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Narzissten in Weiß

Da gibt es diesen angesehenen amerikanischen Neurochirurgen Frank Vertosick. Kein Neurochirurg würde zugeben, seine Bücher gelesen zu haben. Denn der schreibt nicht nur spannend und aufschlussreich über Patienten und Operationen. Er befasst sich auch kritisch mit dem Fach selbst. Er charakterisiert seine Protagonisten so treffend, dass sich jeder Neurochirurg, dem es an Selbstironie mangelt, und das ist bei neunundneunzig Prozent von ihnen der Fall, geschmäht fühlen muss. Vertosick beschreibt die Neurochirurgen als die Looser in der Kindheit, die, die immer geprügelt und am Spielplatz verarscht wurden. Die, die in der Highschool später die pickligen Idioten waren, die nie eine Freundin oder auch nur ein Date hatten. Die Weicheier, die Warmduscher, die Beckenrandschwimmer, die Streber. Erst nach einigen Jahren Misere in der Neurochirurgie habe ich begonnen, die Psychopathologie dieser Leute zu verstehen. Meine Psychiaterin hat mir viel erklärt. Diese ständigen Kränkungen in der Kindheit haben aus sehr vielen von ihnen Narzissten unterschiedlicher Ausprägung gemacht. Narzissmus ist eine der charakterlichen Grundstrukturen der Neurochirurgen. An dieser Spezies Mensch können wir allerdings auch große Anteile der gesamten Psychiatrie studieren.

Neurochirurgen nehmen ihre Umwelt einfach nicht wahr. Sie schreiten über sie hinweg. Jeder Neurochirurg muss der Beste sein. Er interessiert sich nie für andere Fächer. Er könnte nie Pathologe oder Urologe sein. Das wäre für ihn zu wenig Prestige. Er muss Hirnchirurg sein. Zur Not käme noch Herzchirurg infrage, aber Hirnchirurg ist besser. Den Schädel eines Menschen zu öffnen, der sich ihm ganz und gar anvertraut, und darin etwas zu tun, hat etwas Gottgleiches. Das trifft sich perfekt mit der Selbstwahrnehmung eines Neurochirurgen.

Der Neurochirurg glaubt an das Image seines Faches. Ein Eingriff in den Schädel, das klingt ja schon so interessant, und es hat auch etwas mit Nervenkitzel zu tun. Dazu kommt der Kick des Risikos, das Spiel mit den Schicksalen, die sich unter den eigenen Händen entscheiden. Das Gehirn ist mit Abstand das komplizierteste Organ, und wer einmal die topographischen Bilder des Gehirns, Bilder der Funktionsfelder und des Gefäßsystems gesehen hat, kann die Komplexität nur erahnen. Dazu kommt, dass das Nervengewebe sich nicht regenerieren kann. Dadurch ist es, wenn es einmal angekratzt ist, gleich immer irreparabel geschädigt, und der betreffende Patient kann nicht mehr sprechen oder ist vollkommen gelähmt. Das Gehirn ist nun einmal extrem fragil.

Die schwierigsten Fälle, die kompliziertesten Eingriffe und die längsten Operationen sind dem Neurochirurgen gerade gut genug, um sich zu beweisen und glänzen zu können. Der Neurochirurg sieht Patienten als Mittel zu diesem Zweck. Den Zugang vieler Ärzte, anderen Menschen helfen zu wollen, kennt er nicht. Ihn interessiert neben seiner Karriere im bestenfalls noch die Krankheit, aber sicher nicht der Mensch, der sie hat. Wenn sich ein Neurochirurg karenzieren lässt und unentgeltlich zum Beispiel in Vietnam operiert, dann ist das garantiert auch wieder nur eine Prestigesache. Auf Facebook zeigt er sich dann umgeben von lachenden, ehrerbietenden Kindern. Er darf dort den ganzen Tag operieren was er will, muss sich mit niemandem um die Operationen streiten und kriegt dabei Fälle zu sehen, die er in Europa in diesen Ausprägungen niemals vor das Mikroskop bekäme. Ein Paradies.

