Hilferuf aus Griechenland

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Sari: Leo Schwartz #7
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Leo war begeistert. Er hatte tatsächlich nicht an einen Leihwagen und einen Zeitplan gedacht. Ursula war nicht nur gut vorbereitet, sondern war bereits aktiv. Außerdem kannte sie auch schon die Adresse seiner Exfrau und die des Hotels, worum er sich bislang noch nicht gekümmert hatte. Wie lange hatten die beiden Frauen miteinander telefoniert?

„Selbstverständlich bin ich einverstanden.“

„Dann würde ich jetzt gerne etwas über deine Frau erfahren. Du kennst das ja, erzähl einfach drauf los.“

„Sie ist ein disziplinierter, intelligenter, gebildeter Mensch. Außerdem ist sie kontaktfreudig, sehr zielstrebig, fleißig und hatte schon immer den Drang, mehr aus ihrem Leben zu machen. Sie interessiert sich für Kunst und Musik, vor allem italienische Musiker haben es ihr angetan. Kerstin achtete früher sehr auf ihre Figur, ging regelmäßig ins Fitnessstudio und in ihre Yoga-Stunden. Vor über sieben Jahren haben wir uns scheiden lassen. Der Grund war ein Mann, den sie in ihrem Fitnessstudio kennengelernt hatte.“

„Was weißt du über den Mann?“

„Nicht viel. Er ist ein Geschäftsmann aus Karlsruhe. Was er genau macht, weiß ich nicht und hat mich auch nicht interessiert.“

„Wie weit traust du deiner Exfrau?“

„Nicht mal von hier bis zur Tür. Aber wenn Kerstin verzweifelt ist und um Hilfe bittet, dann muss sie tief in der Klemme stecken. Sie ist eine taffe Frau und kann sich sehr gut selber helfen.“

„Dann habe ich jetzt schon ein ungefähres Bild von ihr. Wobei wir nicht die Tatsache außer Acht lassen dürfen, dass sie dir deinen Sohn verschwiegen hat, was nicht gerade für sie und ihren Charakter spricht. Wir wissen nicht, ob ihr Mann weiß, dass er nicht der leibliche Vater ist. Ich fahre jetzt nach Hause, ich bin hundemüde und würde mich gerne nach dem anstrengenden Tag noch ein paar Stunden hinlegen. Morgen erzähle ich dir von dem interessanten Fall, den ich heute abschließen konnte. Wir haben während des Fluges jede Menge Zeit. Ich werde auch noch packen müssen. Wann holst du mich ab?“

„Der Flug startet um 5.50 Uhr, ich hole dich um halb drei ab. Dann haben wir genug Zeit, um zum Flughafen zu fahren und dort noch etwas zu frühstücken.“

„Das käme mir sehr entgegen, denn von dem Fraß im Flugzeug wird mir schlecht. Wenn ich schon von weitem die lappigen Brötchen sehe, werde ich immer an Styropor erinnert und bekomme sofort Zahnschmerzen. Also gut, bis später. Leg dich hin und versuche zu schlafen, du siehst echt beschissen aus, Leo.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Geplapper lange ertrage. Ursula quasselt ohne Punkt und Komma. Allerdings muss ich zugeben, dass ihre gute Laune ansteckend ist.“

„Sei froh, dass sie dich begleitet.“

Leo packte einige wenige Kleidungsstücke und Waschartikel ein. Sein Koffer war nur halb voll. Er konnte nicht schlafen, wartete ungeduldig und lief im Wohnzimmer auf und ab, bis es endlich zwei Uhr war.

Christine war durch Leos Lärm aufgewacht. Sie hatte erstaunlicherweise gut geschlafen, denn sie wusste Leo in guten Händen. Natürlich wollte sie es sich nicht nehmen lassen, sich von Leo zu verabschieden. Sie drückte ihn fest an sich und ärgerte sich, dass sie nicht einige Jahre jünger war und ihn begleiten konnte. Jetzt konnte sie nur hier sitzen und warten.

„Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück. Keine Sorge, du findest deinen Sohn im Handumdrehen, und zwar gesund und munter. Melde dich ab und zu, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“

Sie zog sich einen Bademantel über und ging mit Leo vor die Tür, drückte ihn nochmals fest und sah seinem Wagen noch lange nach. Natürlich sorgte sie sich jetzt schon. Sie hätte ihn sehr gerne begleitet, aber sie fühlte sich in letzter Zeit nicht wohl und befürchtete, dass sie Leo nur eine Last sein würde. Außerdem wollte sie ihre Pathologie nicht diesem Stümper von Kollegen überlassen, der seit einiger Zeit bei ihr arbeitete. Ihre Pensionierung stand bevor und der Kerl wollte doch tatsächlich ihren Platz einnehmen, was sie um jeden Preis so lange wie möglich hinauszögern musste. Er war in ihren Augen noch lange nicht so weit, um ihre Pathologie zu übernehmen und sie wollte die ihr verbleibende Zeit unbedingt nutzen, um ihm noch so viel wie möglich beizubringen. Sie sah auf die Uhr: kurz vor halb drei. Sie legte sich wieder ins Bett und fand lange keinen Schlaf, denn die Gedanken und Sorgen um Leo und Ursula brachten ihr keine Ruhe.

Ursula stand mit zwei gepackten Koffern und einer vollgepackten Tasche bereits auf der Straße und winkte wie eine Verrückte. Sie trug einen babyblauen Jogginganzug, den sie immer anzog, wenn sie flog. Um die reichlichen Hüften hatte sie ein rosafarbenes Tuch geschlungen, das sie zur Not um die Schultern legen oder als Decke benutzen konnte. Auf dem Kopf hatte sie eine pinkfarbene Baseballmütze, deren Schild sie nach Belieben zum Schutz gegen die Sonne oder zum Schlafen herunterklappen konnte. Sie reiste gerne bequem und war für alle Eventualitäten gewappnet. Leo musste über diese völlig durchgeknallte Frau lachen. Sie scherte sich einen Dreck um die Meinung anderer und machte nur das, was sie wollte.

„Um Gottes Willen. Was hast du denn dabei?“

Leo war sprachlos, mit so viel Gepäck hatte er nicht gerechnet. Den großen Koffer verstaute er neben seinem eigenen im Kofferraum, den etwas kleineren und die große Tasche füllten beinahe den ganzen Rücksitz.

„Frauen brauchen nun mal viel Gepäck. Außerdem weiß ich nicht, wie das Wetter dort ist und wollte auf jeden Fall für jede Eventualität gerüstet sein.“

„Das kostet Übergepäck, das ist dir hoffentlich klar?“

Leo würde niemals für so etwas freiwillig Geld bezahlen. Lieber würde er tagelang in den gleichen Klamotten herumlaufen, oder sich am Urlaubsort neue kaufen, die es zuhauf in den üblichen Läden für Touristen gab.

„Wir werden sehen. Um das Problem kümmere ich mich erst, wenn es auch eins ist. Lass uns fahren.“

Auf den Straßen war um die Uhrzeit nicht viel los und sie kamen gut voran. Ursula war putzmunter und erzählte von ihrem gestrigen Arbeitstag in den tollsten Farben. Leo schaltete irgendwann auf Durchzug und hörte nicht mehr zu. Am Münchner Flughafen parkten sie den Wagen und gingen zu ihrem Terminal. Schon von weitem sahen sie den Schalter ihrer Fluggesellschaft und steuerten darauf zu. Die freundliche Dame lächelte ihnen entgegen.

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“

„Leo Schwartz und Ursula Kußmaul. Für uns wurden Tickets nach Kos hinterlegt.“

Sie tippte in ihren Computer.

„Hier haben wir sie, bezahlt wurden sie schon. Bitteschön! Checken sie dort hinten ein.“

Leo bedankte sich. Bei seiner Rückkehr musste er Christine unbedingt das Geld für die Tickets geben, er hatte gestern nicht daran gedacht.

„Ihr Gepäck ist zu schwer, pro Person sind nur zwanzig Kilo erlaubt!“

Die Ansage der Dame kam monoton, beinahe unfreundlich.

„Haben Sie schlecht geschlafen oder warum sind Sie so pampig? Es ist mir durchaus bewusst, dass mein Gepäck zu schwer ist. Ich bezahle die Mehrkosten gerne. Wenn Sie mir bitte sagen würden, was ich zu bezahlen habe?“

Die Frau starrte Ursula erschrocken an, fing sich dann wieder und war von nun an sehr freundlich und kooperativ.

„Sie reisen gemeinsam. Sie haben lediglich acht Kilo, das können wir zusammennehmen. Dann sind nur zehn Kilo Übergepäck zu bezahlen. Das wären dann zweihundert Euro.“

Leo hatte interessiert zugehört und war über den hohen Betrag erschrocken und wollte einschreiten. Sicher konnte man diesen Aufpreis irgendwie umgehen. Zu seinem Erstaunen aber hatte Ursula bereits den Betrag aus ihrem Geldbeutel gezogen und bezahlte ohne Murren. Sie nahm den Beleg entgegen und bedankte sich.

