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Sari: Leo Schwartz #20
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„Lasst uns für heute Schluss machen,“ stöhnte Tatjana auf, als sie auf die Uhr sah und erschrocken feststellte, dass es fast zwanzig Uhr war.

„Das ist doch mal ein Wort,“ rief Leo erfreut, dem der Kopf brummte. „Zur Feier deiner Rückkehr gebe ich einen aus. Na? Wie sieht es aus?“

Werner lehnte dankend ab, er hatte andere Pläne. Er hatte seiner Frau versprochen, mit ihr und der kleinen Tochter den ersten Weihnachtsmarkt in der Gegend zu besuchen. Drei Weihnachtsmärkte öffneten am heutigen Freitag die Tore und Werners Frau hatte sich für den in Altötting entschieden. Es war zwar schon sehr spät, aber noch nicht zu spät.

„Ich glaube, ich gehe nach Hause,“ sagte Tatjana. „Der erste Arbeitstag war hart und ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“ Das war gelogen. Tatjana schlief fast überhaupt nicht mehr und auf Gesellschaft legte sie keinen gesteigerten Wert. Sie war am liebsten alleine und genoss die Ruhe.

„Schade.“ Leo war enttäuscht, er hätte sich gerne mit Tatjana ausführlich unterhalten. Er kannte noch nicht jedes Detail des schrecklichen Vorfalls und war neugierig. Wieder ein Abend, den er allein verbringen musste.

Er parkte seinen Wagen und sah bei seiner Vermieterin und Vertrauten Tante Gerda noch Licht. Leo bewohnte die ausgebaute obere Etage des einsam gelegenen Hofes vor den Toren Altöttings und fühlte sich sehr wohl hier, obwohl er die Freunde in Ulm vermisste. Er hasste die dunkle Jahreszeit, die ihn melancholisch werden ließ. Nein, heute wollte er nicht allein bleiben und klopfte bei Tante Gerda. Sie hatte nichts gegen einen Plausch mit Leo einzuwenden. Seit Leos Freundin Viktoria nach Berlin gegangen war, beobachtete sie, wie Leo immer einsamer und trauriger wurde. Daran änderten sich auch die nächtlichen Streifzüge mit ihrem Neffen Hans nichts, zu denen sie ihn angestiftet hatte. Wie viele Damen sie Leo in den letzten Monaten vorgestellt hatte, konnte Tante Gerda nicht mehr zählen. Sie hatte es längst aufgegeben, ihn zu verkuppeln. Leo war stur, anspruchsvoll und eigensinnig. Als er jetzt wie ein Häufchen Elend vor ihr stand, ließ sie ihn herein. Sie schaltete den Fernseher aus und öffnete eine Flasche Rotwein. Nach dem ersten Glas erzählte Leo von Tatjanas Rückkehr und von dem Fall, von dem Tante Gerda in der Zeitung gelesen hatte. Tante Gerda hörte aufmerksam zu und wurde hellhörig, als sie den Namen des Opfers hörte.

„Patrick Ziegler? Ist das der Sohn von Paul Ziegler?“

„Richtig. Warum fragst du?“

„Ich kenne ihn von früher,“ antwortete Tante Gerda und schenkte einen weiteren Schnaps ein, worauf sofort das Thema gewechselt wurde. Tante Gerda kannte Paul sehr gut. Sie war früher mit dessen Vater liiert, aber das war lange her. Paul war damals noch ein Teenager und wuchs bei der Mutter auf. Ein Kind, das mit der Trennung seiner Eltern nur schwer zurechtkam. Immer wieder tickte der Junge aus und fiel durch aggressives Verhalten auf. Verständlich, wenn die Welt einer Kinderseele zerbricht, sie hatte damals Verständnis für ihn und seine Ausraster. Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen? Das muss weit über dreißig Jahre her sein, wenn nicht noch länger. Der arme Paul!

6.

Andreas Hegel lud zu den bereits eingesammelten Äpfeln mehrere Zierkürbisse in seinen Rucksack, die er von einem Stand in der Altöttinger Burghauser Straße klaute. Kistenweise stand das Zeug seit Wochen hier und man konnte sie kaufen, indem man Geld in eine Kasse warf. Blödsinn! Als wenn jemand freiwillig da Geld reinwarf. Und warum sollte er Ende November dafür bezahlen? Die Kürbissaison war längst vorbei und danach landete sowieso alles auf dem Müll.