Die Bilder von den Fehlbildungen und Tumoren zeigt er dann bei internationalen Kongressen an der Riesenleinwand. Darum geht es ja, um die geilen Operationen, um die Ausbeute. Die vietnamesischen Patienten sind ihm ja in Wirklichkeit ebenso scheißegal, wie die in Europa. Und dann zeigt er noch haufenweise Bilder von sich selbst, dem kleinen, widerlichen, neurochirurgischen Fettsack, neben den dankbaren Kindern und Eltern. Ich könnte heute noch kotzen, wenn ich nur daran denke.

Alle anderen Neurochirurgen sieht er als Konkurrenten, denen er im Prinzip Operationen nur dann zugesteht, wenn er persönlich gerade nicht Dienst oder keine Zeit hat, weil er einen wichtigeren und prestigeträchtigeren Fall operiert.

Die Gedankengänge dabei sind simpel. Arzt ist schon mal super, denkt er sich, und inskribiert nach dem Schulabschluss Medizin. Unter den ärztlichen Berufen findet er Hirnchirurg richtig geil, weil das am meisten Prestige bringt, also entscheidet er sich dafür. Mit welcher Lebensqualität das einhergeht und welche Kollegen er kriegt, ist ihm egal. Das Defizit in seiner Persönlichkeit ist groß genug, um das alles in Kauf zu nehmen.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Doch die meisten Neurochirurgen sind Würstchen. Sie sind Männer, die schon als Kinder am Spielplatz die Verlierer waren, die grauen Mäuse, die immer Außenseiter sind. Eines Tages denken die dann, na wartet, euch werde ich es zeigen, irgendwann mache ich einen tollen Job und dann ändert sich alles.

Es ist schon komisch, dass die Neurochirurgen, die ich kenne, fast alle ziemlich klein sind. Klein und eigentlich hässlich. Traummänner gibt es auf der Neurochirurgie keine, die sind dort unmöglich zu finden. Ich glaube, ich hatte tatsächlich kaum richtig gut aussehende Kollegen. Weit entfernt von den Typen aus „Emergency Room” oder „Gray’s Anatomy”. Kein Wunder, die hätten die Neurochirurgie auch nicht nötig. Je kleiner der Penis desto größer und komplizierter muss der Tumor sein, den ein Neurochirurg rausschneiden will. Der Satz ist zwar alt, aber wohl wahr.

Neurochirurgen stehen auf Maturajubiläen. Die sind ihnen so wichtig, dass sie dafür sogar auf eine Prestige-Operation verzichten. Denn sobald alle davon reden, was denn so aus einem geworden ist, können sie endlich einmal richtig auftrumpfen.

Dass sie jetzt Neurochirurg sind, macht es für sie wieder gut, dass sie schon in der Sandkiste immer nur von den anderen in die Fresse gekriegt und in der Schule nie einen freiwilligen Sitznachbarn gefunden haben, von den Mädchen geschmäht und beim Fußball immer als letzter in die Mannschaft gewählt wurden. Das ist ja das Gemeine: Aus den Armen werden die Schrecklichen. Narzissten entstehen oft aus Mangel an Wertschätzung, Liebe und Bestätigung in der Kindheit, und sie merken es nicht, weil sie keinen Hang zur Selbstreflexion haben.

Es geht immer um ihr Ego, angefangen bei der Morgenbesprechung. Die beginnt mit dem Gezänk, wer wo am Besprechungstisch sitzt, am Kopfende mit direktem Blick auf den Monitor mit den Operationsbildern vom Vortag, oder auf der schmalen Bank zwischen den Zimmerpflanzen und dem Büroschrank, von der schon mal ein übermüdeter Kollege im Sekundenschlaf abstürzt. Es gab Ärzte, die sich gar nicht an den Tisch setzen wollten, entweder, um nicht mit solchen Leuten an einem Tisch zu sitzen, oder aus Angst, durch Beschimpfungen von jemandem vertrieben zu werden, dessen Platz sie zufällig besetzt hätten. Dass Neurochirurgen nicht hinpinkeln, um „ihren” Sessel zu markieren, grenzt schon an ein Wunder.

