Hilferuf aus Griechenland

Tekst
Sari: Leo Schwartz #7
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ursula schrieb mit und nickte ab und zu, während Leo nur Augen für das Foto hatte.

„Irgendwelche besonderen Merkmale? Narben, auffällige Sommersprossen, Muttermale, Schmuck, Uhr. Handy?“

Kerstin schüttelte den Kopf.

„Nein, nichts dergleichen.“

„Gut, dann werden wir uns auf die Suche machen. Hier ist meine Karte. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Ich habe auf der Rückseite unser Hotel notiert, sowie Leos Handynummer.“

„Sie haben sich Zimmer in einem Hotel genommen? Ich dachte, Sie bleiben hier. Das Haus ist wahrlich groß genug.“

Sie blickte auf den Zettel und las erstaunt den Namen des Hotels.

„Dort seid ihr abgestiegen? Donnerwetter! Das hätte ich dir nicht zugetraut, Leo. Früher wärst du für diesen Luxus viel zu geizig gewesen. Trotzdem möchte ich nochmals meine Gästezimmer anbieten.“

„Sehr nett, danke. Wir bleiben in unserem Hotel.“

„Schade, ich hatte mich so auf eine Ablenkung gefreut, denn die Angst um meinen Sohn lässt mir keine Ruhe. Bitte versprecht mir, mich auf dem Laufenden zu halten. Du hast meine Nummer, Leo?“

Ursula war aufgestanden und sah Leo an, der immer noch völlig geistesabwesend auf das Foto starrte.

„Leo!“ schrie sie nun, worauf der zusammenzuckte. „Wir gehen!“

Leo nickte nur. Er nahm das Foto seines Sohnes aus dem Rahmen und steckte es in seine Jackentasche.

„Du hast meine Handynummer?“, wiederholte Kerstin ihre Frage.

„Selbstverständlich. Wir melden uns.“

Ursula wollte weg, sie musste mit Leo so schnell wie möglich unter vier Augen sprechen. Sie verabschiedeten sich und Ursula zog Leo mit sich. Sie rannten fast. Als sie außer Reichweite des Lechner-Anwesens waren, setzten sie sich auf eine niedrige Mauer, die glücklicherweise im Schatten lag. Sie saßen einige Minuten schweigend zusammen.

„Da stimmt etwas nicht. Die ganze Sache stinkt bis zum Himmel.“

Leo sah sie irritiert an.

„Was meinst du damit?“

„Stell dir jetzt mal vor, dein Kind ist verschwunden. Zugegeben, das Beispiel ist jetzt vielleicht unglücklich gewählt. Dein Kind ist weg, du bist verzweifelt und allein mit deiner Angst. Dann kommt endlich die ersehnte Hilfe. Was sagst du zuerst?“

Leo überlegte und verstand nun, worum es ihr ging.

„Ich lege sofort los und erzähle ausführlich, was passiert ist.“

„Richtig. Stattdessen ist deine Exfrau sofort auf meine Bemerkung wegen eines Kosmetikartikels angesprungen. Hast du ihre Augen gesehen, während sie sprach? Sie machte nicht den Eindruck, als wäre sie todunglücklich. Sie sah dazu noch perfekt aus, sie war frisch frisiert und geschminkt. Sogar die Farbe des Nagellacks an Händen und Füßen war auf die Kleidung abgestimmt. Gut, das könnte Zufall sein. Aber wie oft hast du schon nach verschwundenen Kindern suchen müssen? Bestimmt auch schon etliche Male. Wie sahen da die jeweiligen Eltern, vor allem die Mütter aus?“

„Ich verstehe dich und du liegst nicht falsch. Aber Kerstin war immer schon ein Mensch, der sich beherrschen konnte.“

„Und wo zum Teufel ist der Vater? Den pfeife ich doch umgehend zurück, scheiß auf den Geschäftstermin.“

