Existenzielle Psychotherapie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

4. Kapitel: Tod und Psychopathologie

Die Bandbreite der Psychopathologie, die Typen klinischer Bilder, die bei Patienten auftreten, ist so groß, dass die Kliniker einige organisierende Prinzipien brauchen, die es ihnen erlauben, Symptome, Verhaltensweisen und Persönlichkeitsstile nach bedeutungsvollen Kategorien zu gruppieren. In dem Maß, in dem Kliniker ein strukturierendes Paradigma der Psychopathologie anwenden können, sind sie entlastet von der Angst, vor einer unklaren Situation zu stehen. Sie entwickeln ein Gefühl des Erkennens oder der Vertrautheit und ein Gefühl des Beherrschens, welches bei den Patienten wiederum ein Vertrauensgefühl erweckt – Vorbedingungen für eine wahrhaft therapeutische Beziehung.

Das Paradigma, das ich in diesem Kapitel beschreiben werde, beruht, wie die meisten Paradigmen der Psychopathologie, auf der Annahme, dass Psychopathologie eine unkultivierte, ineffektive Weise ist, mit Angst umzugehen. Ein existenzielles Paradigma nimmt an, dass die Angst aus der Begegnung des Menschen mit den letzten Dingen der Existenz hervorgeht. Ich werde in diesem Kapitel ein Modell der Psychopathologie darstellen, das auf dem Kampf des Menschen mit der Todesangst beruht, und in späteren Kapiteln Modelle, die für jene Patienten zutreffen, deren Angst stärker mit anderen letzten Dingen gekoppelt ist – Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit. Obwohl ich diese Themen aus didaktischen Gründen getrennt besprechen muss, stellen sie zusammen die vier Stränge im Gewebe der Existenz dar und müssen schließlich zu einem einheitlichen existenziellen Modell der Psychopathologie vereinigt werden.

Alle Menschen begegnen der Todesangst; die meisten von ihnen entwickeln adaptive Modi des Umgangs damit – Modi, die aus Strategien bestehen, die auf Verleugnung beruhen, wie Unterdrückung, Verdrängung, Verschiebung, der Glaube an persönliche Allmacht, die Übernahme sozial akzeptierter religiöser Glaubenssätze, die den Tod »entgiften«, oder persönliche Anstrengungen, den Tod durch eine große Vielfalt von Strategien zu überwinden, die darauf abzielen, symbolische Unsterblichkeit zu erlangen. Der Mensch, der in die Situation des »Patient-Seins« eintritt, hat entweder wegen außergewöhnlichem Stress oder wegen der Unangemessenheit der verfügbaren Abwehrstrategien die verbreiteten Modi des Umgangs mit der Todesangst als ungenügend empfunden und wurde zu extremen Modi der Abwehr getrieben. Diese Abwehrmanöver, oft unbeholfene Arten, mit dem Schrecken umzugehen, stellen das dargebotene klinische Bild dar.

Psychopathologie ist (in jedem System) per Definition eine ineffektive Form der Abwehr. Sogar Abwehrmanöver, die schwere Angst erfolgreich abwehren, verhindern Wachstum und führen zu einem eingeschränkten und unbefriedigenden Leben. Viele existenzielle Theoretiker haben sich über den hohen Preis geäußert, den der Kampf im Umgang mit der Todesangst erfordert. Kierkegaard wusste, dass der Mensch sich einschränkt und selbst zurücknimmt, um die Wahrnehmung des »Schreckens, des Untergangs und der Vernichtung, die für jeden Menschen gleich nebenan wohnen«, zu vermeiden.1 Otto Rank beschrieb den Neurotiker als jemanden, »der das Darlehen (das Leben) ablehnt, um so der Schuldtilgung (dem Tod) zu entgehen.«2 Paul Tillich stellte fest, dass »Neurose der Weg ist, Nicht-Sein zu vermeiden, indem man das Sein vermeidet.«3 Ernest Becker führte ein ähnliches Argument an, als er schrieb: »Die Ironie der Situation des Menschen ist, dass das tiefste Bedürfnis des Menschen darin besteht, frei von der Angst vor dem Tod und der Vernichtung zu sein; aber das Leben selbst erweckt sie, und deshalb müssen wir davor zurückschrecken, völlig lebendig zu sein.«4 Robert Jay Lifton verwendete den Ausdruck »psychische Betäubung«, um zu beschreiben, wie sich der neurotische Mensch vor der Todesangst schützt.5

Nackte Todesangst wird in dem Paradigma der Psychopathologie, das ich beschreiben werde, nicht sehr offenkundig sein. Aber das sollte uns nicht überraschen: Primäre Angst in ihrer ursprünglichen Form ist kaum in irgendeinem theoretischen System deutlich erkennbar. Die Abwehrstrukturen existieren gerade zum Zweck innerer Tarnung: Die Natur des dynamischen Kernkonflikts wird durch Verdrängung und andere Manöver, die die Niedergeschlagenheit verringern können, verborgen. Schließlich ist der Kernkonflikt tief vergraben, und man kann auf ihn nur nach mühsamer Analyse dieser Manöver schließen – obwohl er niemals völlig bekannt sein wird.