Ihr Ego schwächt allerdings das System: Eine Revolution in der Neurochirurgie war zum Beispiel das Medikament Gliolan. Wenn Patienten es vor der Anästhesie einnehmen, lässt es den Tumor während der Operation bei entsprechenden Lichtverhältnissen rot leuchten. Die Operateure erkennen dadurch noch genauer die Grenzen des Tumors und können so leichter gesundes von krankem Gewebe unterscheiden.

So gab es einen Lastwagen voll Literatur darüber, dass die Ergebnisse bei der Operation von Gehirntumoren unter Einsatz dieses Medikaments viel besser werden. Doch bei einer Tumoroperation mit Einsatz dieses Medikamentes muss ein Arzt zugegen sein, der die entsprechende Ausbildung zur Anwendung von Gliolan gemacht hat. Einer meiner Oberärzte hatte sie nicht absolviert und verweigerte den Einsatz des Medikamentes lieber, als Ärzten Zutritt zum Operationssaal zu gewähren, die ihm etwas voraus hatten. „Jeder Trottel sieht doch, wo die Grenzen eines Tumors sind“, meinte er lapidar. Dabei war gerade er einer von den neurochirurgischen Pfuschern, die mit ihrer bewährten „Staubsauger”-Technik immer viel zu viel gesundes Gewebe wegsaugten und dabei jede Menge neurologischer Defizite verursachten. Auch in seinem Fall hätte die Neurochirurgie dazu dienen sollen, mit den erbärmlichen Füßchen in die viel zu großen Fußstapfen seines Vaters zu treten.

Doch die eigenen Fehler nehmen die Neurochirurgen nicht wahr. Ihrer Natur folgend ergötzen sie sich lieber an den Fehlern der anderen. Sichtbar wird so ein Fehler etwa, wenn während einer Operation Blut spritzt. Neurochirurgen ist ihre Zeit nie zu schade, sich den Videomitschnitt von der schlecht verlaufenen Operation eines Kollegen zu holen und sich die Bilder genüsslich anzusehen. Dabei rühren sie in ihrem Kaffee und murmeln vor sich hin. „Mein Gott, was für eine Sauerei.“ Oder: „Habt Ihr das gesehen? Da ging ja nun wirklich alles daneben.“

Einer, der beruflich in anderen Gehirnen herumstochert, ist sich irgendwann nicht mehr ganz sicher, was in seinem eigenen abgeht. Deshalb haben Neurochirurgen eine Tendenz zur Hypochondrie. Ich hatte einen Kollegen, der sich alle sechs Wochen eine Magnetresonanz machen ließ. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Alle sechs Wochen ein Schädel-MR. Einmal meinte er, er hätte ein Aneurysma, also eine Blutgefäßerweiterung. Wenig später vermutete er einen Tumor in seinem Schädel und dann wieder eine Gefäßmissbildung. Wir waren uns alle einig. Das würde bei ihm so lange weitergehen, bis er irgendwann wirklich etwas hatte.

Eine Kleinigkeit, die jeder einem Neurochirurgen gerne verzeiht. Schließlich leidet er nur selbst darunter. Schwerwiegender für das System ist es da schon, dass sie es durch ihren Stil bei der Nachbesetzung frei werdender Jobs schwächen. Grundprinzip: Flaschen sind ihnen immer willkommen, besonders dann, wenn sie mit deren Bestellung jemandem einen Gefallen tun, der ihnen später auch mal helfen kann. Gute Leute hingegen rennen sich den Kopf an. Die Neurochirurgen können nicht mit denen, die gefühlt die sind, die ihnen in der Sandkiste eine reingehauen, beim Fußball die Tore geschossen und die Mädchen gekriegt haben. Sie brauchen keine Menschen, die lernen und sich verbessern wollen oder die schon richtig gut sind, sie brauchen artige Sklaven, die über einen Piepser für sie jederzeit für die niedrigsten Dienste abrufbar sind.

 

„Erzählen Sie uns für den Anfang bitte einmal, warum Sie Neurochirurgin werden wollen“, sagte einer meiner Chefs einmal bei einem Hearing, bei dem ich ebenfalls zugegen war.

Die Kandidatin wirkte kompetent und engagiert. Wäre eine neurochirurgische Abteilung ein eigentümergeführter Betrieb, in dem es um Leistung und Servicequalität für Kunden, in unserem Fall für Patienten, geht, hätte sie den Job gekriegt. Selbstbewusst und sehr gut vorbereitet hatte sie mit dem Computer unter dem Arm den Raum betreten. Sie wollte Assistenzärztin werden und würde bestimmt eine gute abgeben.