„Das hat mich auch gewundert. Trotzdem würde ich jetzt gerne mit der Suche nach Marcel anfangen, alles andere klären wir später. Womit sollen wir anfangen? Befragungen im direkten Umfeld des Lechner-Hauses oder sollen wir die Polizei aufsuchen?“

„Selbstverständlich die Polizei. Wenn wir hier auf eigene Faust losziehen, bekommen wir wahrscheinlich von den Einheimischen keinerlei Auskünfte, wir brauchen die Unterstützung von behördlicher Seite. Nicht, dass wir noch Ärger bekommen. Außerdem hat die Polizei ganz andere Möglichkeiten. Wenn die wirklich erst nach zwei Tagen nach einem verschwundenen Kind aktiv suchen, dann hauen wir mächtig auf den Putz. Wir geben erst Ruhe, wenn die ihre Hintern in Bewegung setzen. Ich habe gedacht ich spinne, als ich gehört habe, dass die nicht sofort nach dem Kind gesucht haben, das ist nicht zu fassen. Das möchte ich jetzt direkt von den Polizisten hören, denn das kann ich mir nicht vorstellen. Besonders die Griechen lieben Kinder und tun alles für sie. Gerade in den ersten zwei Tagen ist die Suche überaus wichtig, in diesem Zeitraum werden auch die meisten Kinder wieder aufgefunden.“

Leo stimmte ihr zu. Auch er und seine deutschen Kollegen wurden immer sofort aktiv, wenn es um verschwundene Kinder ging.

„Fahren wir zur Polizei.“ Leo hätte lieber hier vor Ort sofort mit der Befragung aller Nachbarn und auch der Kinder, mit denen Marcel gespielt hatte, angefangen. Aber Ursula hatte Recht. Sie bewegten sich hier auf griechischem Boden und die Bewohner hatten keinerlei Veranlassung, ihnen Auskunft zu geben. Er vertraute Ursula, da sie die Mentalität der Leute besser kannte.

Auf dem Weg nach Kos-Stadt dachte Leo über Ursulas Worte nach, während die ständig vor sich hin plapperte, er aber nicht zuhörte. Natürlich war es seltsam, wie sich seine Exfrau verhielt. Und es war noch seltsamer, dass ihr Mann nicht hier war. Wusste der, dass es nicht sein leibliches Kind war und Kerstin wollte ihn nicht an ihrer Seite haben? Kriselte es in der Ehe und jeder ging seiner Wege? – Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, während Ursula ununterbrochen plapperte und er sich konzentrieren musste, um den Anweisungen des Navi-Gerätes Folge zu leisten.

„Wir sind da! Da vorn, das weiße, große Gebäude an der Ecke müsste die Polizeistation sein.“

Sie parkten direkt neben zwei Polizeifahrzeugen vor dem Eingang. Es war kurz vor zwölf, sie kamen also noch vor der Mittagspause. Die Tür quietschte laut. Die beiden Beamten an ihren Schreibtischen blickten in ihre Richtung, bestimmt auch wegen Ursulas auffälliger Erscheinung. Diese grüßte freundlich und legte gleich auf Griechisch los. Einer der Polizisten war aufgestanden und kam lächelnd auf sie zu.

„Sie sind deutsche Polizisten? Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Sie sprechen deutsch? Sehr gut, das vereinfacht die Sache ungemein. Mein Name ist Ursula Kußmaul und das ist mein Kollege Leo Schwartz.“

„Stavros Ustanidis. Was kann ich für Sie tun?“

Der Polizist sah blendend aus in seiner schnittigen Uniform. Schlank, vierunddreißig Jahre alt, braungebrannt, dunkle Augen, kurze, pechschwarze Haare und eine sehr markante Nase. Dazu war er für einen Südländer außergewöhnlich groß, nämlich fast so groß wie Leo.

„Wir sind auf der Suche nach diesem Kind.“ Leo legte das Foto vor. „Er ist seit gestern verschwunden. Die Mutter, Kerstin Lechner, war bereits bei der Polizei und hat den Vorfall gemeldet. Hat die Polizei schon irgendetwas unternommen?“

Stavros nahm das Foto und schüttelte den Kopf.

