Existenzielle Psychotherapie

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Die Verhaltensforschung hat viele Situationen dargestellt, die bei Menschenkindern Furcht auslösen. Die gleiche Frage kann in Bezug auf diese experimentellen Daten gestellt werden. Warum fürchtet sich das Kind vor Fremden oder einer »visuellen Klippe« (einem Glastisch mit etwas, das wie ein Abgrund darunter aussieht) oder vor einem sich nähernden Gegenstand (der plötzlich auftaucht) oder vor Dunkelheit? Offensichtlich stellt jede dieser Situationen – wie auch Tiere, Geister und Trennung – eine Bedrohung für das Überleben dar. Aber mit der Ausnahme von Melanie Klein und D. W. Winnicott, die hervorheben, dass ursprüngliche Angst die Angst vor der Vernichtung, der Ich-Auflösung ist oder davor, verschlungen zu werden,66 wird die Frage, warum sich das Kind vor diesen lebensbedrohenden Situationen fürchtet, selten gestellt. Die Theoretiker der Kindesentwicklung oder Kinder- und Jugendpsychoanalytiker ziehen oft sehr spekulative Schlussfolgerungen über das Innenleben des Kindes, wenn es sich um Objektbeziehungen oder kleinkindliche Sexualität handelt; aber wenn sie den Todesbegriff des Kindes betrachten, setzt ihre Intuition und Vorstellungskraft aus.

Der Beweis für das Vorhandensein der Trennungsangst gründet auf soliden Verhaltensbeobachtungen. Bei der gesamten Spezies der Säugetiere bekundet ein Kind, das von seiner Mutter getrennt wird, Zeichen der Besorgnis – sowohl äußere motorische Zeichen als auch innere physiologische. Es besteht auch kein Zweifel daran, wie Bowlby nachdrücklich zeigt, dass die Trennungsangst früh im Leben des menschlichen Kleinkindes erkennbar ist und dass Sorgen über Trennungen ein Hauptmotiv in der inneren Welt der Erwachsenen bleibt.

Aber was die Verhaltensforschung nicht enthüllen kann, ist die Natur der inneren Erfahrung des jungen Kindes oder, wie Anna Freud es ausdrückte, der »mentalen Repräsentation« der Verhaltensreaktionen.67 Wir können etwas darüber wissen, was die Furchtsamkeit auslöst, aber nicht, was die Furchtsamkeit ist. Die empirische Forschung zeigt, dass das Kind furchtsam ist, wenn es getrennt wird, aber sie zeigt auf keine Art und Weise, dass die Trennungsangst die ursprüngliche Angst ist, von der die Todesangst abgeleitet ist. Auf einer vorgedanklichen und vorsprachlichen Ebene erfährt das Kind vielleicht die urwüchsige Angst des Nicht-Seins; und diese Angst tendiert sowohl beim Kind als auch beim Erwachsenen dazu, zur Furcht zu werden: Sie wird in der einzigen »Sprache«, die dem Kind zur Verfügung steht, gebunden an und transformiert in die Trennungsangst. Die Entwicklungstheoretiker verwerfen die Idee, dass ein Kleinkind – sagen wir jünger als dreizehn Monate – Todesangst erfahren könnte, weil das Kind nur einen geringen Begriff vom Selbst hat, das von den ihn umgebenden Objekten getrennt ist. Aber das gleiche kann über die Trennungsangst gesagt werden. Was ist es, das das Kind erfährt? Sicherlich nicht Trennung, denn ohne ein Selbstkonzept kann das Kind Trennung nicht begreifen. Was ist es dann schließlich, das wovon getrennt wird?