Bei einem Neurochirurgen, also auch bei meinem damaligen Chef, kommt so etwas gar nicht gut an. Sie hören nur die eine Botschaft, vor der sie am allermeisten Angst haben: „Ich werde gut sein, vielleicht bald mal besser als du.”

Mein Chef entschied sich für die Strategie, ihr den Job, den sie so gern wollte, madig zu machen. Ehe sie zu Wort kam, machte er ihr durch die Blume klar, dass sie damit rechnen müsse, als bessere Krankenschwester eingesetzt zu werden. „Sie wissen ja, dass Sie bei uns nur einen ganz kleinen Bereich der Neurochirurgie kennenlernen werden“, sagte er.

Derlei greift aber bei potenziellen Leistungsträgern nicht. Die gehen davon aus, dass sie alles über Leistung so ändern können, dass es für sie passt.

„Das macht nichts“, sagte sie.

„Sie wissen auch, dass die Gehälter der Assistenzärzte gerade empfindlich gekürzt wurden.“

Auch kein guter Versuch. Welchem künftigen Leistungsträger geht es schon um Geld? Das Geld, so etwas wissen diese Menschen, kommt irgendwann von selbst.

„Das weiß ich“, sagte sie.

Also nahm er ihr die Zukunftsperspektive. „Wir können Sie nach Abschluss Ihrer Ausbildung nicht verlängern.“

Das ist einer zukünftigen Leistungsträgerin auch egal. Bei mir wird alles anders sein, denkt sie.

„Das stört mich nicht“, sagte sie.

Sie erinnerte sie mich in dem Moment an mich selbst, als ich angefangen hatte. Ich hatte auch gedacht, durch grenzenloses Engagement würde ich die Welt niederreißen und alles schaffen können. Gott, was war ich naiv. Die Bewerberin kam auch weiterhin nicht dazu, zu erklären, warum sie eigentlich unbedingt Neurochirurgin werden wollte. Denn leicht verzweifelt wandte er sich an mich. „Frau Kollegin“, sagte er, „möchten Sie als Frau der Kollegin etwas sagen?“

Ich hatte keine Lust auf sein dummes Spiel. Die Bewerberin hatte sowieso keine Chance. Die meisten neurochirurgischen Abteilungen suchen Bewerber ohne Charakter und ohne Willen zum selbstständigen Denken, weil sie das manipulierbar macht. Sie sollen nichts hinterfragen und fleißig arbeiten. Vorkenntnisse sind nicht gerne gesehen. Es gab zwei Flaschen mit Beziehungen, die gab es immer, und eine würde das Rennen machen.

„Ich möchte etwas fragen“, sagte ich. „Es interessiert mich, warum jemand mit Potenzial eine neurochirurgische Ausbildung machen möchte, wenn er A nichts dabei lernt, B wenig verdient, C hinterher gekündigt und D mit seiner schlechten Ausbildung auf den Arbeitsmarkt entlassen wird.“

Die Bewerberin war konsterniert und mein Chef bat mich bei Bewerbungen nie wieder um einen Kommentar.

Die nächste Bewerberin empfing er mit einem Lächeln. Kein Laptop unter dem Arm, mädchenhaft, leicht geduckte Körperhaltung, schlecht sitzendes Kostüm, die Haare straßenköterblond. Nickelbrille. Eine, die in der Vorlesung immer in der ersten Reihe gesessen war. Von der Haltung her eine Dienerin. Ich wusste es nicht genau, aber ich vermutete, dass sie eine der beiden Flaschen auf seiner Shortlist war.

„Warum wollen Sie Neurochirurgin werden?“, fragte er sie.

„Wissen Sie, ich habe bis jetzt im Labor gearbeitet und ich stelle es mir so schön vor, mit Patienten zu arbeiten.“

Ich hielt sie für komplett bescheuert, aber sie bekam den Job.