„Seit gestern ist der Junge verschwunden, sagen Sie?“

Er ging zu seinem Schreibtisch und tippte in seinen Computer.

„Wir haben keine Vermisstenmeldung vorliegen. Aber das soll nichts heißen. Wir warten immer einige Zeit ab, meist kommen die Kinder von alleine wieder nach Hause. Wenn das nicht der Fall sein sollte, leiten wir eine Suchaktion ein.“

Ursula und Leo ärgerten sich über diesen laschen Umgang mit verschwundenen Kindern, rissen sich aber zusammen. Sie brauchten die Hilfe und auch das Wohlwollen der hiesigen Polizei, wenn sie hier als deutsche Polizisten nach dem Kind suchen wollten.

„Dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass der Junge noch nicht zuhause ist. Sein Name ist Marcel Lechner, er ist knapp acht Jahre alt. Wir haben die Beschreibung der Kleidung, die er bei seinem Verschwinden trug.“ Ursula hatte ihren Block aufgeschlagen und schob ihn dem Polizisten zu. „Wir werden uns umgehend auf die Suche nach ihm machen. Dabei rechnen wir mit Ihrer Unterstützung.“

„Haben Sie eine behördliche Genehmigung? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie können in unserem Zuständigkeitsbereich nicht einfach auf eigene Faust ermitteln.“

„Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Wir haben keine Genehmigung, wir sind auf eigene Faust aufgebrochen, da uns die Mutter gebeten hat, nach ihrem Sohn zu suchen.“

Stavros Ustanidis schüttelte seinen hübschen Kopf.

„Das kann ich nicht erlauben. Was würden Sie sagen, wenn ich einfach bei Ihnen auf eigene Faust ermitteln würde?“

„Haben Sie verstanden, warum wir hier sind? Ein Kind ist verschwunden und Sie machen sich Sorgen um irgendeine Genehmigung. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“ Leo war kurz davor, die Nerven zu verlieren.

„Sie haben ja Recht“, mischte sich nun Ursula ein, die Leo zurückhielt. Sie befürchtete, dass er gleich ausrasten würde und sie dann bestimmt nicht mit der Unterstützung und dem guten Willen der Polizei rechnen konnten. „Die Aktion war vielleicht unüberlegt und überstürzt. Wir haben eine Erklärung für unser Verhalten: Mein Kollege Leo Schwartz ist der leibliche Vater des verschwundenen Jungen.“

Stavros war überrascht, damit hatte er nicht gerechnet. Würde er an dessen Stelle nicht genau so handeln? Ganz bestimmt sogar. Er sah die beiden deutschen Polizisten an, die ein ulkiges Bild abgaben: Er groß und dünn mit altmodischen Klamotten, sie klein, dick und völlig verrückt. Stavros Ustanidis nickte.

„Gut, ich verstehe. Ich nehme die Vermisstenmeldung auf und danach leite ich umgehend die erforderlichen Schritte ein.“

Stavros Ustanidis gab die Beschreibung des Jungen in den Computer ein, das Foto wurde für die Akten in Kopie aufgenommen. Danach verschwand er im hinteren Zimmer. Die beiden konnten hören, dass er telefonierte.

„Was macht der jetzt? Kannst du ihn verstehen?“

„Nur Bruchstücke. So, wie ich das mitbekommen habe, geht die Suchmeldung an alle anderen Polizeistationen. Zudem wird für morgen eine großangelegte Suche gestartet. Warte doch einfach ab, der hübsche Kerl kommt eh schon wieder, fragen wir ihn.“

 

„Die Kollegen auf Kos wissen Bescheid. Morgen früh um sieben Uhr starten wir von dem Ort des Verschwindens eine großangelegte Suche mit mehreren Beamten und einigen Spürhunden. Wenn Sie wollen, können Sie uns gerne begleiten. Darüber hinaus werden Flugblätter mit dem Foto und der Beschreibung verteilt. Bereits heute Abend erscheint in den Nachrichten eine entsprechende Meldung, und zwar im Fernsehen und im Radio.“

