auf Bundesebene wird das ungleich schwieriger. Wir brauchen ein charismatisches Zugpferd, der für unsere Partei brennt. Wen schlagt ihr vor?“ Brigitte Dickmann drängelte. Sie hatte wegen dieser Besprechung Termine verschieben müssen. Den Termin heute Nachmittag um 16.00 Uhr in ihrer Kanzlei musste sie unbedingt einhalten.

„Wir haben nur einen einzigen Mann, der dafür geeignet ist und auch zur Verfügung steht: Dieter Marbach.“

Brigitte Dickmann und Xaver Thiel verdrehten die Augen.

„Ja, ich weiß. Marbach ist kein begnadeter Redner. Mir gehen seine dummen Witze und das ständige Räuspern auch auf die Nerven. Hierin könnten wir ihn sicher noch verbessern, wenn wir ihm Profis zur Seite stellen, die ihn dabei unterstützen. Wir haben keinen anderen Mann, wir müssen ihn nehmen.“ Kilian Martlmüller kannte Marbach schon seit vielen Jahren. Sie schätzten sich, mochten sich aber nicht besonders. Das war innerhalb einer Partei auch nicht wichtig. Hier galt es, gemeinsame Ziele zu verfolgen und nicht, Freundschaften zu schließen.

„Willst du das nicht doch übernehmen, Kilian? Du bist ein Mühldorfer und jeder kennt und mag dich.“, versuchte es Thiel erneut. Schon seit Jahren bekniete er Martlmüller, diesen Job zu übernehmen.

„Das kommt überhaupt nicht in Frage, das weißt du doch. Nein, ich bin der Falsche dafür. Dieter Marbach ist unser Mann.“

„Ist der nicht sauer, dass wir ihn übergangen haben?“

„Sicher ist er das. Wenn wir auf ihn zugehen, wird er zunächst ablehnen und den Beleidigten spielen. Wir alle kennen Marbach. Der Mann ist von Ehrgeiz zerfressen und wird letzten Endes annehmen.“, stöhnte Thiel, der keine Lust auf den Mann und seinen Marotten hatte. Aber außer Kilian Martlmüller, der sich vehement weigerte, stand neben Marbach kein adäquater Kandidat zur Verfügung, sie mussten wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Dass er oder die Dickmann den Job übernahmen, stand außer Frage. Sie waren politisch interessiert und waren Feuer und Flamme für ihre Ziele, aber keiner wollte an die Front, ebenso wenig wie Martlmüller. Für diesen Job musste man sehr viel mehr mitbringen, dafür war keiner von ihnen geeignet oder bereit.

„Lasst uns das Gespräch mit Marbach hinter uns bringen. Je eher wir mit der Umstrukturierung beginnen können, desto besser.“, entschied Thiel und rief Marbach an. Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Thiel hatte den Eindruck, als hätte Marbach auf den Anruf gewartet.

„Wusste ich’s doch“, schmunzelte Marbach, als er aufgelegt hatte. Er saß immer noch mit seiner Frau beim Mittagessen. Er wusste ja, dass die Krisensitzung der Chefs stattfand – und er musste nur warten. Mehrfach hatte seine Frau Klara ihn auf den Grund des Essens angesprochen, aber er hatte nicht darauf geantwortet. Warum sollte er sich den Spaß nehmen lassen, ihr die Neuigkeit zu präsentieren, wenn er darum gebeten wurde? Noch lag alles in der Schwebe, noch hatte ihn die Parteispitze nicht auf den Posten angesprochen.