„Gehen wir frühstücken? Ich habe einen Bärenhunger. Sieh mal dort hinten, das sieht doch gemütlich und ansprechend aus.“

Sie setzten sich, außer ihnen waren nur wenige Tische belegt. Sie bestellten und die unfreundliche Bedienung notierte gelangweilt die Bestellung, weshalb sich Ursula besonders viel Zeit ließ und die Frau fast wahnsinnig machte.

„So, die ist jetzt wenigstens wach geworden“, lachte Ursula, die sich sehr gerne mit unfreundlichen Menschen auseinandersetzte und ihnen ganz schön zusetzen konnte. Und das, ohne selbst unfreundlich zu sein.

„Bist du eigentlich völlig verrückt geworden, so viel für dein Übergepäck zu bezahlen? Ich bin ja fast aus den Latschen gekippt, als ich gehört habe, dass du zweihundert Euro bezahlen musst. Das ist ja fast so viel wie die Flugkosten. Für das Geld kannst du dir auf Kos jede Menge neue Kleidung kaufen.“

„Nein, das kann ich nicht. In meiner Größe finde ich dort bestimmt nichts, schau mich doch an! Für meine Größe bin ich etwas füllig. Ich habe kurze, dicke Arme, die nicht in Normkleidung passen. Und meine Schuhe sind Spezialanfertigungen, die finde ich auf Kos auf keinen Fall. Nein, ich fand das relativ günstig. Außerdem ist es nur Geld, davon habe ich genug.“

„Wie meinst du das?“

„Erst einmal habe ich einen tollen Job, in dem man nicht schlecht verdient, das weißt du ja selber. Dann komme ich aus einem reichen Elternhaus, meine Eltern haben in Stuttgart eine Fabrik für Metallteile für die Autoindustrie. Mein Großvater hat die Firma nach dem Krieg gegründet und mein Vater hat sie nach dessen Tod übernommen.“

Leo war verblüfft, denn bislang hatte er den Eindruck gehabt, dass Ursula Kußmaul aus ganz normalen Verhältnissen stammte. Sie und reich? Für ihn kaum vorstellbar.

„Jetzt beruhige dich mal, es ist nur Geld, sonst nichts. Christine hat nicht übertrieben, als sie mir erzählt hat, dass du sehr geizig bist. Ich habe den Umstand, auch als Schwäbin nicht auf den letzten Cent achten zu müssen, meinem Elternhaus zu verdanken, das ist nicht mein Verdienst. Nach allem, was ich in meinem jungen Leben durchmachen musste, habe ich gelernt, dass Gesundheit weitaus mehr wert ist, als alles Geld der Welt.“

 

„Trotzdem hättest du dieses Detail längst erwähnen können.“

„Warum hätte ich das tun sollen? Das ändert nichts an meiner Person und meinem Charakter.“

Das Frühstück wurde gebracht und Ursula langte kräftig zu. Es gab Zeiten, in denen sie nicht essen konnte und die waren zum Glück vorbei. Sie war gesund und konnte tun und lassen, was sie wollte.

„Trotzdem finde ich die Kosten für das Übergepäck viel zu übertrieben. In deinem Gepäck gibt es sicher Dinge, die man hätte aussortieren können. Frauen packen ihre Koffer sowieso immer viel zu voll.“

„Jetzt beruhige dich, Leo. Wenn ich für mich entscheide, Übergepäck mitzunehmen und auch anstandslos zu bezahlen, dann ist das doch meine Angelegenheit und geht dich überhaupt nichts an. Ich muss mich weder vor dir noch vor irgendjemand anderen rechtfertigen. Und jetzt sprechen wir nicht mehr darüber, das Thema ist erledigt.“

Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, während Ursula fast alles alleine aufaß. Leo bekam kaum einen Happen hinunter. Er war sehr aufgeregt und konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging. Vor allem hatte er Schiss vor dem Flug, denn er flog überhaupt nicht gerne.

Nach dem Frühstück passierten sie die Sicherheitsschleuse, wobei es bei Ursula überall piepte und es eine Ewigkeit zu dauern schien, bis sie endlich durchgelassen wurde. Ihr war das schon bekannt und sie nahm es ruhig hin, sie schien sogar amüsiert. Während den wenigen Minuten hatte sie mit den Sicherheitsbeamten einen Heidenspaß.