„Natürlich werden wir Sie begleiten. Könnten wir das alles nicht beschleunigen und noch heute mit der Suche anfangen?“

„Keine Chance. Wir haben hier auf der Insel zu wenig Beamte und nur einen Spürhund. Die ganze Sache muss geplant werden. Morgen früh trifft die Mannschaft mit dem ersten Flugzeug ein und dann starten wir sofort, versprochen.“

Leo war enttäuscht. Er wusste aus der Vergangenheit, dass die Chancen, den Jungen gesund und munter zu finden, immer geringer wurden, je mehr Zeit verstrich. Aber er verstand auch den Kollegen, denn eine solche Suche musste tatsächlich geplant werden und sie befanden sich hier nun mal auf einer relativ kleinen Insel. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste sich gedulden.

„Wenn Sie Befragungen vornehmen, werden Sie bei den Einheimischen wahrscheinlich auf großes Misstrauen stoßen. Sie sprechen zwar sehr gut unsere Sprache, Frau Kußmaul, aber man hört sofort einen deutlichen deutschen Akzent heraus. Obwohl es sich um ein verschwundenes Kind handelt, erfahren Sie kein Wort, darauf könnte ich wetten. Aufgrund der politischen Lage ist ein Teil der Griechen Ausländern gegenüber sehr misstrauisch. Vor allem, was die Deutschen betrifft, was von der Regierung, vor allem aber von der Opposition, kräftig geschürt wird. Es gibt kaum eine Woche ohne einen negativen Bericht über die Deutschen, das finde ich nicht gut. Ich habe einige Jahre in Deutschland verbracht, ich habe dort studiert. Die Deutschen sind mir sehr ans Herz gewachsen und das Bild, das uns Griechen jetzt aufgrund der Finanzlage von Deutschland und den Deutschen übermittelt wird, ist grundlegend falsch.“

Leo freute sich zwar über die Worte des Polizisten, wurde aber immer ungeduldiger. Er wollte hier weg und endlich mit der Suche anfangen.

„Was schlagen Sie also vor? Wie sollen wir vorgehen?“

Stavros gab ihnen ein Zeichen, kurz zu warten. Er sprach mit seinem Kollegen, führte ein kurzes Telefonat und kam wieder zu ihnen.

„Ich werde Sie begleiten.“

Ursula und Leo waren begeistert. Mit dieser Unterstützung hätten sie nicht gerechnet. Stavros holte seine Jacke und seine Mütze und ging ihnen voraus.

„Lassen Sie Ihren Wagen stehen, wir nehmen den Dienstwagen. Das macht mehr Eindruck und wir kommen problemlos durch den Verkehr.“

Den ganzen Nachmittag gingen sie von Tür zu Tür, sprachen alle Personen, vor allem Kinder und deren Mütter, auf der Straße und in den umliegenden Geschäften und Restaurants an. Ohne Erfolg. Niemand hatte den Jungen gesehen. Einem großen Teil der Nachbarn war er sogar völlig unbekannt. Das Ehepaar Lechner war ein Begriff, aber nicht das Kind.

„Wir müssen die Befragungen ausweiten, aber heute nicht mehr. Es ist schon spät. Ich schlage vor, Sie ruhen sich aus und versuchen, etwas zu schlafen. Morgen früh um sieben Uhr starten wir die Suche, wovon ich mir sehr viel mehr verspreche, als von den in meinen Augen sinnlosen Befragungen. Das Kind ist nicht blond und blauäugig, es sieht aus wie eines unserer Kinder. Verlieren Sie die Hoffnung nicht, wir werden Ihren Sohn finden. Ich hole Sie um halb sieben in Ihrem Hotel ab.“

„Es ist doch noch nicht mal achtzehn Uhr, wir könnten noch sehr viel mehr Menschen befragen. Vielleicht hat ihn doch jemand gesehen.“

Stavros antwortete nicht darauf. Die Befragungen in der unmittelbaren Nachbarschaft der Lechners hätten vielleicht etwas bringen können, aber das, was der deutsche Kollege vorhatte, war doch Irrsinn. Das verschwundene Kind sah aus wie viele andere in seinem Alter.