Der Rucksack war brechend voll. Er nahm das Fahrrad und fuhr Richtung Neuötting. Nach über einer Stunde war er völlig außer Atem endlich an der Autobahnbrücke in Neuötting angekommen, die über die A94 führte. Der Verkehr auf der Bundesstraße war trotz der späten Stunde immer noch sehr dicht. Verdammt, er musste warten, denn mit dem Verkehr im Rücken konnte er keine Gegenstände auf die Fahrbahn der unter ihm liegenden Autobahn werfen.

Er ging auf der Brücke auf und ab und beobachtete mit Zorn die in seinen Augen rücksichtslose Fahrweise der Auto- und Lkw-Fahrer. Sowohl auf der Autobahn als auch auf der Bundesstraße fuhr nicht einer die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Jeder schien es eilig zu haben. Nicht einer von ihnen hatte von dem gelernt, was kürzlich geschah. Die vorsichtige Fahrweise hatte nicht mal einen Tag gedauert. Andreas wurde kalt. Auch heute war es eine sternklare, klirrend kalte Nacht. War morgen nicht schon der erste Advent? Mag sein, er wusste es nicht, er hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Weihnachten fiel für ihn in diesem Jahr sowieso aus. Was sollte er feiern? Und mit wem? Familie und Freunde hatten sich längst von ihm abgewandt. Selbst gute Kunden, die er zu seinen Freunden zählte und denen er oft ausgeholfen hatte, kannten ihn seit der Gerichtsverhandlung nicht mehr. Alle, mit denen er früher in engem Kontakt stand, wechselten die Straßenseite, wenn sie ihm begegneten. Natürlich redete er sich immer ein, andere nicht zu brauchen, aber trotzdem kränkte ihn deren Verhalten. Er fühlte sich allein, alle ließen ihn im Stich. Selbstmitleid kroch in ihm hoch, was ihn von der Kälte ablenkte.

Nach ein Uhr wurde es endlich ruhiger und er konnte es wagen, Gegenstände auf die Fahrbahn zu werfen. Er nahm zwei Zierkürbisse aus dem Rucksack. Würde er diesmal treffen? Er hatte noch nie Fahrzeuge getroffen. Er zweifelte daran, welche mit dieser Geschwindigkeit zu treffen. Ob es ihm gelang, wenigstens eines zu treffen? Er war nervös, die Kälte war vergessen.

Es näherte sich ein Wagen mit hohem Tempo. Mit zitternden Händen warf er einen Kürbis – und verfehlte sein Ziel. Der Wagen war viel zu schnell, er musste eine andere Wurftechnik anwenden. Dann geschah lange nichts. Auf der Gegenfahrbahn war mehr los, also konzentrierte er sich auf die andere Spur. Er warf mehrere Kürbisse, die allesamt ihr Ziel verfehlten. Er musste schneller werfen und begann, seine Wurftechnik zu perfektionieren. Ein erster Erfolg stellte sich insofern ein, dass er zumindest die Plane eines Lieferwagens getroffen hatte. Dann näherte sich ein Wagen hinter ihm von der Bundesstraße, die bis jetzt völlig leer war. Andreas erschrak. Er legte den Kürbis, den er eben werfen wollte, wieder zurück und warf den Rucksack über die Schulter. Der Wagen wurde auf dem nahen Parkplatz abgestellt. Mist! Hatte der Fahrer ihn entdeckt? Zwei Personen stiegen aus und kamen direkt auf ihn zu! Andreas wurde schlecht. Wer war das und was wollten die beiden hier? Waren das die, die für den Tod des jungen Fahrers verantwortlich waren? Oder waren das Typen der Bürgerwehr, die ihm gefährlich werden konnten, wenn sie mitbekämen, was er hier machte? Er wurde hektisch, zitterte und stieg auf sein Rad. So schnell er konnte, fuhr er in entgegengesetzter Richtung davon, wobei er ein Stück auf der Bundesstraße fahren musste, die für Fahrräder eigentlich verboten war. Er verzichtete darauf, sein Licht einzuschalten. Nichts durfte ihn verraten. Er war den beiden gerade noch rechtzeitig entkommen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten ihn gehabt.

Irgendwann blieb Andreas stehen und beobachtete, wie die beiden Männer auf der Brücke standen. Waren das nun die Steinewerfer oder diese Bürgerwehr? Er konnte es nicht erkennen. Dann lief einer Männer in seine Richtung und kam immer näher. Konnte es sein, dass der Typ ihn entdeckt hatte? Nein, das war nicht möglich, dafür war er zu weit weg. Außerdem war es stockdunkel. Andreas konnte kein Risiko eingehen, stieg aufs Rad und fuhr in Panik davon. Er hielt erst wieder an, als er in seiner Garage war. Rasch verschloss er die Tür und verschwand im Haus. Er getraute sich nicht, Licht anzumachen, und blickte vorsichtig durch die Fenster. Er sah niemanden, aber das hieß nichts. Noch sehr lange lief er von einem zum anderen Fenster, bis er endlich sicher war, dass ihm niemand gefolgt war.