Um ein Beispiel anzuführen: Ein Mensch kann sich vor der Todesangst, die mit der Individuation einhergeht, schützen, indem er eine symbiotische Beziehung mit der Mutter aufrechterhält. Diese Abwehrstrategie mag eine Zeit lang erfolgreich sein, aber mit der Zeit wird sie selbst zu einer Quelle sekundärer Angst; beispielsweise kann die Abneigung, sich von der Mutter zu trennen, mit dem Schulbesuch oder der Entwicklung sozialer Fähigkeiten interferieren; und diese Defizite erzeugen wahrscheinlich soziale Angst und Selbstverachtung, die wiederum neue Abwehrstrategien entstehen lassen, die das Unbehagen mildern, aber das Wachstum verzögern und demgemäß zusätzliche Schichten der Angst und der Abwehr generieren. Bald ist der Kernkonflikt mit diesen Epiphänomenen stark eingekapselt, und die Ausgrabung der ursprünglichen Angst wird außerordentlich schwierig. Todesangst ist für den Kliniker nicht unmittelbar sichtbar: Sie wird beim Studium von Träumen, Fantasien oder psychotischen Äußerungen oder durch mühsame Analyse des Ausbruchs neurotischer Symptome entdeckt. Beispielsweise berichten Lewis Loesser und Thea Bry6, dass erste phobische Attacken, die gründlich untersucht werden, unweigerlich von einem Durchbruch der Todesangst gekennzeichnet sind. Das Verständnis späterer Attacken wird durch das Auftauchen von Modifikationen, Ersatzhandlungen und Verschiebungen erschwert.

Bei den abgeleiteten sekundären Formen der Angst handelt es sich trotzdem um »wirkliche« Angst. Ein Mensch kann durch soziale Angst oder durch umfassende Selbstverachtung in die Knie gezwungen werden; und wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, richten sich Behandlungsbemühungen im Allgemeinen auf die abgeleiteten, statt auf die ursprünglichen Ängste. Der Psychotherapeut beginnt die Therapie, unabhängig von seinem Glaubenssystem hinsichtlich der ursprünglichen Quelle der Angst und der Genese der Psychopathologie, auf der Ebene der Sorgen des Patienten: Beispielsweise kann der Therapeut dem Patienten helfen, indem er ihm Unterstützung anbietet, indem er nachhilft beim Aufbau adaptiver Abwehrstrategien oder indem er destruktive zwischenmenschliche Interaktionsformen zu korrigieren hilft. Das existenzielle Paradigma der Psychopathologie erfordert daher bei der Behandlung vieler Patienten keine radikale Abkehr von traditionellen therapeutischen Strategien oder Techniken.

Todesangst: Ein Paradigma der Psychopathologie

Ein klinisches Paradigma, von dem ich glaube, dass es sehr großen praktischen und heuristischen Wert hat, wurde im vorhergehenden Kapitel skizziert. Die Art des Kindes, mit der Todesbewusstheit umzugehen, gründet auf Verleugnung, und die zwei Hauptbollwerke dieses Verleugnungssystems sind der archaische Glaube, dass man entweder persönlich unverletzlich ist und/oder von einem letzten Retter ewig beschützt wird. Diese beiden Glaubenssätze sind besonders wirksam, weil sie aus zwei Quellen Verstärkung erfahren: Aus den Umständen der frühen Kindheit und aus weitverbreiteten, kulturell akzeptierten Mythen, die Unsterblichkeitssysteme sowie die Existenz einer persönlichen, alles beobachtenden Gottheit einschließen.

Der klinische Ausdruck dieser beiden grundlegenden Abwehrstrategien wurde für mich besonders klar, als ich zwei Patienten in zwei aufeinander folgenden Stunden begegnete, die ich Mike und Sam nenne. Sie ermöglichen das Studium der zwei Arten der Todesverleugnung auf eindrucksvolle Weise; der Gegensatz zwischen den beiden ist erstaunlich; und jeder von ihnen wirft durch die Illustration der gegenteiligen Möglichkeit Licht auf die Dynamik der anderen.

Mike, der fünfundzwanzig Jahre alt war und durch einen Onkologen an mich verwiesen worden war, hatte ein hochgradig bösartiges Lymphom, und obwohl eine neue Form der Chemotherapie die einzige Chance für sein Überleben anbot, weigerte er sich, bei der Behandlung zu kooperieren. Ich sah Mike nur einmal (und war für dieses Treffen fünfzehn Minuten zu spät dran), aber es war leicht erkennbar, dass das Leitmotiv seines Lebens Individuation war. Er hatte früh in seinem Leben gegen jede Form der Kontrolle gekämpft und bemerkenswerte Fähigkeiten der Unabhängigkeit entwickelt. Vom zwölften Lebensjahr an hatte er sich selbst ernährt, und mit fünfzehn zog er aus seinem Elternhaus aus. Nach der Highschool ging er zu einem Bauunternehmen und beherrschte bald alle Aspekte dieses Gewerbes – Tischlerei, Elektro-Installationen, Sanitärinstallationen, Maurerarbeiten. Er baute mehrere Häuser, verkaufte sie mit beträchtlichem Gewinn, kaufte ein Boot, heiratete und segelte mit seiner Frau um die Welt. Er fühlte sich von der unabhängigen, individualistischen Kultur, die er in einem Entwicklungsland gefunden hatte, angezogen und bereitete sich auf die Emigration vor, als vier Monate, bevor ich ihn sah, sein Krebs entdeckt wurde.