Klara Marbach wurde immer ungehaltener. Sie waren längst mit dem Essen fertig und sie drängte darauf, endlich zu gehen. Sie hatte keine Lust mehr, in der bürgerlichen Gaststätte, die ihr Mann ausgesucht hatte, ihre Zeit zu vergeuden. Sie fühlte sich deplatziert zwischen den anderen Gästen, die nicht ihrem Niveau entsprachen. Klara spürte, dass ihr Mann irgendetwas vorhatte. Seine Laune war heute ausgesprochen gut, aber ihren Fragen wich er ständig aus. Was war los mit ihm? Als sie das Telefonat verfolgte, verstand sie endlich: Ihr Mann war wieder im Rennen! Er hatte es doch noch geschafft, als Spitzenkandidat auf Bundesebene antreten zu dürfen. Klar lag das hauptsächlich an dem Verschwinden Esterbauers, von dem ihr Mann vorhin als Erstes gesprochen hatte und das sie schockierte. Auch der Tod seiner Frau traf sie sehr, denn sie kannten sich, auch wenn sie sich nicht mochten. Warum die Frau getötet wurde, war Sache der Polizei und ging sie nichts an. Der Grund, warum ihr Mann jetzt wieder ganz vorne mitspielte, war ihr völlig gleichgültig. Nachdem ihr Mann im letzten Jahr dem neuen Spitzenkandidaten unterlegen war, war sie enttäuscht gewesen. Die vielen Entbehrungen und Mühen waren alle umsonst gewesen. Aber jetzt hatte sich der Wind gedreht und ihr Mann war jetzt am Ruder. Sie sah ihn mit anderen Augen an und lächelte. Wenn er die erforderliche Hürde schaffen würde, und davon war sie überzeugt, dann waren ihre Tage in Mühldorf gezählt, dann stand dem Umzug nach Berlin nichts mehr im Weg. Endlich raus aus dem Muff der Kleinstadt in die große, weite Welt. Sie musste einkaufen gehen, denn für die bevorstehenden Auftritte und Empfänge hatte sie nicht genug zum Anziehen. Wem sie wohl in Zukunft alles begegnen würde?

„Klara? Träumst du?“ Dieter Marbach hatte mehrfach versucht, mit seiner Frau zu sprechen, aber sie hörte ihm nicht zu. Er wurde wütend, denn die Neuigkeit, die er zu berichten hatte, war immens wichtig.

„Ja, mein Lieber, ich träume. Von Berlin und den vielen Auftritten, die ich mit dir gemeinsam haben werde“, strahlte sie.

Marbach musste lachen. Klara hatte bereits verstanden, worum es in dem Telefonat ging. Was hatte er nur für eine schlaue Frau an seiner Seite! Klaras Leben würde sich jetzt schlagartig ändern und das schien sie ebenfalls zu wissen. Er hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Ja, sie war klug, hübsch und sehr gebildet. Außerdem sprach sie mehrere Sprachen. Ein Talent, das er nicht hatte. Mit ihr an seiner Seite hatte er einen fetten Pluspunkt, den Esterbauer mit seiner blassen, nichtssagenden Frau nicht gehabt hatte. Gedanklich wischte er seinen Kontrahenten beiseite, der war Geschichte. Marbach freute sich auf eine rosige Zukunft mit der klugen, hübschen Frau an seiner Seite.

 

Als Thiel zum vereinbarten Treffpunkt mit Marbach davonfuhr, stieg Martlmüller aus seinem Wagen und setzte sich zu Brigitte Dickmann in deren Wagen, der weitaus größer und protziger war, als seiner.

„Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was los ist. Wo ist Esterbauer?“

„Habe ich nicht oft genug betont, dass ich es nicht weiß? Das Ganze ist komplett aus dem Ruder gelaufen. So sollte das alles nicht ablaufen. Esterbauer und seine Frau sollten nur verschwinden, ich habe niemals von Mord gesprochen.“ Brigitte Dickmann schlug mit der Hand aufs Lenkrad.