„Ich würde wahnsinnig werden, wenn es bei mir an allen Ecken und Enden piepen würde.“

„Durch die vielen Operationen ist nun mal das eine oder andere Metallteil in meinem Körper verblieben, worauf natürlich das Gerät sofort anspringt. Das kenne ich schon und warte schon darauf. Es ist vorgekommen, dass ich sogar die Schuhe ausziehen musste. Engländer und Amerikaner sind in der Beziehung ganz schlimm, sie wollen alles kontrollieren. Wenn die Sicherheitsleute meine deformierten Füße sehen, geben sie sofort Ruhe und winken mich durch. Was glaubst du, was ich alles problemlos in meinen klobigen Schuhen schmuggeln könnte?“

Sie hatte einen so herzerfrischenden, trockenen Humor, dass Leo für einen Moment sogar seine Flugangst vergaß.

Dann war es soweit. Der Flug nach Kos wurde aufgerufen und sie nahmen ihre Plätze ein. Natürlich saßen sie nebeneinander, dafür hatte Ursula gesorgt. Sie rollten zur Startbahn und Leo wurde immer ruhiger und auch blasser. Sein Puls stieg.

„Was ist mit dir? Sag mir nicht, dass ein so großer Kerl Schiss vorm Fliegen hat?“

Leo nickte nur. Er hatte sich bei den wenigen Flügen, die er bislang in seinem Leben überstehen musste, angewöhnt, immer den Blick starr gerade aus zu halten und sich möglichst nicht zu bewegen. Getränke und Essen lehnte er grundsätzlich ab und würde auch nie im Leben in einem Flugzeug zur Toilette gehen. Er saß einfach nur angeschnallt in seinem Sitz, starrte geradeaus und ergab sich seinem Schicksal.

Ursula konnte ihn nicht verstehen, sie flog für ihr Leben gerne. Das war für sie eine sehr angenehme Art, schnell und bequem um die ganze Welt zu reisen. Sie kramte in ihrer quietschgelben, sehr großen Handtasche, die sie verbotenerweise neben sich am Boden platziert hatte, und gab Leo einen Kaugummi. Er winkte dankend ab.

„Nimm schon! Der ist gegen den Druck in den Ohren beim Start, das ist für mich am Unangenehmsten. Und natürlich das schlechte Essen.“ Dass es sich bei ihrem Kaugummi um einen besonderen handelte, der mit beruhigenden, rein pflanzlichen Stoffen versehen wurde, verschwieg sie ihm lieber. Sie war sicher, dass er zum ersten Mal einen Flug genießen würde. Ihr half der Kaugummi immer, wenn sie sich aufregte - was ab und zu vorkam - und sie keine Lust auf Medikamente hatte. Wenn sie einige Minuten kaute, entfaltete sich die gewünschte Wirkung und sie konnte wunderbar schlafen. Sie bezog diese Kaugummis schon seit einigen Jahren aus Holland, da sie in Deutschland nicht erhältlich waren. Es kümmerte sie nicht, welche Stoffe diese Kaugummis genau beinhalteten und dass sie offenbar hier illegal waren. Ihr Arzt wusste Bescheid, hatte ihr sogar dazu geraten. Außerdem halfen sie ihr und das war alles, was sie interessierte. Trotzdem hatte sie vorsorglich die Banderole entfernt und in handelsübliche geschoben, man konnte ja nie wissen.

Ursula hatte Leo von ihrer damaligen Griechenland-Zeit erzählt. Leo interessierte sich nicht dafür, war aber so höflich, ab und zu einen Kommentar abzugeben. Dann blätterte sie in ihren Klatschzeitschriften, die sie aus ihrer großen Handtasche zog. Sie konnte beobachten, wie sich Leo langsam entspannte und dann sogar fast eine halbe Stunde schlief. Das Frühstück, das von der netten Flugbegleiterin angeboten wurde, lehnte sie dankend ab, schließlich hatte sie ausgiebig gefrühstückt. Sie nahm nur einen Orangensaft, der fürchterlich schmeckte. Leo verschlief diese Zeit und Ursula bat darum, ihn nicht zu wecken.