Unserem Wissen über eine innere Erfahrung, die nicht beschrieben werden kann, sind Grenzen gesetzt, und ich laufe in dieser Diskussion Gefahr, die Gedanken des Kindes zu »erwachsenen Gedanken« zu machen. Man muss sich bewusst sein, dass der Begriff »Trennungsangst« eine Konvention ist, ein Begriff, auf den man sich auf der Grundlage empirischer Forschung geeinigt hat und der sich auf einen unaussprechlichen inneren Zustand der Furchtsamkeit bezieht. Aber für den Erwachsenen ergibt es überhaupt keinen Sinn, Todesangst in Trennungsangst zu übersetzen (oder »Furcht vor dem Objektverlust«), oder zu behaupten, dass die Todesangst von einer »grundlegenderen« Trennungsangst abgeleitet ist. Wie ich in dem vorhergehenden Kapitel ausgeführt habe, muss man zwischen zwei Bedeutungen von »grundlegend« unterscheiden: »grundlegend« und »chronologisch zuerst«. Selbst wenn wir die Behauptung akzeptieren, dass Trennungsangst chronologisch die erste Angst ist, würde daraus nicht folgen, dass Todesangst »wirklich« die Furcht vor dem Objektverlust ist. Die grundlegendste Angst entsteht aus der Bedrohung des Selbstverlusts; und wenn man den Objektverlust fürchtet, dann deshalb, weil der Verlust dieses Objekts eine Bedrohung für sein Überleben ist (oder eine solche symbolisiert).

Warum? Das Auslassen der Todesfurcht aus der dynamischen Theorie ist offensichtlich kein Versehen. Es gibt auch, wie wir gesehen haben, keinen überzeugenden Grund, der die Übersetzung dieser Furcht in andere Begriffe rechtfertigt. Ich glaube, dass ein aktiver Verdrängungsprozess wirksam ist – ein Prozess, der von der universellen Tendenz der Menschheit (einschließlich der Verhaltensforscher und Theoretiker), den Tod zu verleugnen, stammt – ihn sowohl persönlich als auch in seiner Lebensarbeit zu verleugnen. Andere, die die Todesfurcht erforscht haben, kamen zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Anthony bemerkt dazu:

Das Unlogische und die offensichtliche Unsensibilität (der Kindesentwicklungsforscher) gegenüber dem Phänomen der Furcht des Menschen vor dem Tod, die von der Anthropologie und Geschichte als eine der verbreitetsten und stärksten menschlichen Motivationen aufgezeigt wurden, kann nur der konventionellen (das heißt kulturell induzierten) Verdrängung dieser Furcht durch die Autoren selbst und jene, über deren Forschungen sie berichten, zugeschrieben werden.68

Charles Wahl kommentiert in einer ähnlichen Richtung:

Es ist eine überraschende und bedeutsame Tatsache, dass das Phänomen der Todesfurcht oder der Angst davor (Thanatophobie, wie sie genannt wird) in der psychiatrischen oder psychoanalytischen Literatur fast nicht beschrieben wird, während sie doch sicherlich keine klinische Seltenheit ist. Sie fällt durch ihre Abwesenheit auf. Könnte dies bedeuten, dass die Psychiater nicht weniger als andere sterbliche Menschen eine Abneigung davor haben, ein Problem zu betrachten oder zu erforschen, das so eng und persönlich bezeichnend für die Kontingenz der menschlichen Situation ist? Vielleicht scheinen sie, ebenso wie ihre Patienten, La Rochefoucaulds Beobachtung bestätigen zu wollen, dass »man nicht direkt sowohl auf die Sonne als auch auf den Mond schauen kann.«69

Todesangst und die Entwicklung der Psychopathologie

Wenn die Todesangst ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung der Psychopathologie ist, und wenn es eine wesentliche Entwicklungsaufgabe jedes Kindes ist, mit dem Todesbegriff klarzukommen, warum entwickeln einige Personen sie behindernde neurotische Störungen, und andere erreichen das Erwachsenenstadium auf relativ gut integrierte Weise? Es gibt keine empirische Forschung, die uns helfen würde, diese Frage zu beantworten, und im Augenblick kann ich nicht mehr tun, als Möglichkeiten aufzuzeigen. Zweifellos interagieren eine Vielzahl von Faktoren auf komplexe Art. Es muss ein »ideales« Timing oder eine Sequenz von Entwicklungsereignissen geben: Das Kind muss sich mit den Fragen in einem Tempo auseinandersetzen, das mit seinen inneren Ressourcen vereinbar ist. »Zuviel zu früh« schafft offensichtlich ein Ungleichgewicht. Ein Kind, das mit dem Tod hart konfrontiert wird, bevor es angemessene Abwehrkräfte entwickelt hat, kann ernsthaft gestresst sein. Ernsthafter Stress, der zu allen Zeiten des Lebens unbequem ist, hat für das Kind Implikationen, die über vorübergehende Stimmungstiefs hinausgehen. Freud beispielsweise sprach von dem unverhältnismäßig schweren und andauernden Schaden für das Ich, der durch massive Traumata früh im Leben verursacht werden kann, und er zitiert zur Veranschaulichung ein Experiment in der Biologie, das die katastrophalen Wirkungen auf den erwachsenen Organismus demonstrierte, die durch einen winzigen Nadelstich in das Embryo ganz zu Beginn seiner Entwicklung ausgelöst wurden.70