„Was ist passiert?“

„Das weiß ich nicht. Ich bekam heute Morgen lediglich einen Anruf, dass die Esterbauer erledigt wäre und Uwe verschwunden ist. Mehr erfahre ich heute Nachmittag um 16:00 Uhr.“

„Sind die Unterlagen wenigstens in Sicherheit?“

„Das weiß ich nicht, das erfahre ich auch heute Nachmittag. Ich habe Angst, Kilian. Wir hätten das nicht tun dürfen. Wir tragen Mitschuld am Tod der Frau.“

„Wir mussten handeln, Esterbauer ließ uns keine andere Wahl. Er wollte nicht nur uns beide vernichten, sondern auch der Partei schaden, und das konnten wir nicht zulassen. Heideroses Tod haben wir nicht zu verantworten. Er hätte nur das Geld annehmen und den Mund halten müssen, mehr nicht.“

„Verstehst du das denn nicht? Wir haben jemanden damit beauftragt, Esterbauer und seine Frau verschwinden zu lassen. Jetzt ist die Frau tot. Und ich habe keine Ahnung, was mit Uwe geschehen ist. Wir sind schuld an dem Ganzen, wir haben die Lawine losgetreten!“

„Das sehe ich anders. Wir wollten lediglich, dass die beiden bis nach der Wahl verschwinden, mehr nicht. Ich habe nie von Mord gesprochen. Du etwa?“

„Natürlich nicht! Niemals! Nach der Wahl wäre das Ausmaß des Skandals nicht mehr so wichtig gewesen, kaum jemand hätte sich dafür interessiert. Wir hätten bis dahin genug Zeit gehabt, Spuren zu vernichten und die Gelder in Kanäle verschwinden zu lassen, die so leicht keiner findet. Dafür habe ich einen Computerfreak engagiert, der aber dafür sicher noch mindestens eine Woche oder ein paar Tage länger braucht.“ Brigitte Dickmann machte eine Pause. „Vielleicht hätten wir Uwe doch noch dazu bringen können, von seinem Vorhaben abzulassen. Wenn wir wenigstens die Unterlagen hätten. Die Gefahr ist noch nicht vorüber, Kilian. Sollte Uwe doch noch auftauchen, ist alles vorbei.“

„Dann darf er nicht mehr auftauchen. Mach das heute Nachmittag deutlich, Geld spielt keine Rolle. Uwe muss weg. Wenn er erledigt ist, brauchen wir keine Angst mehr vor einer Enthüllung zu haben. Lass uns fahren, bevor Thiel Verdacht schöpft.“

Brigitte Dickmann zitterte. Was verlangte Kilian von ihr? Sie musste diese Anweisung heute Nachmittag weitergeben. Kilian hatte Recht. Ja, Uwe durfte nicht mehr auftauchen, sonst konnte sie ihre Kanzlei schließen und auch Kilian wäre ruiniert. Warum war Uwe so neugierig gewesen? Warum wollte er ihr, Kilian und auch der Partei schaden?

Xaver Thiel wartete ungeduldig vor dem Restaurant in Altötting, in dem sie sich in Ruhe mit Marbach unterhalten wollten. Wo blieben Brigitte und Kilian? Die beiden benahmen sich heute sehr merkwürdig. Er hatte die kurzen, vielsagenden Blickkontakte zwischen ihnen sehr wohl bemerkt. Was lief zwischen den beiden? Hatten sie etwas mit dem Verschwinden Esterbauers und dem Mord an dessen Frau zu tun? Er wischte die Gedanken beiseite und lächelte. Er hätte den Krimi gestern Abend nicht mehr ansehen sollen.

Die Unterredung mit Dieter Marbach hatte nicht lange gedauert. Anfangs wollte er sich zieren und den Beleidigten geben, aber das gelang ihm nicht wirklich. Zu sehr freute er sich über die neue Situation. Ohne lange zu überlegen sagte er spontan zu. Selbstverständlich übernahm er die Kandidatur.