Ich erinnere mich auch genau an die Situation, als mein zweiter Mann einmal an der Klinik einen der Oberärzte traf. Es war ein heißer Sommertag, und mein Mann war am Weg ins Schwimmbad. Er war braungebrannt, muskulös, groß und trug coole Shorts mit Riesen-Ananas. Als der Neurochirurg ihn sah, zuckte er zunächst richtig zusammen, als ob er ein Gespenst gesehen hätte. Den Blick, den er aber dann aufzog, werde ich nie vergessen, so viel abgrundtiefen Hass sieht man selten. Denn das war genau so einer, der ihn, den kleinen fetten Streber, früher ordentlich verarscht hatte.

Seither weiß ich, dass es nicht nur Liebe auf den ersten Blick, sondern auch Hass auf den ersten Blick gibt. Da der Neurochirurg wusste, dass mein Mann Medizin studierte, konnte er sich nicht einmal damit trösten, dass er ihm intellektuell überlegen war. Aber eines ist ganz klar, auch wenn er ein Diplom von Harvard oder Yale und zwanzig Publikationen gehabt hätte, hätte mein Mann niemals eine Stelle an einer Neurochirurgie bekommen. Denn solche Leute wären eine ständige Traumatisierung und eine wandelnde Provokation für die erwachsen gewordenen Looser der Kindheit. Wieso die Neurochirurgie der stärkste Magnet für Narzissten ist, habe ich schon beschrieben. In einem Gesundheitswesen, das Ärzte auf eine Stufe mit Gott stellt und das Typen anzieht, die diese Stellung brauchen, ist in der allgemeinen Wahrnehmung das Fach Neurochirurgie das göttlichste.

Es gibt sie auch in allen anderen Fächern, unter den Internisten, unter den Gynäkologen, unter den plastischen Chirurgen und sogar unter den Zahnärzten. Aber vor allem gibt es sie bei den Neurochirurgen. Denn der Neurochirurg übt seine Macht noch universeller aus, als die Mediziner aller anderen Fachrichtungen. Er öffnet einen Schädel und tut etwas damit. Es ist für ihn der ultimative Kick. Die Wirkung von Kokain ist ein Dreck dagegen.

Zusammengefasst heißt das, will ein Neurochirurg Sie operieren, dann nehmen Sie Ihren Infusionsständer und rennen Sie, solange Sie noch können. Und da haben wir erst von den Charaktermerkmalen der Neurochirurgen gesprochen, und noch gar nicht von ihrer Ausbildung, ihrer Überlastung, ihren Drogenproblemen und all den anderen Dingen. Das kommt noch.

Und ich?

Je länger ich dabei war, desto mehr wurde ich zu einem Störfaktor in diesem System. Jemand, der nicht dazu passt.

Zwei Sätze, die gut klingen, wenn ich sie so hinschreibe, und die meinem Ego schmeicheln, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie auch stimmen. Meine Psychiaterin meint, ich habe sicher auch narzisstische Anteile, aber das muss ja nicht immer negativ sein. Im positiven Sinne sind das Leute, die es einfach angemessen finden, einen guten Job, schöne Kleidung, eine tolle Wohnung und ein ausgeglichenes Privatleben zu haben. Die finden, dass ihnen das auf jeden Fall zusteht, vielleicht noch mehr als anderen. Der Übergang zum pathologischen Narzissmus ist dann allerdings fließend und nicht immer erkennbar.

Ich gebe zu, dass auch mein erster Gedanke an ein Medizinstudium nicht nur von Selbstlosigkeit und Hingabe geprägt war. Mir war ja als Kind immer schon aufgefallen, dass alle meine Freundinnen mit Arzt-Eltern Pferde hatten, da gab es Ferienhäuser in Spanien und Swimmingpools und Tennisplätze im Garten. Seit ich fünfzehn bin, habe ich mir dann jeden Monat die „Vogue” gekauft. „Warum kaufst du dir diese blöde Zeitschrift, da sind nur Designersachen drinnen, die wirst du dir sowieso nie leisten können!”, sagte meine Mutter immer. „Komm endlich von deinem hohen Ross herunter.” Gott, was habe ich diesen Spruch gehasst. Ich wusste aber, dass ich mir diese Sachen irgendwann leisten wollte, also wollte ich einen lukrativen Job, das war ganz klar.