Um welche Art von Trauma mag es sich handeln? Verschiedene offensichtliche Möglichkeiten bieten sich an. Es ist ein wichtiges Ereignis, wenn das Kind in seiner Umgebung dem Tod ausgesetzt wird; einige Arten des Kontakts mit dem Tod können – in angemessener Dosierung und beim Vorhandensein bereits entwickelter Ich-Stärke, gesunder Konstitution und in der Gegenwart unterstützender Erwachsener, die selbst auf angemessene Weise mit der Todesangst umgehen können – zu einem harmlosen Ereignis werden, während einige Arten des Kontakts mit dem Tod die Fähigkeiten des Kindes, sich selbst zu schützen, übersteigen mögen. Jedes Kind ist dem Tod in der Begegnung mit Insekten, Blumen, Schoßtieren und anderen kleinen Tieren ausgesetzt, und diese Tode können Quellen der Verwirrung oder Angst sein und das Kind dazu veranlassen, Fragen über den Tod und Ängste davor mit seinen Eltern zu besprechen. Aber bei einem Kind, das dem Tod eines Menschen gegenübersteht, ist die Wahrscheinlichkeit eines Traumas viel größer.

Der Tod eines anderen Kindes ist, wie ich erläutert habe, besonders furchterregend, weil er den tröstenden Glauben, dass nur sehr alte Menschen sterben, untergräbt. Der Tod eines Geschwisters, das sowohl jung als auch wichtig für das Kind ist, ist ein noch größeres Trauma. Die Reaktionen des Kindes darauf können sehr komplex sein, denn verschiedene Punkte spielen dabei eine Rolle: Schuld, die von der Geschwisterrivalität herrührt (und aus der Freude, mehr elterliche Aufmerksamkeit zu erhalten), Verlust des anderen und das Hervorrufen von Furcht vor dem eigenen persönlichen Tod. Die Literatur beschäftigt sich vor allem mit dem ersten Punkt, der Schuld, und gelegentlich mit dem zweiten, dem Verlust, aber fast nie mit dem dritten. Beispielsweise präsentieren Rosenzweig und Bray Daten, die darauf hinweisen, dass bei schizophrenen Patienten signifikant häufiger der Tod eines Geschwisters vor dem sechsten Lebensjahr des Patienten vorkommt, wenn man sie mit normaler Population vergleicht, mit einer manisch-depressiven Stichprobe und mit einer Stichprobe von paretischen Patienten.71

 