„Steht Ihre Frau hinter Ihnen? Die nächsten Monate bis zur Wahl müssen ohne Probleme verlaufen.“

„Von meiner Seite aus wird es keine Probleme geben, Sie können sich darauf verlassen. Klara steht voll und ganz hinter mir.“

„Sehr gut. Es ist wichtig, dass sich Ihre Frau regelmäßig sehen lässt. Heiderose wollte das nicht und in Uwes Fall war das auch nicht nötig gewesen. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, wenn ich sage, dass Uwe sehr viel mehr Charisma hatte und ein begnadeter Redner war. Sie haben hier einige Defizite, die wir hoffentlich mit Hilfe von Profis beseitigen können, Herr Marbach. Oder darf ich Dieter sagen?“

„Selbstverständlich!“ Marbach grinste breit, denn auch Martlmüller und die Dickmann boten ihm das Du an. Er war jetzt mit der Parteispitze auf Du und Du.

„Deine Frau wird dich also begleiten und dich auch unterstützen? Bis zur Wahl ist nicht mehr viel Zeit, deshalb müssen wir alle Register ziehen.“

„Klara freut sich auf die neue Aufgabe, die sie zu eurer vollsten Zufriedenheit erledigen wird.“

Dann musste alles sehr schnell gehen. Der Fotograf der Werbeagentur war bald darauf vor Ort und Marbach musste Fotos in unterschiedlichen Posen und mehreren Outfits von sich machen lassen. Als die am Ende des Tages fertig waren, war er glücklich, aber auch völlig erschöpft.

4.

Die Mitteilung von Fuchs, dass auf dem Laptop nichts Fallrelevantes gefunden wurde, war für alle enttäuschend. Die darauf enthaltenen Daten waren nur rein beruflicher Natur, Privates gab es überhaupt nichts. Konnte das möglich sein? In einer Zeit, in der jeder noch so kleine Mist über Laptops und Smartphone lief, gab es hier nicht den kleinsten Hinweis.

Viktoria und Werner nahmen sich den Gärtner Lobmann vor, Hans und Leo Grete Hofer.

„Gegen Lobmann liegt nichts vor, er ist noch nie auffällig geworden. Seine Firma steht auf einigermaßen soliden Füßen. Es ist zwar nicht so, dass er mit seiner Arbeit ein Vermögen macht, aber er scheint über die Runden zu kommen. Er ist verwitwet und hat einen achtjährigen Sohn, der in einem Internat lebt.“

„In einem Internat? Kostet das nicht ein Vermögen?“ Für Leo lag es auf der Hand, dass dort nur Kinder aus reichem Hause untergebracht waren.

„Nach dem Tod seiner Frau hat er eine stattliche Summe aus einer Lebensversicherung kassiert, die allerdings langsam aufgebraucht sein dürfte. Wenn ich mir die Unterlagen ansehe, dürfte er sich den Luxus des Internats nicht mehr lange leisten können.“

Leo machte sich eifrig Notizen. Das war einer der Hauptpunkte, zu denen er Lobmann befragen wollte.

„Sonst nichts?“ Leo war enttäuscht. Da sie bei Grete Hofer auch nicht fündig geworden waren, hoffte er auf Lobmann.

„Nichts, was uns zu weiteren Recherchen veranlassen würde. Lobmann wuchs in einem Münchner Kinderheim auf. Er wurde im Alter von neun Jahren von einem Mühldorfer Ehepaar adoptiert, die beide bei einem Unfall im Jahr 2007 verstorben sind. Sonst gibt es nichts über Lobmann, was uns weiterhelfen könnte. Was gibt es über die Hofer?“

„Da sieht es leider ähnlich aus. Bis auf die beiden Drogendelikte aus ihrer Jugend, die sie bereits gebeichtet hat, gibt es nichts Auffälliges. Sie kam nach der Wende 1990 aus der ehemaligen DDR und wurde von Verwandten in Bayreuth aufgenommen. Sie wuchs ebenfalls in einem Heim auf. Wer die leiblichen Eltern sind, konnte nicht ermittelt werden. Das Heim bei Halle wurde 1992 aufgegeben und wurde vor fünf Jahren abgerissen. Wo die Unterlagen verblieben sind, habe ich noch nicht herausgefunden. Seit 2003 lebt Grete Hofer in Mühldorf, wo sie auch eine Ausbildung zur Verkäuferin begonnen und nur wenige Monate später abgebrochen hat.“