Wir waren als Kinder im Sommer immer im Strandbad am Wörthersee. Da gab es so einen speziellen Milchreis, mit frischen Früchten, mit Erdbeeren, Himbeeren und Waldbeeren. Ich habe den nie bekommen, „viel zu teuer” haben meine Eltern immer gesagt. Ich habe ihn vielleicht zweimal im Leben gegessen, wenn meine Oma mit war und ihn mir gezahlt hat. Und wenn wir nach Grinzing zum Heurigen gefahren sind, hat meine Mutter gesagt, da sind die Villen von diesen reichen Arschlöchern. Ich dachte mir, ich möchte einmal so ein reiches Arschloch sein. Und mir so viel Beeren-Milchreis kaufen, wie ich will. Wahrscheinlich habe ich also einfach deswegen Medizin studiert … – Nein, die ursprüngliche Intention war schon, diesen Beruf erlernen zu wollen, Menschen helfen zu können, die Operationen bestens ausführen zu können. Aber eben auch, ein sorgenfreies Leben zu haben, insbesondere durch den finanziellen Hintergrund.

Aber weit gefehlt, vollkommen falsche Entscheidung, das sind einfach andere Zeiten gewesen, vor zwanzig oder dreißig Jahren. Unsere heutige Generation von Ärzten, mit der heutigen Bezahlung, ist komplett anders. Da gibt es jetzt nur mehr Bankrott, Mahnungen und gesperrte Konten.

Inzwischen kommt es sogar vor, dass ein Chefarzt den Ärzten monatliche Sonderklassengelder nicht ausbezahlt, wenn sie gerade in Urlaub sind, und hofft, dass das nicht bemerkt wird. Und da geht es um Summen wie hundert Euro, wie lächerlich ist das denn?

Am Gymnasium war ich dann auch immer ein Störfaktor, genauso wie später an der Neurochirurgie. Mit siebzehn war ich schwer verliebt in meinen Freund, der bereits studierte. Ich hing immer mit ihm vormittags in den Cafés ab und hatte infolgedessen sehr schnell das freiwillige Vorlesungssystem der Universität auf die Schule übertragen. Was bedeutete, dass ich nur mehr für die Hauptgegenstände in die Schule kam, und dabei vorzugsweise für Mathematik. Meine Fehlstunden explodierten, die Schulnoten fielen in den Keller. Als meine Eltern mir Hausarrest verpassten, stieg ich nachts aus dem Fenster, um meinen Freund zu sehen. Mein Vater nahm mich aus dem Gymnasium. Zur Strafe steckte er mich in die Krankenschwesternschule. Bereits nach drei Monaten begann ich, für die Externistenmatura zu lernen, weil mir klar war, dass ich das nicht mein Leben lang machen würde. Respekt vor den Krankenschwestern, aber für mich war das nichts. Zu wenig Geld und dafür zu viel rumgeschubst werden. Also machte ich die Matura und studierte Medizin. Das schien mir eine realistische Aussicht auf einen gehobenen Lebensstil zu bieten.

Während des Studiums bemerkte ich, dass mir Sezieren Spaß machte. Ich hatte die Geduld, ewig an den Gefäßen und Nerven zu präparieren, damit konnte ich mich für Stunden beschäftigen. Also Chirurgie.

In den Sommerferien arbeitete ich während des Studiums weiter als Schwester in einem Krankenhaus und verliebte mich in einen Patienten. Er lag auf der neurochirurgischen Station. Wegen einer Zyste und wegen epileptischer Anfälle.

Die Ärzte schickten ihn mit Medikamenten gegen die Anfälle wieder nach Hause. Ich fischte mir seine Daten aus dem Computer und schrieb ihm einen unverfänglichen Brief: „Hey, wie geht’s? Wir haben uns im Krankenhaus kennengelernt. Melde dich doch mal.”

Wir verliebten uns und heirateten sehr schnell, es war zunächst eine sehr schöne und unbeschwerte Zeit. Jedoch hörten seine epileptischen Anfälle trotz der ganzen Medikamente nicht auf. Die Ärzte entschlossen sich zu einer Operation. Dabei fanden sie leider keine Zyste, sondern einen Hirntumor. Der Tumor meines Mannes hatte den Grad zwei bis drei. Das ist sozusagen die Grauzone zwischen gutartig und bösartig und legt eine Bestrahlung nahe.