Das Wetter wurde immer besser. Ursula machte jede Menge Fotos. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto aufgeregter wurde sie. Was hatte sie für eine unbeschwerte Zeit auf der griechischen Insel verbracht! Damals war sie nach der überstandenen Krebserkrankung vor den mitleidigen Blicken ihrer Familie und Freunde geflohen. Sie war mit dem Rucksack zwei Wochen durch Griechenland getrampt, wobei sie ihren damaligen Freund kennenlernte. Sie beide reisten gemeinsam und landeten auf Kos, wo sie eine wunderschöne Zeit verbrachten. Die Menschen waren freundlich und offen, keiner sah sie mitleidig an. Es wurden Fragen über ihre Narben gestellt, die sie bereitwillig beantwortete. Wenn die Neugier befriedigt war, wurde nie mehr darüber gesprochen. Hier lernte sie, das Leben zu genießen. Heute wusste sie, dass ihr die Zeit in Griechenland durch sehr schwere Stunden geholfen hatte, von denen sie in den Jahren danach sehr viele durchleiden musste. Aber das war Schnee von gestern. Sie wischte die schlechten Gedanken mit einer Handbewegung einfach weg. Auch eine Geste, die sie auf Kos gelernt hatte.

Die Landung auf dem kleinen Flughafen Kos war perfekt. Leo war aufgewacht und hielt sich am Vordersitz fest. Er war kreidebleich.

„Entspann dich, du hast es gleich geschafft.“

Leo konnte sich nicht entspannen und sehnte den Moment herbei, in dem das Flugzeug endlich gelandet war. Er stand als einer der Ersten auf und konnte es nicht erwarten, das Flugzeug endlich verlassen zu können. Draußen sah er sich erstaunt um. Noch niemals zuvor hatte er so einen kleinen Flughafen gesehen. Der Bus stand parat, um die Passagiere zum Flughafengebäude zu holen. Leo musste lachen, als der Bus anhielt. Diese kurze Strecke hätten sie auch leicht zu Fuß laufen können.

Sie mussten sehr lange auf das Gepäck warten, die Flughafenhalle leerte sich. Leo wurde unruhig.

„Bleib locker, Leo. Unser Gepäck kommt schon noch.“

„Die Busse fahren alle weg. Sieh doch, nur noch einer steht draußen.“

„Wir brauchen keinen Bus, wir nehmen ein Taxi.“

Leo schüttelte den Kopf über diese Verschwendung, sagte aber nichts darauf. Ursula würde sich nicht davon abbringen lassen.

Endlich bekamen sie ihre umfangreichen Gepäckstücke, die sie die wenigen Meter bis zum Ausgang schleppten. Vor dem Flughafengebäude standen einige Taxen und nahmen das, das ihnen wegen ihres Gepäckvolumens am geeignetsten erschien. Ursula gab das Hotel in der Landessprache an, Leo war beeindruckt. Er saß hinten und betrachtete die Landschaft, die immer schöner wurde, je weiter sie sich von dem kleinen Flughafen entfernten. Hatte die Kuh eine Kette am Horn? Erst jetzt bemerkte er, dass um Vieh keine Zäune angebracht waren, sondern die Rinder an den Hörnern angebunden waren. Er musste schmunzeln, das hatte er noch nie zuvor gesehen. Dann wurde er wieder ernst. Hier irgendwo war sein Sohn. Würden sie ihn finden? Wann konnte er ihn in seine Arme nehmen? War er überhaupt noch am Leben? Er musste schwer schlucken, denn bisher ließ er diese Möglichkeit nicht zu.

Nach zwanzig Minuten hatten sie das Hotel erreicht. Ursula hatte sich blendend mit dem Taxifahrer unterhalten. Leo war froh, dass er die lebenslustige Frau an seiner Seite hatte.

Ursula pfiff anerkennend, als sie ausstieg und das Hotel betrachtete. Sofort stürmte ein Page auf sie zu und nahm ihnen das Gepäck ab.

„Nobel, nobel“, rief Ursula erfreut.

Leo ging durch die beeindruckende Hotelhalle und bekam ein mulmiges Gefühl. Das Ganze hier würde ihn ein Vermögen kosten, denn er musste anstandshalber auch die Kosten seiner Kollegin übernehmen. Das riss ein großes Loch in seine Ersparnisse, was jetzt aber nicht wichtig war.

„Du hättest mir sagen können, was das für ein Luxusschuppen ist, dann hätte ich das eine oder andere Kleidungsstück zusätzlich eingepackt“, sagte Ursula lachend.