„Weshalb der Umzug nach Mühldorf?“

„Keine Ahnung, das geben die Informationen nicht her. Hierzu müssen wir sie befragen.“

„Grete Hofer ist auch ein Heimkind? Wie Lobmann? Ist das ein Zufall?“ Viktoria wurde hellhörig.

Leo blätterte in den Unterlagen. Konnte das sein, dass es noch eine Gemeinsamkeit gab? Hier stand es, schwarz auf weiß.

„Die beiden sind gleich alt, sie sind sogar im selben Monat geboren, aber nicht am selben Tag. Aber das ist noch nicht alles. Auch Grete Hofer hat einen achtjährigen Sohn.“

„So viele Zufälle gibt es doch nicht!“, rief Hans, der sich verarscht vorkam. „Zwei Leute arbeiten für ein- und dieselbe Familie. Beide sind als Heimkind aufgewachsen und beide sind fast genau gleich alt. Und dazu haben beide einen achtjährigen Sohn. Ihr könnt mir doch nicht erzählen, dass das nicht stinkt.“

Leo, Hans und Viktoria waren sich einig und diskutierten heftig. Nur Werner hielt sich raus. Er hatte den Ausführungen zugehört und blätterte in seinen Unterlagen.

„Haltet mich für bescheuert“, unterbrach Werner die Diskussion, „aber es gibt noch etwas, das euch nicht gefallen wird. Esterbauers Sekretär Tobias Mohr ist im selben Jahr geboren wie Franz Lobmann und Grete Hofer.“

„Bitte? Das gibt es doch nicht!“

„Warum sollte es das nicht geben? Es gibt nichts, was es nicht gibt,“ sagte Werner unbeeindruckt. Er selbst kannte viele, die nicht nur im selben Jahr, sondern sogar am selben Tag wie er geboren wurden. Deshalb waren für ihn diese Gemeinsamkeiten zunächst nur eine Tatsache, mehr nicht.“

„Wie sieht es mit der Vita von Mohr aus?“

„Du weißt doch, dass wir erst nachforschen dürfen, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt. Bei Lobmann und Hofer war das vom Chef abgesegnet worden, aber bei Mohr nicht. Warten wir, bis er hier ist, dann können wir ihn befragen. Es dürfte nicht mehr allzu lange dauern, bis wir mit ihm sprechen können. Sollten wir nach dem Gespräch Zweifel haben, werden wir ihn unter die Lupe nehmen.“ Viktoria hatte Recht mit ihrer Aussage. Es war nicht so, wie den Leuten durchs Fernsehen weisgemacht wurde, dass man sämtliche Informationen über Bürger einfach so sammeln durfte. Es gab auch für die Polizei das Datenschutzgesetz, das nur mit Genehmigung vom Chef oder des Staatsanwaltes umgangen werden konnte.

Brigitte Dickmann wartete ungeduldig am Fenster ihres Büros. Ihre Sekretärin war längst weg, sie hatte ihr für den Rest des Tages freigegeben, denn Zeugen konnte sie für das Treffen nicht brauchen. Endlich fuhr ein Wagen vor. Als sie das Gesicht des Mannes erkannte, wurde ihr schlecht. Auf was hatte sie sich da eingelassen? Sie öffnete dem Mann, der sich ihr nur als Josef vorgestellt hatte, die Tür der Kanzlei und verschloss sie sofort wieder. Niemand sollte auch nur ein Wort des Gesprächs mitbekommen oder ihren Gast zu Gesicht bekommen. Jetzt war sie mit dem Typen allein und bekam es mit der Angst zu tun. Der Mann hatte mit eigenen Händen heute eine Frau erschossen. Trotzdem hatte er sich seit dem letzten Besuch nicht verändert. Was hatte sie erwartet? Dass man ihm den Mord irgendwie ansah?