Mein Mann wollte seine Krankheit nicht wahrhaben. Also musste ich mich allein damit befassen. Als ich alles darüber nachgelesen und begriffen hatte, dass der Tumor nach der Bestrahlung sehr wahrscheinlich wiederkommen würde, heulte ich zwei Tage lang ununterbrochen. Auch deshalb, weil ich gerade mit Zwillingen schwanger war und mich meine Familie mit meinem Wissen allein ließ.

„Unmöglich“, sagte meine Mutter. „Er stirbt nicht. Er sieht so gesund aus und er kriegt ja jetzt Kinder.“

Kurz nach meinem Studienabschluss, als die Zwillinge schon auf der Welt waren, musste bei meinem Mann eine zweite Operation durchgeführt werden, da der Tumor nachgewachsen war. Der behandelnde Neurochirurg meines Mannes führte mich in sein Büro. „Es ist jetzt ein sehr bösartiger Tumor, Grad vier“, sagte er. „Ihr Mann lebt nicht mehr lange. Er kann gerade noch das Notwendigste erledigen.“

 

Ich fragte mich in diesem Moment nur, was er denn regeln sollte, schließlich waren wir keine Millionäre, die schnell noch fünf Millionen von da nach dort schieben mussten. Immerhin war ich aber darauf vorbereitet gewesen, was mir in den nächsten Monaten bevorstand. Später, als ich selbst in der Neurochirurgie arbeitete, wurde mir klar, dass dieser Arzt noch sehr menschlich gehandelt hatte und ein guter Neurochirurg gewesen war. Die Neurochirurgen, die ich danach kennenlernte, ließen solche Hiobsbotschaften mal eben während der Visite am Fußende des Bettes fallen, und ehe die Patienten richtig kapierten, was sie eben gehört hatten, waren sie schon wieder weg.

Ich hatte Studienkollegen, die auch in der Chirurgie Praktika gemacht und dort gesehen hatten, wie den Patienten bei der Visite oder sogar am Gang ihre schweren Diagnosen, ihre Todesurteile sozusagen, mitgeteilt wurden. Viele Studenten sagten danach, sie würden niemals in die Chirurgie gehen wollen, denn sie wollten nicht zu solchen Monstern werden.

Der Tumor meines Mannes war also inzwischen bis zu Grad vier fortgeschritten, ein so genanntes Glioblastom. Das bedeutete, dass er noch rund sechs Monate zu leben hatte, eine Prognose, die dann auch ziemlich genau zutraf.

Ich verlor in dieser Phase eine Menge Illusionen über Menschlichkeit und Liebe, über Not und Nähe, über das Dasein für einander, über das „bis der Tod euch scheidet“ und über mich selbst. Zwischen dem Hoffen und dem Verdrängen meines Mannes, in einer Zeit, in der Zukunftsplanung für mich zu einem Tabuthema wurde, fingen wir schrecklich zu streiten an. Wir trennten uns sogar noch, ehe er in einem deutschen Pflegeheim starb.

Ich hatte dabei gelernt, wie wenig in unserer Gesellschaft Leben und Tod zusammenpassen. Meine Lebenssituation hatte mich unter meinen Studienkollegen zur unwillkommenen Person gemacht. Wenn ich mit einigen von ihnen bei einem Glas Wein saß und ihnen von mir erzählte, sah ich sie danach höchstens noch aus der Ferne an der Uni. Ist auch ganz klar, keiner traut sich mehr über seine alltäglichen Probleme zu reden. Die Leute kommen sich blöd vor, wenn sie über ihr Übergewicht, einen vertrottelten Professor oder einen Artikel in einer Zeitschrift diskutieren, und es sitzt jemand daneben, der denken könnte, wie unnötig und oberflächlich solche Gedanken sind. Aber gerade in schwierigen Lebenssituationen wäre genau so etwas mal notwendig. Denn die Gespräche mit meinem Mann, das war immer wie ein Tanz auf einem Minenfeld. Nächstes Weihnachten, nächstes Ostern, das durfte ich alles nicht ansprechen, wir wußten ja nicht, ob er nicht möglicherweise im Krankenhaus ist. Nächster Sommerurlaub, den Gedanken daran bloß vermeiden. Würde er da überhaupt noch leben? Ständig kleine Messerstiche ins Herz, unbemerkt, aber doch scharf.