„Was ist los?“, sagte Karl Lahmbrenner, als sein Kumpel Heinz wieder zurückkam.

„Nichts. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. War hier nicht vorhin ein Fahrrad auf der Brücke?“

„Ich habe nichts gesehen. Trotzdem sollten wir den anderen deine Beobachtung mitteilen. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein. Wir müssen die Augen und Ohren offenhalten. Nicht auszudenken, wenn sich der Typ auch noch eine Autobahnbrücke vornimmt. Es sind zu viele Brücken und wir sind zu wenig Leute. Wir müssen die Bürgerwehr verstärken, auf die Polizei ist kein Verlass. Seit Tagen habe ich nicht einen Polizeiwagen gesehen. Du etwa?“

„Nein,“ sagte Heinz Ott, dem schlecht wurde. War das vorhin mit dem Fahrrad der Verrückte, nach dem sie Ausschau hielten? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, in welcher Gefahr er schwebte. Was passierte, wenn der Mann bewaffnet war? Schließlich hatten sie es mit einem Irren zu tun, der ohne Skrupel mit dem Leben von unbescholtenen Bürgern spielte. Hätte er auf seine Inge hören sollen, als sie ihn bat, zuhause zu bleiben? Nein. Er hatte drei Kinder, von denen zwei ständig nachts unterwegs waren. Er musste nicht nur die Bevölkerung, sondern vor allem seine Kinder vor diesem Irren schützen.

7.

„Das Betonwerk hat sich endlich gemeldet. Bei dem Pflasterstein handelt es sich um ein teures Produkt, das in den letzten drei Jahren an nur zwölf Kunden ausgeliefert wurde.“ Werner war aufgeregt, als er die Nachricht bekam. Was das die Spur, die sie zu dem Verrückten führte? Er war davon überzeugt, denn eine Lieferadresse auf seiner Liste war besonders interessant. „Drei Paletten wurden am vierundzwanzigsten Oktober dieses Jahres in die Landshuter Straße 12 nach Altötting geliefert,“ fügte er hinzu.

 

„Das ist nicht weit von der Adresse des Opfers entfernt,“ rief Leo überrascht. „Das ist doch kein Zufall!“

Werner zögerte. Konnte es tatsächlich wahr sein, dass das vermeintliche Zufallsopfer doch keines war? Auch Krohmer zweifelte daran, obwohl die Nähe dieser Lieferadresse sehr merkwürdig war.

„Ich fahre zu dieser Adresse und sehe mich dort um,“ sagte Tatjana. „Wer möchte mich begleiten?“

„Ich,“ rief Leo viel zu schnell für Hans, der gerne mitgefahren wäre.

„Gut. Sehen Sie sich in der Landshuter Straße um und befragen Sie alle Nachbarn,“ sagte Krohmer, der heute bisher von einem Anruf des Staatsanwaltes verschont wurde. „Aus der Zeitung habe ich entnommen, dass übermorgen die Beerdigung stattfindet. Ich gehe davon aus, dass Sie alle teilnehmen?“

„Selbstverständlich. Wir werden jede Person fotografieren und unter die Lupe nehmen,“ sagte Hans, der bereits entsprechende Anweisungen an einen Kollegen weitergegeben hatte.

„Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion. Staatsanwalt Eberwein wird der Beerdigung als Freund der Familie beiwohnen. Wir dürfen dort nicht negativ auffallen.“

„Wir tun unser Bestes. Sie können sich auf uns verlassen.“

Tatjana Struck war sehr wortkarg. Sie mochte Leo, fürchtete sich aber vor seiner direkten Art. Bisher hatte er kein einziges Wort gesagt, was ihr tierisch auf die Nerven ging.

Leo hatte viele Fragen, hielt sich aber zurück. Er beobachtete seine Kollegin, die eine Zigarette nach der anderen rauchte. Sie hatte das Fenster geöffnet und im Wagen war es eiskalt. Ihm war gestern bereits aufgefallen, dass sie stark abgenommen hatte, was irgendwie nicht zu ihr passte. Was ihm nicht gefiel, waren die harten Züge um ihren Mund, ihr Blick, ihre schnippischen Bemerkungen und die zurückhaltende Art, wenn man ihr zu nahe kam. Er hatte beobachtet, wie sie sich jeder Annäherung entzog.