Rosenzweig bietet die übliche analytische Interpretation seines Untersuchungsergebnisses an – nämlich dass überwältigende Schuld, die aus zwischengeschwisterlicher Feindseligkeit und inzestuösen Gefühlen stammt, ein wichtiger Faktor bei der Erzeugung schizophrener Verhaltensmuster ist. Um diese Schlussfolgerung zu unterstützen, präsentiert er drei kurze Fallbeispiele (in je einem Abschnitt). Trotz der Kürze der Berichte und der Selektion aus einer riesigen Stichprobe klinischen Materials für die Unterstützung seiner These, gibt es Beweise für die Furcht vor dem persönlichen Tod in zwei der drei Beispiele. Ein Patient, der seine Mutter und zwei Geschwister früh in seinem Leben verloren hatte, reagierte sehr stark auf den Tod einer Cousine: »Er war so tief verstört, dass er krank wurde und ins Bett gehen musste: Er fürchtete ständig, dass er sterben würde. Der Arzt diagnostizierte einen Nervenzusammenbruch. Der Patient zeigte bald das bizarre Verhalten eines Schizophrenen.«72 Ein anderer Patient verlor drei Brüder, den ersten, als er sechs Jahre alt war. Er entwickelte eine Psychose im siebzehnten Lebensjahr, kurz nach dem Tod des dritten Bruders. Die einzige Aussage, die von diesem Patienten zitiert wird, legt nahe, dass mehr als Schuld bei seiner Reaktion auf den Tod eine Rolle spielt. »Ich habe seine Stimme gelegentlich gehört. Manchmal scheine ich fast er zu sein. Ich weiß nicht, da scheint eine Leere im Weg zu sein … Ja, wie kann ich über eine Leere wie seinen Tod hinwegkommen? Mein Bruder ist tot, und ich bin – nun, ich bin am Leben, aber ich weiß nicht … «73 Diese hochselektive Art des Fallberichts beweist nichts. Ich habe diesen Punkt herausgearbeitet, um die Probleme bei der Interpretation der Forschungsliteratur zu veranschaulichen. Die Forscher und Kliniker sind »eingefahren« und haben Schwierigkeiten, den Bezugsrahmen zu verändern, selbst dann, wenn, wie bei dieser Forschung, eine andere Erklärung völlig plausibel und mit den Daten in Übereinstimmung zu sein scheint.

Wenn man sowohl den Verlust eines Elternteils als auch den Verlust eines Geschwisters betrachtet, findet man in Rosenzweigs Forschung, dass über 60 Prozent der schizophrenen Patienten einen frühen Verlust erlitten hatten. Vielleicht haben die schizophrenen Patienten dann »zuviel zu früh« erlebt. Diese Patienten waren dem Tod nicht nur zu sehr ausgesetzt, sondern wegen des Grads an Pathologie in der Familienumgebung waren die Familien und die Patienten auch besonders unfähig, mit Todesangst umzugehen. (Harold Searles kam, wie ich im vierten Kapitel erläutern werde, auf der Grundlage seiner psychotherapeutischen Arbeit mit erwachsenen Schizophreniepatienten zu den gleichen Schlussfolgerungen.74) Der Tod eines Elternteils ist ein katastrophales Ereignis für das Kind. Seine Reaktionen hängen von vielen Faktoren ab: Die Qualität seiner Beziehung zu dem Elternteil, die Umstände des Todes des Elternteils (war das Kind beispielsweise Zeuge eines natürlichen oder eines gewaltsamen Todes?), die Haltung des Elternteils während seiner oder ihrer Schlussphase der Krankheit und die Existenz eines starken überlebenden Elternteils und ein Netzwerk von Gemeinschafts- und Familienressourcen.75 Das Kind erleidet einen tiefen Verlust, und darüber hinaus fühlt es sich außerordentlich bedrängt von seinen Sorgen darüber, dass sein aggressives Verhalten oder seine Fantasien über den Elternteil zu dessen Tod beigetragen haben könnten. Die Rolle des Verlusts und der Schuld ist gut bekannt und wurde in kompetenter Weise von anderen erörtert.76 In der traditionellen Literatur über Verluste wird jedoch eine Betrachtung der Wirkung des Todes eines Elternteils auf die Bewusstheit des Kindes von seinem Tod ausgelassen. Wie ich zuvor betont habe, ist Vernichtung die ursprüngliche Angst der Person und ist verantwortlich für einen großen Teil der Qual bei seiner oder ihrer Reaktion auf den Verlust eines anderen Menschen. Maurer drückt das treffend aus: »Auf einer Ebene unterhalb wahrer Erkenntnis weiß das Kind mit seinem naiven Narzissmus, dass der Verlust seines Elternteils der Verlust seiner Bande zum Leben ist … Viel eher als eifersüchtiges Besitzenwollen eines verlorenen Liebesobjekts ist totale Panik um sein Leben die Ätiologie der Qual der Trennungsangst.«77