Gerade Ärzte tun sich manchmal schwer, mit dem Tod in ihrer eigenen Nähe umzugehen. Eine Neurochirurgin, mit der ich später im Team arbeitete, musste ihren Mann, der an Darmkrebs litt, über viele Monate durch die Krankheit begleiten. Sie begleitete ihn durch all die Therapien, nur um am Ende zuzusehen, wie die Schmerzmittel nicht mehr wirkten und er hilflos starb. Sie stellte daraufhin die Sinnhaftigkeit unseres Tuns grundlegend infrage. Wenig später bekam sie Bauchschmerzen, und ein Arzt diagnostizierte viel zu voreilig auch bei ihr Darmkrebs. Eben hatte sie noch gedacht, durch die Hölle gegangen zu sein, jetzt sah es so aus, als läge die erst vor ihr. Es war dann nur ein Blinddarmdurchbruch, aber sie hatte dennoch genug. Sie schickte uns wenig später eine Ansichtskarte aus der Karibik, mit Segelboot und blauem Meer. Sie kam nie wieder.

Ich denke, bei mir lief es umgekehrt. Mich hat dieses Spannungsverhältnis zwischen meinen kleinen Kindern und meinem sterbenden Mann, zwischen dem prallen Leben und dem Tod, sogar angetrieben. Ich habe mich in einer Zeit für die Neurochirurgie entschieden, als ich alle sechs Monate auf einen neuen Befund warten musste. In einer Zeit, in der ich mich ständig fragte, wie schlimm es werden würde und wie lange es noch gehen würde, und in der ich wegen meiner reaktiven Depression Psychopharmaka bekam.

Auch mir teilte ein Oberarzt bei meinem ersten Hearing durch die Blume mit, dass ich es mir besser noch einmal überlegen sollte, und auch ich ließ mich davon in meinem Schwung nicht bremsen.

„Sie haben doch Kinder“, sagte er. „Ich hoffe, Sie wissen, dass Sie bei uns immer erst frühestens um acht Uhr abends heimkommen, und zwar jeden Abend. Am Wochenende sind alle Kollegen hier und arbeiten in der Bibliothek, und ich meine damit wirklich alle, nicht nur die Diensthabenden.“

Den Job bekam ein anderer, aber ich suchte weiter. Jetzt erst recht die Neurochirurgie, dachte ich. Aber wollte ich Menschen retten, als ich meine Berufswahl traf? Wollte ich verhindern, dass es anderen Menschen so ging wie meinem Mann, oder ihr Schicksal zumindest verbessern? Schließlich bringt selbst eine erfolgreiche Tumoroperation nie Genesung sondern immer nur Lebenszeit, meistens nur ein paar Monate.

Ich weiß es nicht. Ich glaube, es stimmt schon, die Grundlage meiner Entscheidung für die Medizin war mein Wunsch nach einem schicken Leben, und meine Entscheidung für die Neurochirurgie fiel höchstens aus Neugierde. Ich wollte wissen, was da passiert war. Ich wollte wissen, was so einen Schatten über mein Leben als junge Frau und Mutter geworfen hatte. Vielleicht heißt das, dass es auch mir bei meiner Entscheidung nicht um die Menschen, sondern um die Krankheit ging.

Den Oberarzt, der mir meine Berufsentscheidung nicht ausreden wollte und mir meine erste Stelle als Assistenzärztin an einer neurochirurgischen Abteilung gab, kannte ich. Er kannte mich ebenfalls. Er ordnete mich nur falsch zu.

„Sie waren doch in unserem Endoskopiekurs“, sagte er bei meinem Bewerbungsgespräch.

Ich nickte. Dabei stimmte es nicht. Ich erzählte ihm nichts davon, wie er mir einmal mitgeteilt hatte, dass mein Mann, der Vater meiner kleinen Babys, nur noch wenige Monate zu leben hätte. Ich habe es ihm bis heute nicht erzählt.

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