„Nun frag schon,“ sagte Tatjana schließlich.

Dann sprudelten die Fragen aus Leo heraus, er wollte jedes Detail des damaligen Vorfalls wissen.

Tatjana stöhnte laut auf und zündete sich die nächste Zigarette an. Sie hatte mit vielen Fragen gerechnet, aber nicht mit dieser Flut. Sie kannte Leo sehr gut. Er würde in Zukunft so lange nachbohren, bis er alles wusste. Also gab sie nach und entschied, seine Neugier zu befriedigen.

„An den Schuss und was danach geschah, kann ich mich nicht mehr erinnern. Nachdem ich aufgewacht bin, waren die Schmerzen kaum auszuhalten. Aber viel schlimmer waren die traurigen, mitleidigen Blicke meiner Eltern, Freunden und Kollegen. Ich fühlte mich so, als müsse ich allen helfen, mit dem Geschehen und den Folgen fertig zu werden. Es wäre sehr viel einfacher für mich gewesen, wenn ich keine Besuche bekommen hätte. Warum hat man mich nicht einfach in Ruhe gelassen.“ Das klang hart, war aber die Wahrheit. Diese Blicke würde sie nie wieder vergessen.

Leo ging auf die letzte Bemerkung nicht ein. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, sie zu besuchen und davon hätte ihn niemand abbringen können, nicht einmal Tatjana selbst.

„Hast du die Unterlagen den Fall betreffend gelesen?“

„Nein.“ Natürlich hatte sie sie gelesen, sogar sehr oft. Sie wusste jedes kleine, ekelhafte Detail. Warum sollte sie mit Leo darüber sprechen? Damit sie noch einmal damit konfrontiert wurde? Nein. Das gehörte alles der Vergangenheit an und sie wollte nicht daran erinnert werden.

Leo deutete die Stille falsch. Sollte er sie informieren? Hatte sie nicht ein Recht darauf, alles zu erfahren?

„Du weißt echt nichts mehr? Du kannst dich nicht daran erinnern, dass auf dich geschossen wurde?“

„Nein. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe. Die Sache ist für mich erledigt.“

„Ich könnte dir erzählen, was passiert ist.“

„Nein! Schluss damit! Ich möchte nichts darüber hören, hast du mich verstanden? Die Sache ist abgehakt und ich will nie wieder damit konfrontiert werden.“

„Das ist nicht gut, das gefällt mir nicht.“

„Was soll gut daran sein, wenn ich mich daran erinnere und mich damit auseinandersetze? Ich bin froh, dass es ist, wie es ist.“

„Es ist wichtig, um damit fertig zu werden. Du musst dich daran erinnern, um es zu verarbeiten.“

„Wer bist du? Mein Therapeut? Mein Vater? Ich komm schon klar, kümmere dich um deinen eigenen Kram. Was ist mit dir? Warum hast du nach Viktoria keine neue Frau gefunden? Was stimmt nicht mit dir?“

Leo lag eine Antwort auf der Zunge, aber er nahm Rücksicht auf Tatjana und das, was sie erlebt hatte. Warum musste er sich immer vor allen und jedem rechtfertigen, was sein Privat- und Liebesleben anbelangte? Er hatte sich ein paarmal mit einer Frau getroffen, die er während des letzten Falles kennengelernt hatte. Aber daraus wurde nichts. Warum, konnte er sich nicht erklären. Er war ja auf der Suche nach einer Partnerin. Weshalb zog er sonst in den letzten Wochen mit Hans beinahe jedes Wochenende los und quälte sich durch Situationen, die ihm unangenehm und lästig waren?

Sie waren endlich da und die peinliche Stille zwischen Leo und Tatjana hatte ein vorläufiges Ende gefunden.

„Das ist die Nummer zwölf,“ sagte Tatjana und blickte auf den Stapel Pflastersteine, die an der Seite der frisch gepflasterten Einfahrt des hübschen, relativ neuen Einfamilienhauses lagen. Sie klingelte an der Eingangstür, an der eine perfekte Weihnachtsdekoration angebracht war. Direkt auf Augenhöhe prangte ein riesiges Messingschild: Blümmel.

Eine Frau Anfang fünfzig öffnete und lächelte Tatjana fragend an.

„Sie wünschen?“

„Struck, Kriminalpolizei. Sie sind Frau Blümmel?“

„Kriminalpolizei?“, rief sie erschrocken. „Was ist mit meinem Sohn? Was ist mit Frederik?“ Frau Blümmel war aschfahl geworden und hielt sich am Türrahmen fest.