Leo war verzweifelt, er hatte sich mehr von den Befragungen erhofft. Er musste zugeben, dass sich Stavros alle erdenkliche Mühe gab und teilweise auch laut wurde, wenn Passanten pampig wurden. Aber trotz allem hatte offensichtlich niemand seinen Sohn gesehen.

„Sei doch vernünftig, Leo, wir sind alle fix und fertig, auch du. Wir müssen etwas essen und uns ausruhen. Stavros hat Recht. Morgen früh gehen wir frisch und munter wieder an die Arbeit.“

Ursula sprach mit Engelszungen, sie war tatsächlich völlig fertig. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel und ihr schwirrte der Kopf von den vielen Übersetzungen, die sie Leo den ganzen Nachmittag über geduldig vortrug. Sie waren die meiste Zeit zu Fuß unterwegs und ihr taten die Füße und auch der Rücken weh. Außerdem hatten sie heute Mittag nichts gegessen und ihr knurrte der Magen. Leo sah seine Kollegin an, die sehr schlecht aussah. Er gab schließlich widerwillig klein bei. Sie fuhren zurück zur Polizeistation Kos-Stadt und dann mit ihrem Wagen weiter zurück zu ihrem Hotel.

„Ich mache mich frisch, ziehe mir etwas Schönes an und in einer halben Stunde treffen wir uns im Restaurant. Einverstanden?“

„Es tut mir leid, aber ich habe keinen Hunger. Ich werde duschen und lege mich hin.“

Da für heute nichts mehr anstand, bemerkte Leo, dass er völlig fertig war. Er hatte nicht nur sehr wenig geschlafen und gegessen, die Sorgen um den Jungen fraßen ihn von innen regelrecht auf.

„Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Du musst etwas essen, du musst bei Kräften bleiben. Ausgemergelt bist du bei der Suche keine große Hilfe. Außerdem kannst du mich als Frau doch nicht alleine lassen. Was glaubst du, welche Gefahren auf mich lauern?“

Obwohl sich Leo sicher war, dass Ursula sich sehr gut selber helfen konnte, musste er ihr zustimmen. Sie war hier, um ihm zu helfen und da wollte er sie nicht alleine im Restaurant sitzen lassen, das wäre nicht fair ihr gegenüber.

„Gut, du hast gewonnen. In einer halben Stunde im Restaurant.“

Leo wartete bereits mit einem Drink, als Ursula endlich fertig war. Sie sah zu seiner Überraschung in ihrem weißen, langen Kleid sehr hübsch aus. Im Haar hatte sie ein weißes Tuch, dessen Enden am Rücken herunterhingen. Sie war dezent geschminkt und ihr Parfum duftete nach Südfrüchten, was Leo sehr mochte. Zum Glück verzichtete sie auf eine ihrer überdimensionalen Handtaschen, sondern hatte eine silberfarbene Clutch in ihrer Hand, die gut zu dem silbernen Schmuck passte. Er bot ihr galant den Arm, den sie mit einem Strahlen annahm.

Das Restaurant war proppenvoll mit Touristen, die allesamt älter waren. Offensichtlich war dieses hochpreisige Hotel nicht für Familien mit Kindern ausgelegt. Der Geräuschpegel hielt sich in Grenzen.

„Wenn ich mich so umsehe, habe ich heute die schönste Frau an meiner Seite.“ Ursula wurde beinahe rot, freute sich aber über das Kompliment.