Es ist nicht schwierig nachzuweisen, dass Psychiatriepatienten, Neurotiker und Psychotiker häufiger einen Elternteil verloren haben als Personen aus der allgemeinen Bevölkerung.78 Aber die Implikationen des Todes eines Elternteils für das Kind sind so weitreichend, dass es der Forschung nicht möglich ist, all die einzelnen Komponenten der Erfahrung zu entwirren und zu gewichten. Es ist beispielsweise aus den Tierexperimenten bekannt, dass die Jungen eine Versuchsneurose entwickeln, wenn sie von ihren Müttern getrennt werden, und viel feindseliger auf Stress reagieren als jene, die bei ihren Müttern bleiben. Bei den Menschen verringert die unmittelbare Gegenwart einer mütterlichen Person die Angst, die durch unbekannte Ereignisse ausgelöst wird. Daraus folgt, dass ein Kind, das seine Mutter verloren hat, viel verletzlicher durch jeden Stress, mit dem es sich auseinandersetzen muss, ist. Das Kind wird nicht nur der Angst ausgesetzt, die von der Todesbewusstheit ausgeht, sondern leidet übermäßig an Angst vor vielen anderen Stressfaktoren (zwischenmenschlichen, sexuellen, schulbezogenen), mit denen es schlecht fertigwerden kann. Daher entwickelt das Kind wahrscheinlich eine Symptomatologie und neurotische Abwehrmechanismen, die sich im Laufe des Lebens überlagern. Die Furcht vor dem persönlichen Tod liegt vielleicht in der tiefsten Schicht und bricht in unverhüllter Form nur selten in Albträumen oder anderen Ausdrucksformen des Unbewussten durch.

Josephine Hilgard und Martha Newman erforschten Psychiatriepatienten, die einen Elternteil früh im Leben verloren hatten, und berichten von einem faszinierenden Ergebnis (das sie »Jahrestagsreaktion« nannten): Eine signifikante Korrelation zwischen dem Alter eines Patienten zur Zeit der Einweisung in die Psychiatrie und dem Alter des Elternteils beim Tod.79 Mit anderen Worten, wenn ein Patient ins Krankenhaus kommt, besteht die nicht nur zufällige Möglichkeit, dass er oder sie im gleichen Alter ist wie sein Elternteil, als dieser starb. Wenn beispielsweise die Mutter eines Patienten im Alter von dreißig starb, besteht für den Patienten im Alter von dreißig ein erhöhtes Risiko. Darüber hinaus ist das älteste Kind des Patienten wahrscheinlich im gleichen Alter, in dem der Patient war, als sein Elternteil starb. Beispielsweise ist eine Patientin, die sechs Jahre alt war, als ihre Mutter starb, psychiatrisch gesehen ein Risikofall, wenn ihre älteste Tochter sechs Jahre alt ist. Obwohl die Forscher die Frage der Todesangst nicht aufwarfen, scheint es möglich zu sein, dass der Tod der ursprünglichen Mutter das Kind – die spätere Patientin – plötzlich der Unvorhersagbarkeit aussetzte: Der Tod der Mutter signalisierte dem Kind, dass es auch selbst sterben muss. Das Kind verdrängte diese Schlussfolgerung und die sie begleitende Angst, die unbewusst blieb, bis sie durch den Jahrestag ausgelöst wurde – also dadurch, dass die Patientin das Alter erreichte, in welchem ihr Elternteil starb.

Der Grad des Traumas ist zu einem großen Ausmaß eine Funktion des Grads an Todesangst in der Familie. In vielen Kulturen nehmen die Kinder an den Todesritualen teil. Sie haben manchmal feste Rollen bei Begräbnissen oder anderen Todesritualen. In der Foré-Kultur auf Neu-Guinea beispielsweise nehmen die Kinder an dem Ritual des Verspeisens eines verstorbenen Verwandten teil. Höchstwahrscheinlich ist diese Erfahrung für das Kind nicht katastrophal, weil die Erwachsenen an der Aktivität ohne ernsthafte Angst teilnehmen; es ist Teil eines natürlichen ungehemmten Lebensstroms. Wenn jedoch, wie häufig in der westlichen Kultur, ein Elternteil ernsthafte Angst vor den Todesfragen hat, dann erhält das Kind die Botschaft, dass es viel zu fürchten gibt. Diese elterliche Mitteilung kann besonders wichtig für jene Kinder sein, die ernsthafte physische Krankheiten haben. Wie Marian Breckenridge und E. Lee Vincent es formulierten, »Die Kinder fühlen die Angst ihrer Eltern, dass sie sterben können, und neigen daher dazu, ein vages Unwohlsein mit sich herumzutragen, welches gesunde Kinder nicht empfinden.«80