Sie gingen an die Rezeption, nahmen die Zimmerkarten entgegen und verabredeten sich in einer halben Stunde am Ausgang. Leo wäre zwar lieber sofort aufgebrochen, aber Ursula bestand darauf, sich umzuziehen. In ihrem Jogginganzug, der nur für Reisen benutzt wurde, wollte sie auf keinen Fall losziehen.

Ungeduldig wartete Leo vor dem Ausgang und er war sehr nervös. In wenigen Minuten würde er vor seiner Exfrau stehen, die er einmal sehr geliebt hatte. Vor allem brannte er darauf, Antworten auf seine vielen Fragen zu bekommen.

4.

Leo wollte die kurze Strecke zu der Adresse seiner Exfrau zu Fuß gehen, nahm aber Rücksicht auf Ursula, die nicht gut zu Fuß war und bereits jetzt schon stark schwitzte. Sie trug ein längeres rotes Kleid, das mit einem orangefarbenen Gürtel und einer blauen, riesigen Blume im Dekolleté verziert war. Zum Schutz der Sonne setzte sie sich einen Strohhut auf und nahm ihre quietschgelbe Handtasche vom Morgen, obwohl zu diesem Kleid eine andere Tasche geplant war. Darauf konnte sie jetzt allerdings keine Rücksicht nehmen. Sie konnte und wollte ihren Kollegen nicht länger warten lassen. Der stand bestimmt schon längst ungeduldig in der Lobby.

Leo stand am Wagen, der ihm schon vor einer guten viertel Stunde von einem Mitarbeiter der Autovermietung übergeben wurde. Er hatte dessen Erklärungen zugehört, obwohl er kein Wort verstand, denn der Grieche sprach ein miserables Englisch. Leo hatte mehrfach versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er keine Einführung und Erklärung brauchte, da er mit allen Fahrzeugen problemlos zurechtkam. Vergeblich. Der Grieche sprach ohne Punkt und Komme, wobei er wild mit den Armen gestikulierte. Endlich ließ der Mann ihn allein. Wo war Ursula? Leo fütterte das Navi mit der Adresse seiner Exfrau. Wo war Ursula? Warum brauchte sie so lange? Endlich kam sie und er bemerkte schmunzelnd ihr buntes, beinahe wahllos zusammengewürfeltes Outfit, während er lediglich ein frisches T-Shirt übergezogen hatte. Auch heute prangte das Konterfei eines Rockmusikers darauf, das außer ihm vermutlich kaum jemand kannte.

Während der kurzen Fahrt sprach Ursula ohne Punkt und Komma. Diesmal war Leo keineswegs genervt, sondern war dankbar über die Ablenkung. Er war sehr nervös vor dem Treffen mit seiner Exfrau, was ihn tierisch nervte. Dann standen sie vor einem riesigen Anwesen, das mit einem hohen Zaun und einem imposanten Tor versehen war.

„Alle Achtung! Auf dem Klingelschild steht: „Lechner“. Ist das der Name deiner Exfrau?“

„Keine Ahnung. Aber die Adresse stimmt.“

„Ich fresse einen Besen, wenn ihr das Haus gehört.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen, das gehört bestimmt Bekannten.“

Er drückte den Klingelknopf. Kerstin trat aus dem Haus und lief ihnen auf dem gepflegten Plattenweg entgegen. Sie sah umwerfend aus! Sie trug das ehemals lange, blonde Haar nun dunkel und kurz. Die Figur war makellos und das Gesicht war perfekt geschminkt. Das weiße Seidenkleid erinnerte Ursula an eine Schokoladenwerbung aus dem Fernsehen.

„Leo!“ rief sie erfreut. „Wie schön, dass du so schnell kommen konntest.“

Sie öffnete das Tor und gab Leo einen flüchtigen Kuss. Er zitterte. Die Begegnung mit seiner ersten, großen Liebe war für ihn kaum zu ertragen. Es zog ihm den Magen zusammen, ihm wurde schlecht. Er war nervös wie ein Teenager, worüber er sich ärgerte. Er musste sich in Gegenwart seiner Exfrau zusammenreißen.

 

„Grüß dich. Das ist meine Kollegin Ursula Kußmaul, sie wird uns helfen“, sagte er bestimmt.

An Kerstins Gesicht konnte man erkennen, dass ihr das Aussehen der Frau sehr missfiel. Sie musterte die bunte, dicke, kleine Frau von oben bis unten, was Ursula natürlich bemerkte. Normalerweise hätte sie sofort einen dummen Spruch losgelassen, aber sie wollte es sich mit Leos Exfrau nicht sofort verscherzen. Auch wenn ihr die Frau auf den ersten Blick unsympathisch war. Trotz des offensichtlichen schlechten Starts der Frauen waren beide sehr bemüht, freundlich und charmant miteinander umzugehen.