Sie war unsicher. Sollte sie einem Killer einen Kaffee anbieten? War das angemessen?

Josef setzte sich. Der Typ hieß nie und nimmer Josef, dafür sah er zu südländisch aus, das fiel ihr schon bei ihrem letzten und bisher einzigen Gespräch auf. Aber der Name war ihr gleichgültig. Sie bot ihm einen Platz weit genug von ihr entfernt an und er setzte sich. Auch heute war sie von dem unscheinbaren Äußeren des Mannes verblüfft. Wenn sie dem auf der Straße begegnen würde, würde sie niemals annehmen, dass er kaltblütig Menschen umbrachte. Wie viele Menschen er wohl schon auf dem Gewissen hatte?

Josef hatte noch kein einziges Wort gesagt. Er saß ihr direkt gegenüber und sah sie mit seinen dunklen Augen an. Die Stille versetzte sie in noch größere Angst. Wenn dieser Josef sie jetzt umbrächte, würde die Polizei nie im Leben auf den Mörder kommen. Mit einer Handbewegung wischte sie die Gedanken beiseite. Sie musste sich zusammenreißen und Josef gegenüber souverän und bestimmt auftreten. Sie verzichtete darauf, ihm ein Getränk anzubieten, das hier war schließlich keine gemütliche Plauderstunde.

„Was ist schiefgelaufen? Warum ist Heiderose Esterbauer tot?“ Brigittes Hände zitterten, was Josef sehr wohl bemerkte.

„Ein Kollateralschaden, der leider nicht zu verhindern war. Die Frau lief direkt zur Polizei und wollte plaudern. Ich denke, dass das nicht in Ihrem Sinne gewesen wäre. Ich habe Sie soweit verstanden, dass die Unterlagen unter keinen Umständen in fremde Hände gelangen sollen, schon gar nicht in die der Polizei.“

 

„Aber gleich erschießen? Hätte man das nicht anders regeln können?“

„Wie stellen Sie sich das vor, Gnädigste? Hätte ich zu ihr gehen und gemeinsam mit ihr und den Bullen diskutieren sollen? Die Frau sprach bereits mit einem Polizisten der Kriminalpolizei. Ich musste schnell handeln.“

„Wo ist Uwe? Was haben Sie mit ihm gemacht?“

„Ich erzähle Ihnen alles, von Anfang an, schließlich bezahlen Sie mich und haben Anspruch darauf. Ich hatte für das Ehepaar Esterbauer eine perfekte Unterkunft besorgt, in der die beiden bis nach der Wahl verbleiben sollten. Ich rief Esterbauer an und versprach ihm mehr Informationen über Martlmüller. Ich bat um ein Gespräch nur mit dem Ehepaar Esterbauer – genau so, wie wir beide es vereinbart hatten, Frau Dickmann.“ Josef sprach sehr langsam und deutlich, was Brigitte Dickmann fast wahnsinnig machte. Sie war eher von hektischer Natur und mochte es, wenn man schnell auf den Punkt kam. Aber sie unterbrach den Mann nicht. „Esterbauer war sofort interessiert und bat mich, zu ihm nach Hause zu kommen. Als ich dort ankam, wartete das Ehepaar bereits auf mich. Man sah den beiden an, dass sie sehr neugierig auf die vermeintlichen Informationen waren. Ich zog meine Waffe und forderte zuerst die Unterlagen, danach wollte ich mit dem Ehepaar untertauchen. Aber die Frau ist plötzlich völlig ausgetickt. Sie griff nach einer Statue und schlug mir die Waffe aus der Hand, dann lief sie einfach davon. Der Mann wollte auf mich losgehen. Ich zog mein Messer und verletzte ihn am Oberarm. Esterbauer hat heftig geblutet, die Wunde sah nicht gut aus. Ich konnte mich nicht um ihn kümmern, ich musste die Frau zurückholen. Ich drohte Esterbauer, seine Frau umzubringen, falls er die Polizei oder irgendjemand anderen rufen sollte. Ich hatte den Eindruck, dass der Mann mich verstand, die Angst in seinen Augen war deutlich zu sehen. Ich bin der Frau hinterher – den Rest kennen Sie bereits. Als ich zurückkam, war Esterbauer verschwunden. Trotz meiner eindringlichen Warnung ist der Mann abgehauen. Offenbar liegt ihm nicht viel an seiner Frau, jeder andere wäre geblieben. Esterbauer hat es vorgezogen, sich selbst in Sicherheit zu bringen.“