Die Todeserziehung von Kindern

Viele Eltern, vielleicht die meisten in unserer Kultur, versuchen, die Realitätswahrnehmung in der Todeserziehung schrittweise zu erhöhen. Junge Kinder werden vor dem Tod abgeschirmt; sie werden ausdrücklich fehlinformiert; die Verleugnung wird ihnen früh im Leben eingegeben mit Geschichten vom Himmel oder von der Wiederkehr der Toten oder mit der Versicherung, dass Kinder nicht sterben. Später, wenn das Kind »bereit ist, es anzunehmen«, erhöhen die Eltern allmählich die Dosis an Realität. Gelegentlich nehmen aufgeklärte Eltern einen dezidierten Standpunkt gegen Selbsttäuschung ein und weigern sich, ihren Kindern die Verleugnung der Realität beizubringen. Sie finden es jedoch schwierig, auf das Angebot von Trost durch irgendeine realitätsnegierende Versicherung zu verzichten – entweder eine schlichte Verleugnung der Sterblichkeit oder einen Mythos über eine lange Reise nach dem Leben –, wenn ein Kind erschreckt oder gequält ist.

Elisabeth Kübler-Ross missbilligt die traditionelle religiöse Praxis, Kinder mit »Märchen« über den Himmel, Gott und die Engel zu indoktrinieren, scharf. Aber wenn sie ihre Arbeit mit Kindern beschreibt, die über den Tod besorgt sind – ihren eigenen oder den ihrer Eltern –, ist es offensichtlich, dass auch sie Trost anbietet, der auf Verleugnung gründet. Sie informiert die Kinder, dass man im Augenblick des Todes transformiert oder befreit wird »wie ein Schmetterling« für eine tröstliche verheißungsvolle Zukunft.81 Obwohl Kübler-Ross darauf besteht, dass dies nicht Verleugnung, sondern Realität ist, die auf objektiver Forschung über Erfahrungen nach dem Tode basieren, bleibt der empirische Beweis unveröffentlicht. Die gegenwärtige Position dieser bemerkenswerten Therapeutin, die sich dem Tod unerschrocken stellte, weist darauf hin, wie schwierig es ist, sich mit dem Tod ohne Selbsttäuschung auseinanderzusetzen. Soweit ich es beurteilen kann, unterscheiden sich die »objektiven Daten« von Kübler-Ross nicht in bedeutsamer Weise vom traditionellen religiösen »Wissen« durch Glauben.

Es gibt in unserer westlichen Kultur klare Erziehungsrichtlinien für solche Bereiche wie physische Entwicklung, Informationsaneignung, soziale Fähigkeiten und psychologische Entwicklung; aber wenn die Todeserziehung ansteht, sind die Eltern weitgehend auf sich selbst gestellt. Viele andere Kulturen bieten einige kulturell akzeptierte Mythen über den Tod an, die den Kindern ohne Ambivalenz oder Angst übermittelt werden. Unsere Kultur bietet keine erkennbaren Richtlinien an, denen Eltern folgen könnten; trotz der Allgemeingültigkeit des Themas und seiner entscheidenden Bedeutung in der Entwicklung des Kindes, muss jede Familie nolens volens entscheiden, was sie ihren Kindern beibringt. Oft werden den Kindern Informationen gegeben, die obskur sind, vermischt mit elterlicher Angst, und die wahrscheinlich im Widerspruch zu anderen Informationsquellen in der Umgebung stehen.