„Herzlich willkommen, Frau Kußmaul, ich bin Kerstin Lechner.“

„Dann gehört dieses Traumhaus tatsächlich dir?“

„Ja, wir haben es vor einigen Jahren gekauft und sind sehr gerne hier. Kommt doch bitte rein, wir müssen nicht in der Sonne stehen.“

Sie folgten der Frau durch die riesige Eingangshalle, gingen durch ein sehr beeindruckendes Wohnzimmer mit Marmorböden, einer riesigen Polstergruppe und einem bombastischen Kamin, und fanden sich auf einer sehr ausladenden Terrasse mit einem grandiosen Blick aufs Meer wieder. Hier bot ihnen Kerstin Lechner in den teuren Terrassenmöbeln Platz an.

Sie rief einem jungen Mädchen etwas zu, worauf ihnen Kaffee und Wasser gebracht wurde. Ein Hausmädchen hatte sie also auch!

„Sie haben ein sehr schönes Haus, Frau Lechner, so eins würde mir auch gefallen.“

Ursula war schwer beeindruckt, vor allem von dem Blick aufs Meer. Auch wenn ihr das Ganze persönlich eine Spur zu protzig war.

Leo gefiel das Haus zwar auch, aber das interessierte ihn sekundär. Seit seiner Ankunft konnte er kaum den Blick von seiner Exfrau abwenden. Er musste zugeben, dass sie immer noch eine sehr schöne Frau war, der man die Schwangerschaft und die vergangenen sieben Jahre nicht ansah. Sie war mittlerweile fünfundvierzig Jahre alt und führte offensichtlich ein sehr angenehmes Luxusleben. Leo fühlte für einen kurzen Moment Neid in sich aufsteigen, denn dieses Leben hätte er ihr mit seinem Beamtengehalt niemals bieten können. Sie hatte sich verändert. So, wie sie sich bewegte, wie sie in ihrem Stuhl saß und die Tasse Kaffee trank hatte sie sich früher nie gegeben. Schmerzhaft erinnerte er sich an die langen Fernsehabende in Jogginganzügen auf der gemütlichen Couch, bei denen Kerstin niemals so top gestylt und anmutig aussah. Die frühere Kerstin war ihm sehr viel sympathischer, denn er mochte dieses Schickimicki-Getue überhaupt nicht. Auch dieses übertriebene Make-up und das ganze Drumherum war ihm zuwider. Oder war er etwa eifersüchtig? Nein, auf keinen Fall! Er war sich ganz sicher, dass die Kerstin von früher viel natürlicher war und er sie damals viel lieber mochte. Er wischte die Erinnerungen beiseite und unterbrach die Frauen, die sich über irgendeinen Kosmetikkram unterhielten, der ihn überhaupt nicht interessierte. Es war keine Zeit für Smalltalk.

„Warum hast du mir nie von meinem Sohn erzählt?“, platzte er mit seiner ersten Frage heraus, er wollte keine Zeit mehr verlieren.

„Du hast dich überhaupt nicht verändert. Immer noch gerade raus und sofort abklären, was dir wichtig ist. Das ist mir zu intim und ich möchte nicht vor deiner Kollegin darüber sprechen. Vor allem geht es vorrangig darum, meinen Sohn zu finden.“

Leo wiederholte seine Frage, aber Kerstin Lechner machte dicht und ging nicht darauf ein. Ursula gab ihm ein Zeichen, es dabei zu belassen. Schließlich war für die Klärung seiner Fragen immer noch genug Zeit.

„Wo und wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“

„Wir waren gestern früh am Strand, und zwar direkt hier unten“, sie zeigte mit dem Finger auf einen wunderschönen Strandabschnitt direkt unterhalb des Hauses, das von hier aus gesehen auf einer leichten Anhöhe stand. Man konnte den Strand durch eine Treppe erreichen, die man von der Terrasse aus sah. „Das kleine Strandstück gehört zum Haus, aber wir lassen natürlich gerne die Kinder aus der Nachbarschaft dort spielen. Mein Mann fuhr mit dem Boot zu einem Geschäftstermin in die Türkei. Das Boot liegt immer hier draußen vor Anker, deshalb haben mein Sohn und ich meinen Mann auch dort unten am Strand verabschiedet. Marcel spielte lange mit anderen Kindern, ich habe mich auf die Terrasse zurückgezogen und habe gelesen. Ich hatte meinen Sohn immer im Blick. Ich wurde erst unruhig, als die Kinder nach meinem Sohn riefen. Nach Aussagen der Kinder ist Marcel einer Frisbeescheibe hinterher und kam nicht wieder. Er ist dort hinten verschwunden. Ich kann mir das nicht erklären.“ Sie schniefte leise in ihr Taschentuch.