„Esterbauer ist weg? Und wenn er zur Polizei geht?,“ rief Brigitte erschrocken.

„Das glaube ich nicht. Wenn er das vorgehabt hätte, wäre die Polizei längst hier. Ich bin mir sicher, dass die Polizei noch völlig im Dunkeln tappt, noch sind wir auf der sicheren Seite. Allerdings muss ich zugeben, dass die Zeit drängt. Ich muss Esterbauer so schnell wie möglich finden.“

„Wenn Uwe erfährt, dass seine Frau tot ist, rennt er zur Polizei. Begreifen Sie das eigentlich? Die Medien stürzen sich auf den Mord, spätestens morgen weiß es jeder. Und wenn Uwe das weiß, hindert ihn nichts mehr daran, zur Polizei zu gehen.“

„Dann muss ich schnell sein. Bleiben Sie ruhig, ich regle das. Noch ist nichts passiert. Wie gesagt, wäre die Polizei längst hier, wenn Esterbauer geplaudert hätte. Ich vermute, dass er untergetaucht ist. Der Mann hatte so viel Schiss, dass er sich erstmal in eine Ecke zurückzieht. Meine Aufgabe ist es, ihn und die Unterlagen zu finden. Ich mach das schon, kommen Sie wieder runter und behalten Sie die Nerven.“

„Als ob ich Ihnen das glauben könnte! Das ist ein Desaster! Hätte Uwe trotz seiner Verletzung ohne Hilfe abhauen können?“

„Schwer zu sagen. Kann sein.“

„Keine Spur von den Unterlagen?“

„Leider nein. Ich habe alles durchsucht, habe aber nichts gefunden.“

Brigitte stöhnte auf und wurde wütend.

„Wofür habe ich Ihnen das viele Geld bezahlt? Ihr Auftrag war es, die Unterlagen zu besorgen, die mich und auch Martlmüller belasten. Außerdem sollten sie dafür sorgen, dass die Esterbauers von der Bildfläche verschwinden und erst nach der Wahl wieder auftauchen. Ich hatte niemals von Mord gesprochen. Jetzt haben wir eine tote Frau und Uwe ist weg. Außerdem sind die Unterlagen immer noch verschwunden. Das ist eine Katastrophe!“ Brigitte Dickmann war wütend.

„Beruhigen Sie sich und behalten Sie die Nerven. Jetzt auszuflippen und kopflos zu reagieren bringt nichts. Ich pflege meine Aufträge auszuführen, bisher waren meine Auftraggeber immer zufrieden mit mir. Manchmal laufen Aufträge nicht reibungslos ab, man muss immer mit Komplikationen rechnen. Ich kümmere mich um alles, machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe bereits eine Vermutung, wer über Esterbauers Aufenthalt oder sogar über den Verbleib der Unterlagen Informationen liefern könnte. Überlassen Sie mir die Drecksarbeit, dafür bezahlen Sie mich. Nicht mehr lange, und alles ist erledigt.“ Josef stand auf und wollte gehen.