In den Reihen professioneller Erzieher herrscht extreme Uneinigkeit über die Todeserziehung. Anthony empfiehlt, dass die Eltern die Realität dem Kind gegenüber verleugnen sollten. Sie zitiert Sandor Ferenczi, der sagte, dass »die Verneinung der Realität eine Übergangsphase zwischen dem Ignorieren und dem Akzeptieren der Realität ist«, und er behauptet, dass das Versagen der Eltern bei der Unterstützung der Verleugnung seitens des Kindes zu »einer Neurose führen kann, in der Todesassoziationen eine Rolle spielten.«82 Anthony fährt fort:

Die Argumente für die Unterstützung der Realitätsakzeptanz sind stark. Trotzdem gibt es in diesem Zusammenhang eine Gefahr. Das Wissen, dass die Verleugnung selbst das Akzeptieren erleichtert, kann die Aufgabe der Eltern vielleicht weniger schwer machen. Sie mögen die Anklage der Unzuverlässigkeit, des Lügens vorausahnen, wenn das eigene Bedürfnis des Kindes nach Verleugnung vorbei ist. Wenn sie offen angeschuldigt werden, können sie antworten: »Du konntest es damals nicht annehmen.«83

Andererseits akzeptieren viele professionelle Erzieher die Ansicht Jerome Bruners, dass »jedes Thema auf irgendeine intellektuell ehrliche Weise ei nem Kind in jedem Entwicklungsstadium wirkungsvoll beigebracht werden kann«,84 und versuchen, dem Kind bei einem allmählichen realistischen Verständnis des Todesbegriffs behilflich zu sein. Euphemismen (»schlafen gegangen«, »in den Himmel gegangen«, »bei den Engeln«) sind »hauchdünne Barrikaden gegen Todesängste und verwirren das Kind nur.«85 Die Angelegenheit zu ignorieren, führt zu einem Narrenparadies für die Eltern: Die Kinder kümmern sich dann sehr wohl weiter um das Thema und finden, wie auch beim Sex, andere Informationsquellen, die oft unzuverlässig oder sogar furchterregender oder bizarrer als die Realität sind.

 

Zusammengefasst gibt es überzeugende Beweise, dass Kinder den Tod in einem frühen Alter entdecken, dass sie befürchten, dass ihr Leben schließlich ausgelöscht wird, dass sie dieses Wissen auf sich selbst anwenden und dass sie als Ergebnis dieser Entdeckung große Angst erleiden. Eine Hauptentwicklungsaufgabe ist es, mit dieser Angst umzugehen, und das Kind tut dies hauptsächlich auf zwei Wegen: indem es die unerträgliche objektive Realität des Todes verändert, und indem es innere subjektive Erfahrungen verändert. Das Kind verleugnet die Unausweichlichkeit und Dauerhaftigkeit des Todes. Es schafft Unsterblichkeitsmythen – oder übernimmt dankbar Mythen, die Ältere ihm anbieten. Das Kind verleugnet auch seine Hilflosigkeit vor der Gegenwart des Todes, indem es die innere Realität verändert: Das Kind glaubt an seine persönliche Besonderheit, Allmacht und Unverletzlichkeit und an die Existenz von irgendeiner äußeren persönlichen Kraft oder einem Wesen, das es vom Schicksal, das alle anderen erwartet, erlösen wird.

»Es ist nicht so bemerkenswert,« wie Rochlin schreibt, »dass Kinder zu den erwachsenen Ansichten über die Beendigung des Lebens gelangen, sondern vielmehr, wie hartnäckig Erwachsene ihr ganzes Leben lang an den Vorstellungen des Kindes festhalten und wie bereitwillig sie zu ihnen zurückkehren.«86 Die Toten sind daher nicht tot; sie ruhen, sie schlummern weiter in Gedenkstätten beim Klang ewiger Musik, sie erfreuen sich eines Lebens nach dem Tod, in welchem sie letztlich mit ihren geliebten Menschen wieder vereinigt werden. Und unabhängig davon, was anderen geschieht, verleugnet man den Tod als Erwachsener vor sich selbst. Die Verleugnungsmechanismen sind in unseren Lebensstil und unsere Charakterstruktur eingebettet. Zur Last des Menschen als Erwachsener genauso wie zu der des Kindes gehört es, mit der persönlichen Endlichkeit umzugehen; und das Studium der Psychopathologie, der ich mich jetzt zuwenden werde, ist das Studium misslungener Todestranszendenz.