„Wir sind nicht wegen Ihres Sohnes hier,“ sagte Leo, da Tatjana nicht reagierte. Ihr schien die Reaktion der Frau völlig gleichgültig zu sein.

„Gott sei Dank!“, flüsterte Frau Blümmel erleichtert. „Kommen Sie herein.“

Sie ging voraus und bat die beiden Kriminalbeamten in das gemütliche Wohnzimmer, in dem ein wärmendes Feuer brannte. Leo setzte sich nahe an den Kamin, da ihm sehr kalt war. Sie fuhren wegen der Raucherei seiner Kollegin die ganze Strecke von Mühldorf nach Altötting mit offenem Fenster und heute waren es weit unter null Grad. Wie immer trug Leo zu Jeans und Cowboystiefeln nur seine dünne Lederjacke, die unter normalen Umständen völlig ausgereicht hätte. Zumindest hatte er heute früh ein langärmeliges Hemd gewählt. Nicht wegen der Kälte, daran hatte er nicht gedacht. Es war nur so, dass seine T-Shirts, die er sehr liebte, alle in der Wäsche waren. Er zitterte, was lange nicht vorgekommen war. Wenn er öfter mit Tatjana unterwegs sein sollte, musste er sich wohl oder übel eine warme Winterjacke besorgen, seine alte war längst nicht mehr vorzeigbar.

Cornelia Blümmel setzte sich und sah die beiden Kriminalkommissare erwartungsvoll an. Wenn es nicht um ihren Sohn ging – warum waren sie dann hier?

„Sie haben von Patrick Zieglers Tod gehört?“

„Sicher. Der Junge wohnt nicht weit entfernt, das Unglück ist Stadtgespräch. Stimmt es, dass das kein Unfall war?“

Tatjana entschied, vorerst keine Fragen zu beantworten. Leo war überrascht. Seine Kollegin war noch nie die Freundlichste gewesen, aber so unfreundlich hatte er sie noch nie erlebt. War ihr überhaupt nicht aufgefallen, dass sie ihn nicht einmal vorgestellt hatte?

„Wir sind wegen der Pflastersteine hier, die in Ihrer Einfahrt liegen.“

„Wegen der Pflastersteine? Was ist damit? Dürfen die dort nicht liegen? Hat mich deshalb jemand angezeigt?“

„Nein, darum geht es nicht. Hören Sie zu und beantworten Sie nur meine Fragen. Wann haben Sie Ihre Einfahrt pflastern lassen?“

„Die Arbeiten begannen am neunten November und endeten am achtzehnten.“

„Und die, die im Hof liegen, sind übriggeblieben?“

„Ja. Ich bat die Firma, großzügig zu kalkulieren. Nicht, dass am Ende welche nachbestellt werden müssen und farblich nicht zu den anderen passen.“

„Wie viele Steine sind übriggeblieben?“

„Das weiß ich nicht.“

„Denken Sie nach!“

„Ich habe die Steine nicht gezählt. Woher soll ich das wissen?“

„Wie viele Steine fehlen?“

„Bitte? Mir ist doch noch nicht einmal aufgefallen, dass welche fehlen könnten. Was soll das? Warum sind Sie hier?“

„Beantworten Sie meine Fragen!“

Cornelia Blümmel war irritiert. Die unfreundliche Frau fragte Dinge, deren Sinn sie nicht verstand. Musste sie sich das gefallen lassen? Sie hatte sich nichts vorzuwerfen und wollte jetzt endlich den Grund für den Besuch der Kriminalpolizei erfahren. Sie mochte die Frau nicht und wandte sich an Leo, der ihr weit angenehmer erschien.

„Wären Sie so freundlich, mir den Grund Ihres Besuches zu erklären? Entschuldigen Sie bitte, wir wurden uns nicht vorgestellt.“

„Schwartz mein Name, Leo Schwartz. Die Pflastersteine in Ihrer Einfahrt stehen vermutlich in direktem Zusammenhang mit dem Tod von Patrick Ziegler. Es wurden mindestens drei dieser Steine von einer Brücke geworfen. Einer davon hat das Fahrzeug getroffen.“

Tatjana war sauer. Warum plauderte Leo Details aus? Warum unterhielt er sich so vertraut mit der Frau, die in ihren Augen eine Verdächtige war? Wie oft kam es vor, dass Nachbarschaftsstreitigkeiten eskalierten? Sie warf Leo einen missbilligenden Blick zu, den der aber ignorierte.