„Ich möchte nicht, dass Uwe nochmals auftaucht. Sie haben mich verstanden?“ Während sie sprach, zitterte ihre Stimme. Hatte sie das gerade tatsächlich gesagt?

Josef blieb stehen und drehte sich um. Hatte er richtig verstanden?

„Sind Sie sicher? Sie wollen wirklich, dass ich ihn töte?“

„Ja.“

„Wie Sie wollen, Sie sind der Boss. Ihnen ist klar, dass das extra kostet?“

„Geld spielt keine Rolle.“ Sie griff in die Schublade und überreichte ihm einen dicken Umschlag, den sie sofort nach ihrer Rückkehr sorgfältig vorbereitet hatte. „Das ist eine weitere Anzahlung. Wenn der Auftrag erledigt ist, rechnen wir ab. Wie kann ich Sie erreichen?“

„Ich werde Sie anrufen.“ Josef steckte den Umschlag, ohne nachzusehen, ein.

Brigitte stand auf, öffnete ihm die Tür und sperrte sofort wieder zu. Josef war verschwunden und Brigitte blieb zurück. Sie sah aus dem Fenster und beobachtete, wie der Mann wegfuhr. Sie war völlig durcheinander und goss sich mit zitternden Händen ein großes Glas Whiskey ein, den sie eigentlich für besondere Kunden parat hielt. Dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer eines Mandanten, der ihr zu großem Dank verpflichtet war: Vincent Neuberger.

„Wie zuverlässig ist Josef?“

„Was ist passiert?“ Neuberger spürte sofort, dass etwas geschehen sein musste. Die Stimme seiner Anwältin sprach Bände.

„Die Sache läuft völlig aus dem Ruder. Josef hat versprochen, sich um mein Problem zu kümmern. Sie haben mir den Mann empfohlen und scheinen ihn gut zu kennen. Wie zuverlässig ist er?“

„Bleiben Sie ruhig, Frau Anwältin. Wenn Josef sagt, dass er das erledigt, dann ist das so. Ich habe ihn nicht umsonst wärmstens empfohlen.“ Neuberger legte auf. Was war da los?

Brigitte trank nach dem Telefonat einen weiteren Whiskey. Sie nahm das Diktiergerät aus der Schublade und schaltete es ein. Dann wählte sie Martlmüllers Nummer, schaltete den Lautsprecher ein und erklärte ihm alles.

„Du weißt, was das heißt? Uwe könnte jeden Augenblick auftauchen und unser beider Leben vernichten. Hast du gesagt, dass es besser wäre, wenn Uwe nicht mehr auftaucht? Hast du ihm klargemacht, dass er ihn töten muss?“

„Ja, ich habe ihm gesagt, was du von mir verlangt hast. Ich habe ihm eine größere Summe gegeben. Dir ist klar, dass du dich daran beteiligen musst?“

„Das versteht sich von selbst. Ich bin dir sehr dankbar und werde mich über die Beteiligung hinaus für deine Arbeit erkenntlich zeigen, Brigitte. Vielen Dank.“

„Das hoffe ich sehr.“ Brigitte legte wütend auf. Sie war sauer auf Kilian, der nur meckerte und Ansprüche stellte, während sie sich um einen zwielichtigen Typen und auch um den Computerspezialisten namens Sven kümmern musste.

Brigitte Dickmann schaltete das Diktiergerät aus. Das war ihre Absicherung, falls Martlmüller irgendwann kalte Füße bekäme. Wenn er auch nur andeuten sollte, dass das alles nur auf ihrem Mist gewachsen sei, würde die Aufnahme umgehend der Polizei übergeben werden. Sie steckte das Gerät in einen Luftpolsterumschlag und schrieb ein paar Zeilen dazu. Dann rief sie eine Kollegin in Frankfurt an, die zusammen mit ihr studiert hatte und mit der sie sich die Studentenbude geteilt hatte. Conny Mahnstein war eine der wenigen Personen, denen sie blind vertraute.