„Was haben Sie unternommen? Sie haben doch sicher nach ihm gesucht?“

„Selbstverständlich! Ich bin stundenlang herumgelaufen, habe den ganzen Strand von hier“ - wieder zeigte sie mit den Fingern - „bis hier abgesucht. Dabei rief ich immer wieder seinen Namen. Leider vergeblich, er blieb verschwunden. Natürlich habe ich auch alle möglichen Leute am Strand angesprochen. Ich habe Nachbarn und Passanten auf der Straße angesprochen. Niemand hatte meinen Sohn gesehen. Irgendwann gab ich auf. Ich habe mich an die hiesige Polizei in Kos-Stadt gewandt und bat um Hilfe. Aber der diensthabende Polizist hat mich beruhigt und sah offensichtlich keine Veranlassung, etwas zu unternehmen. Erst nach zwei Tagen wird die Polizei in solchen Vermisstenfällen aktiv, ist das zu fassen? Inzwischen kann doch wer weiß was passiert sein! Ich habe gebettelt, gedroht, habe sogar Geld geboten. Aber die Polizei tut nichts, die können wir vergessen.“

Sie weinte leise in ihr Taschentuch und Leo erschrak, denn so kannte er sie nicht. Wenn sie früher weinte, was durchaus ab und zu vorkam, vor allem, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte, dann weinte sie laut. Wann hatte sie sich das angewöhnt? Oder hatte er sie anders in Erinnerung?

„Was ist mit Ihrem Mann? Wieso ist er nicht hier?“

„Er ist, wie gesagt, in der Türkei bei einem wichtigen Geschäftstermin.“

Die Worte waren klar und bestimmt, von den eben vergossenen Tränen war keine Spur mehr zu sehen. Eine weitere Erklärung kam nicht und weitere Fragen danach würde sie auch nicht dulden, das war sehr deutlich.

„Der Beruf Ihres Mannes?“

Kerstin sah sie erstaunt an.

„Was hat das denn mit meinem verschwundenen Kind zu tun?“ Plötzlich schien sie begriffen zu haben, worauf Ursula hinauswollte. „Sie denken doch nicht etwa an eine Entführung?“

„Ich denke an gar nichts, ich sammle nur Fakten.“

Hatte die Frau tatsächlich noch nicht an diese Möglichkeit gedacht? Wenn man sich hier umsah, musste jedem klar sein, dass die Lechners sehr reich waren. Eine Entführung war nicht unwahrscheinlich. Sie an ihrer Stelle hätte dies sofort in Betracht gezogen.

„Mein Mann ist selbständiger Unternehmensberater. Und ich glaube nicht an eine Entführung. Wir sind nicht arm, das gebe ich zu, aber wir gehören auch nicht zu den sogenannten Superreichen, bei denen sich eine Entführung lohnen würde. Lassen Sie sich bitte nicht von dem Haus und dem Drumherum blenden.“

Das kam für Ursula eine Spur zu arrogant und überheblich. Oder war sie voreingenommen? Sie mochte diese attraktive und elegante Frau nicht, ihre Bewegungen und ihre Gestik waren für sie zu übertrieben und aufgesetzt.

„Wir brauchen ein Foto und eine Beschreibung von Marcel.“

Kerstin stand auf, ging ins Wohnzimmer und kam nach wenigen Minuten zurück. Sie reichte Leo das Foto. Erschrocken blickte er auf das hübsche Gesicht, das ihn anlächelte. Das war sein Sohn! Er strich kaum merklich über das Foto.

„Marcel hat nächste Woche am sechsten Mai Geburtstag, er wird acht Jahre alt. Er ist circa 1,35 Meter groß, wiegt sechsundzwanzig Kilo und hat dunkelbraunes Haar. Er trug gestern ein weißes T-Shirt mit einem Hai auf der Vorderseite, Marcel liebt Haie. Dazu trug er rote Shorts und bunte Turnschuhe.“