„Meine Pflastersteine? Sind Sie sicher?“

„Vermutlich. Sie haben ein sehr teures Produkt für Ihre Einfahrt gewählt, die nicht oft verkauft werden.“

„Und da ich mit diesen Steinen in direkter Nachbarschaft des Opfers lebe, ist es nur logisch, dass Sie hier sind, ich verstehe. Ich kann Ihnen versichern, dass ich nichts mit dem Tod des Jungen zu tun habe. Ich kenne die Familie Ziegler kaum. Wir grüßen uns, mehr aber auch nicht.“

„Wo waren Sie zur Tatzeit?“, unterbrach Tatjana das in ihren Augen viel zu freundliche Geplänkel. Was fiel Leo eigentlich ein?

„Zuhause.“

„Kann das jemand bestätigen?“

„Nein.“

„Und Ihr Sohn? Wo war er zur Tatzeit?“

„Frederik studiert in Hamburg. Mein Sohn war seit drei Wochen nicht mehr zuhause, was ich sehr bedauere.“ Cornelia Blümmel schien beleidigt. Sie stand auf und notierte etwas auf einem Zettel. „Hier ist die Nummer meines Sohnes. Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Sie hatte genug von der unfreundlichen Behandlung der Frau, deren Unterton sie verärgerte.

„Gibt es weitere Kinder?“

„Nein.“

„Sie waren zur Tatzeit allein zuhause? Wo war Ihr Mann?“ Tatjana ließ nicht locker.

„Mein Mann ist tot, er starb vor über einem Jahr. Ich war zur Tatzeit allein zuhause und habe niemanden, der das bestätigen kann. Mein Sohn lebt seit Monaten in Hamburg und hat mit der schrecklichen Tat nichts zu tun, das können Sie gerne überprüfen. Es mag sein, dass meine Pflastersteine in Ihren Ermittlungen eine Rolle spielen, aber weder mein Sohn noch ich haben mit dem Tod des Jungen zu tun. Jeder kann sich Pflastersteine nehmen, sie liegen in der Einfahrt, das haben Sie selbst gesehen. Befragen Sie die Nachbarn, ob jemand beobachtet hat, dass Steine entwendet wurden. Ich habe nichts dergleichen gesehen. Ich bin eine unbescholtene Bürgerin und bin erschrocken darüber, wie Sie mich behandeln. Ich bitte Sie zu gehen. Sollten Sie weitere Fragen haben, werde ich die nur noch in Beisein meines Anwalts beantworten. Auf Wiedersehen.“

Leo fühlte sich sehr unwohl, als er der Frau zunickte und an ihr vorbeiging. Hätte er mit ihr sprechen und sie beruhigen sollen? Nein. Wie sollte er die unfreundliche Behandlung Tatjanas erklären?

„Die Frau müssen wir im Auge behalten, mit der stimmt etwas nicht. Warum sonst kommt sie gleich mit ihrem Anwalt ums Eck,“ sagte Tatjana, als sie auf der Straße standen. „Beginnen wir auf dieser Seite mit den Befragungen.“

Leo hielt sich zurück, obwohl er nicht übel Lust hätte, seine Kollegin zurechtzuweisen. Er war stinksauer und folgte Tatjana, die sich offensichtlich keiner Schuld bewusst war.

Sie befragten alle anwesenden Nachbarn, was sehr mühsam war. Es gab nicht wenige, die nur widerwillig die ihnen gestellten Fragen beantworteten. Es lag auf der Hand, dass die Nachbarschaft keine gute war. Niemand schien den anderen zu kennen und die meisten wollten sich nicht äußern, sie wollten einfach nur ihre Ruhe haben. Alle, bis auf Heiderose Behrendt, die bereitwillig und erfreut die Haustür öffnete und die Ausweise der beiden ausgiebig prüfte.

 

„Kommen Sie rein, bei der Kälte müssen Sie ja völlig durchgefroren sein. Ich habe frischen Tee gemacht. Wissen Sie, mein verstorbener Mann war auch bei der Polizei, Ihre Arbeit ist mir nicht fremd. Er war bis zu seinem dreiundsechzigsten Lebensjahr im Dienst und hat bis auf einen zweitätigen Krankenhausaufenthalt nie gefehlt. Setzen Sie sich, ich bin gleich zurück.“

Leo ging zu dem warmen Kachelofen und legte seine eiskalten Hände darauf. Schon seit geraumer Zeit spürte er seine Zehen nicht mehr. Waren die überhaupt noch durchblutet? Sollte er nachsehen?

„Wir gehen,“ bestimmte Tatjana, die keine Lust auf eine geschwätzige, alte Frau hatte.