„Vielen Dank, du Charmeur.“

„Ich sage die Wahrheit. Du siehst heute wirklich sehr hübsch aus.“

Ursula lächelte und die beiden steuerten auf einen freien Tisch zu. Der Kellner brachte Wein und sie holten sich etwas vom reichhaltigen Buffet. Ursula lud sich den Teller mit den verschiedensten Speisen voll, flirtete mit dem kleinen Koch am Show-Herd, der für sie ein ganz besonders schönes Stück Fisch in seine Pfanne legte. Mit einem Schmunzeln beobachtete Leo die Kollegin, die ganz in weiß komplett aus der Menge herausstach und das sichtlich genoss. Leo hielt sie immer noch für verrückt, aber sie tat ihm gut. Die gute Laune, das lose, freche Mundwerk, die aufmunternden Worte und der scharfe Verstand halfen ihm. Es war wirklich ein Segen, dass Ursula ihn begleitet hatte und ihn unterstützte.

Nach dem Essen saßen sie noch auf einen Drink in der Hotelbar zusammen. Hier war nur sehr wenig los, denn die Getränke hier in der Bar mussten vor Ort bezahlt werden und waren nicht im All-Inclusive-Paket enthalten.

„Vielen Dank, dass du mich begleitest und mir zur Seite stehst, das bedeutet mir sehr viel. Die ganze Sache zieht mich echt runter. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, in welchem Zustand ich wäre, wenn du mir nicht ab und zu in den Hintern treten würdest.“

„Wirkt dein Whisky schon? Wirst du jetzt auch noch rührselig? Oder möchtest du mich anbaggern? Das kannst du gleich vergessen, ich habe kein Interesse an dir. Wobei mir Stavros schon gefährlich werden könnte. Diese dunklen Augen und der knackige Hintern sind eine Sünde wert.“

Leo musste lachen, das erste Mal seit langem.

„Reiß dich gefälligst am Riemen, werte Kollegin. Hattest du letztes Jahr nicht einen Freund? Ich meine mich zu erinnern, dass er ziemlich hübsch war.“

„Nein, wir sind nicht mehr zusammen. Er hat zu sehr geklammert, und das ging mir auf die Nerven. Ich bin noch jung und möchte was erleben. Durch meine Krankheit habe ich viele Jahre verloren, die ich nun gedenke, nachzuholen.“

Sie sagte das keinesfalls traurig, sondern hielt dabei Ausschau nach Männern, was Leo abermals zum Lachen brachte. Diese Frau war ein Phänomen, man musste sie einfach mögen.

„Sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt trotzdem auf mein Zimmer gehen und mich hinlegen. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.“

„Ich bin dir nicht böse. Ohne dich habe ich sogar höhere Chancen, jemanden kennenzulernen. Siehst du den hübschen Mann dort mit dem roten T-Shirt? Ich wette mit dir, dass er sich zu mir setzt, sobald ich alleine bin.“

„Dann wünsche ich dir viel Glück.“

Leo zweifelte an ihren Worten, denn Ursula war keine Schönheit im üblichen Sinn. Sie war klein, pummelig und äußerst schräg.

„Danke, aber mit Glück hat das nichts zu tun. Männer fliegen auf mich wie Bienen auf Süßes, auch wenn du mir nicht glaubst. Es ist ein Klischee, dass Männer nur auf Äußerlichkeiten stehen.“

Leo besah sich den Mann etwas genauer: Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, sportlich, ziemlich gutaussehend und sah tatsächlich ab und an zu ihrem Tisch. Trotzdem, er blieb bei seiner Meinung: Ursula war keine Schönheit und er konnte sich nicht vorstellen, dass sich solche Männer für sie interessierten.

„Ich wünsche dir trotzdem viel Glück. Und pass auf dich auf. Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du meine Hilfe brauchst.“

„Alles klar, schlaf gut. Mach dir keine allzu großen Sorgen um deinen Sohn, wir finden ihn gesund und munter, davon bin ich überzeugt. Und bitte versprich mir, dass du keine Dummheiten machst. Keine Alleingänge, versprochen?“

„Großes Indianerehrenwort.“

Leo beobachtete von weitem, wie sich der Mann mit dem roten T-Shirt tatsächlich auf Ursula zubewegte, sie ansprach und sich zu ihr setzte. Unglaublich!

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?