„Ich bleibe, vielleicht hat Frau Behrendt etwas gesehen. So, wie die drauf ist, entgeht ihr bestimmt nichts. Ich halte die Befragung für sehr vielversprechend.“ Dass es ihm vor allem um die wohltuende Wärme und die Aussicht auf ein heißes Getränk ging, verschwieg er lieber. „Befrag du die restlichen drei Nachbarn, ich übernehme.“

„Gut,“ sagte Tatjana und verschwand so schnell wie möglich.

„Wo ist Ihre Kollegin?“, fragte Frau Behrendt verwundert, als sie mit einem Tablett zurückkam, auf dem sich Tee, eine Zuckerdose und Kekse befanden.

„Die Arbeit ruft.“

„Erzählen Sie mir keinen Blödsinn. Ich habe gesehen, dass sie mich nicht mag. Ich habe eine gute Menschenkenntnis.“

„Ich bleibe gerne. Wenn Sie sich mit mir allein unwohl fühlen, gehe ich natürlich sofort.“

„Reden Sie keinen Unsinn, junger Mann. Sie sind viel zu leicht angezogen. Ich hole Ihnen einen dicken Pullover, der wird Ihnen guttun.“

Leo protestierte, hatte aber gegen Frau Behrendt keine Chance, sie schien ihm nicht zuzuhören. Sie verschwand und kam nach wenigen Minuten mit einem Pullover, dicken Socken und einer Winterjacke zurück.

„Ziehen Sie das an, es dürfte passen. Mein Mann war auch so groß und stattlich wie Sie. Nehmen Sie schon, nicht so schüchtern.“

Leo zog den wärmenden Pullover über und sofort fühlte er sich besser. Zögernd nahm er die dicken, selbstgestrickten Socken. Sollte er wirklich? Warum eigentlich nicht? Er zog seine Cowboystiefel aus und zog die dicken Socken über.

„Rücken Sie den Stuhl näher zum Kachelofen. Wenn sie wollen, können Sie auch gerne die Füße auf die Bank legen. Los! Machen Sie schon. Sie brauchen sich nicht genieren.“

Leo tat, was ihm die alte Dame empfahl. Die Wärme kroch langsam durch seinen Körper. Mit immer noch eiskalten Fingern umklammerte er die Tasse Tee. Wenn er jetzt noch eine Decke hätte, würde er auf der Stelle einschlafen. Er und Frau Behrendt sprachen über alle möglichen Dinge. Leo fühlte sich wohl und könnte ewig hier sitzen und plaudern. Aber dafür war er nicht hier. Er begann, Fragen zu stellen, die Frau Behrendt ausführlich beantwortete. Dann war sie am Zug.

„Sie sind wegen dem jungen Ziegler hier? Warum? Stimmt es, was die Leute behaupten? War es kein Unfall?“ Die Neugier der alten Dame war geweckt und sie rückte ein Stück näher. Leo zögerte. Durch die Wärme, die Freundlichkeit und die angenehme Atmosphäre entschied er spontan, offen zu sprechen.

„Wir stehen mit unseren Ermittlungen ganz am Anfang. Fest steht, dass der Wagen des Opfers mit einem Pflasterstein getroffen wurde, dessen Spuren wir gerade verfolgen. Deshalb befragen wir die Bewohner der Landshuter Straße.“ Leo stellte jede Menge Fragen, aber Frau Behrendt hörte nicht zu.

„Die Pflastersteine bei Blümmels! Deshalb sind Sie hier! In deren Einfahrt liegt noch ein ordentlicher Haufen davon, das habe ich gesehen.“ Ihre Augen leuchteten und sie rückte ihren Stuhl noch näher.

„Es könnte sein, dass der fragliche Pflasterstein aus dieser Quelle stammt. Haben Sie irgendetwas bemerkt? Hat sich jemand daran bedient?“

„Das ist mir jetzt sehr peinlich, Herr Kommissar. Ich habe selbst einen genommen, ich dachte mir nichts dabei. Ich habe ihn für die Kellertür gebraucht, sie läuft ständig zu. Bin ich jetzt verdächtig? Verraten Sie mich bitte nicht an Frau Blümmel. Sie ist eine sehr vornehme Dame, die sicher sehr ungehalten werden kann.“

Leo musste sich ein Schmunzeln verkneifen und bemühte sich, ernst zu bleiben.

„Soso, Sie haben also gestohlen. Das hätte ich der Gattin eines Polizisten nicht zugetraut.“

„Gestohlen würde ich das nicht nennen. Dort liegt ein ganzer Haufen, der offensichtlich nicht mehr gebraucht wird. Ich verspreche Ihnen, dass ich ihn wieder zurückbringe.“

„Ich glaube kaum, dass das nötig ist. So, wie ich Frau Blümmel verstanden habe, werden die restlichen Pflastersteine nicht mehr gebraucht und sie kann sicher einen verschmerzen. Sie haben niemanden gesehen, der sich ebenfalls daran bedient hat?“

„Nein, Ehrenwort.“

„Was können Sie mir über die Blümmels erzählen?“

„Nicht viel. Die arme Frau hat ihren Mann in so jungen Jahren beerdigen müssen. Von einem auf den anderen Tag stand die Frau mit ihrem Jungen allein da. Erst dachte ich, dass sie das riesige Haus nicht allein halten kann, aber offenbar fehlt es nicht an Geld. Vor einem halben Jahr hat sie das Haus streichen lassen, was an für sich schon ein Heidengeld gekostet hat. Und dann noch die Hofeinfahrt, die sie von einem Fachmann hatte pflastern lassen. Ich könnte mir das mit meiner schmalen Rente nicht leisten. Frau Blümmel und ihr Sohn leben sehr zurückgezogen, wie fast alle hier. Früher war das anders. Da kannte und sprach man miteinander. Es gab sogar Zeiten, in denen man gemeinsam gefeiert hat. Ja, das ist lange her. Seit zwanzig Jahren verschwinden immer mehr der alten Nachbarn. Häuser werden verkauft, vererbt und Grundstücke neu bebaut. Namentlich kenne ich alle Nachbarn, aber persönlichen Kontakt gibt es nur noch sehr selten. Die Blümmels haben das Haus vor sechs Jahren von der alten Krautwein gekauft, die zu ihrer Tochter ins Allgäu gezogen ist. Man hat gleich gesehen, dass die Familie etwas Besseres ist. Dann starb Herr Blümmel vor einem Jahr, ich erfuhr es damals aus der Zeitung. Ich weiß bis heute nicht, woran er starb.“

„Was ist mit Frederik Blümmel?“

„Ich habe ihn als ruhigen, höflichen Buben wahrgenommen. Soweit ich weiß, ging er sogar aufs Gymnasium. Ja, das ist ein ganz gescheites Köpfchen, aus dem wird mal was, so etwas spüre ich. Was er heute macht, weiß ich nicht. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Er studiert, gell?“

Leo nickte und sah auf die Uhr. Er spürte, dass Frau Behrendt noch jede Menge Fragen hatte, aber die Zeit drängte. Tatjana war sicher schon längst mit ihren Befragungen durch und er fürchtete ihre schlechte Laune. Frau Behrendt war das egal. Sie hatte endlich jemanden gefunden, mit dem sie sich unterhalten konnte. Die Einsamkeit war für sie unerträglich.

„Sie kennen die Familie Ziegler?“

„Sicher, wer kennt die nicht. Paul Ziegler ist ein Gschaftelhuber, der überall seine Nase drin hat. Wie oft er für den Stadtrat kandidiert hat, kann ich nicht mehr zählen. Jedes Mal ist er gescheitet, aber er gibt nicht auf. Ich befürchte, dass er es irgendwann doch noch schafft. Der Herr möchte hoch hinaus. Die Ämter, die er in verschiedenen Vereinen innehat, reichen ihm nicht aus. Ein unsympathischer Mensch, der seine Familie tyrannisiert. Frau Ziegler hat weiß Gott einen besseren Mann verdient. Sie war früher eine sehr hübsche Frau. Seit sie mit diesem Kotzbrocken verheiratet ist, wirkt sie von Jahr zu Jahr verhärmter. Und jetzt auch noch das Unglück mit ihrem Buben. Wie kann eine Mutter das ertragen?“

„Was wissen Sie über Patrick Ziegler?“

„Er war ein sehr netter Bub, der zum Glück nicht nach seinem Vater geriet. Höflich und gescheit wie seine Mutter. Was für ein Unglück, dass ein so junger Mensch sterben musste.“ Dann machte sie eine Pause. Leo spürte, dass ihr noch etwas auf dem Herzen lag. „Einmal habe ich gesehen, wie sich Patrick und eines der Deml-Mädels geküsst haben,“ fügte sie hinzu und lächelte. „Das hat mich überrascht. Die Familie Deml passt nicht zu den Zieglers. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Paul Ziegler diese Verbindung geduldet hätte, zumal das Mädl viel zu jung für den Buben war.“ Noch nie hatte sie jemandem davon erzählt. Warum auch? Das ging sie nichts an.

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