Das erstaunlichste am Interview war Mikes irrationale Haltung gegenüber chemotherapeutischer Behandlung. Natürlich war die Behandlung außerordentlich unangenehm, würde Schwindelgefühle und Übelkeit hervorrufen, aber Mikes Angst ging über alle vernünftigen Grenzen hinaus: Er konnte in der Nacht vor der Behandlung nicht schlafen; er entwickelte ernsthafte Angstzustände und war ständig mit Möglichkeiten beschäftigt, wie er die Behandlung umgehen konnte. Was genau fürchtete Mike an der Behandlung? Er konnte es nicht spezifizieren, aber er wusste, dass es etwas mit Unbeweglichkeit und Hilflosigkeit zu tun hatte. Er konnte es nicht ertragen zu warten, während der Onkologe das Medikament zur Injektion vorbereitete. (Es konnte nicht vorher präpariert werden, weil die Dosis von seinem Blutbild abhing, das vor jeder Anwendung überprüft werden musste.) Am schrecklichsten von allem war jedoch die intravenöse Injektion: Er hasste das Eindringen der Nadel, das Abtupfen, den Anblick der Tropfen, die in sein Blut gingen. Er hasste es, hilflos und gebunden zu sein, auf der Liege ruhig liegen zu bleiben, seinen Arm unbeweglich zu halten. Obwohl Mike den Tod nicht bewusst fürchtete, war seine Angst vor der Therapie eine offensichtliche Verschiebung der Todesangst. Es war für Mike wahrhaft fürchterlich, abhängig und erstarrt zu sein: Diese Umstände lösten Schrecken aus, sie waren Äquivalente für den Tod; und die meiste Zeit in seinem Leben hatte er sie durch perfekte Selbstständigkeit überwunden. Er hatte einen tiefen Glauben an seine Besonderheit und seine Unverletzlichkeit und hatte sich bis zum Krebs ein Leben geschaffen, das diesen Glauben bestätigte. Ich konnte für Mike wenig tun, außer dass ich seinem Onkologen vorschlug, dass man Mike beibringen sollte, sich selbst seine Medikation vorzubereiten, und dass man ihm erlaubte, sich selbst die intravenöse Injektion zu geben und diese zu überprüfen. Diese Vorschläge halfen, und Mike beendete seine Behandlung. Er hielt seine nächste Verabredung mit mir nicht ein, rief mich aber an und fragte mich nach einer Kassette für eine Selbsthilfe-Muskelentspannung. Er blieb für die Dauer der onkologischen Nachbehandlung in der Region und entschied sich, seinen Emigrationsplan weiterzuverfolgen. Seiner Frau widerstrebte sein Plan so sehr, dass sie sich weigerte mitzugehen, und Mike setzte allein die Segel.

 

Sam war ungefähr genau so alt wie Mike, ähnelte ihm aber sonst überhaupt nicht. Er kam zu mir in aufgelöstem Zustand, nachdem seine Frau entschieden hatte, ihn zu verlassen. Obwohl er nicht, wie Mike, mit dem Tod im buchstäblichen Sinn konfrontiert wurde, war seine Situation auf einer symbolischen Ebene ähnlich. Sein Verhalten legte nahe, dass er sich einer außerordentlich ernsten Überlebensbedrohung gegenübersah. Er hatte Angst bis zur Panik, er heulte stundenlang ohne Ende, er konnte weder schlafen noch essen, er sehnte sich danach, dass sein Zustand um jeden Preis beendet würde, und erwog ernsthaft, Selbstmord zu begehen. Im Laufe der Wochen verringerten sich Sams Katastrophenreaktionen, aber sein Unbehagen schwelte weiter. Er dachte ständig an seine Frau. Er »lebte nicht im Leben«, wie er es ausdrückte, sondern schlich neben dem Leben her. »Zeit zu verbringen« wurde zu einer bewussten und schwierigen Angelegenheit: Kreuzworträtsel, Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften wurden in ihrer wahren Natur gesehen – als Vehikel, die Leere zu füllen, die Zeit so schmerzlos wie möglich herumzubringen.

Sams Charakterstruktur kann im Zusammenhang mit dem Motiv der »Verschmelzung« verstanden werden – ein Motiv, das im dramatischen Gegensatz zu Mikes »Individuation« stand. Während des Zweiten Weltkriegs war Sams Familie, als er noch sehr jung war, viele Male umgezogen, um den Gefahren zu entfliehen. Er hatte viele Verluste erlitten, einschließlich des Todes seines Vaters, als Sam in der Vor-Adoleszenz war, und den Tod seiner Mutter ein paar Jahre später. Er ging mit seiner Situation um, indem er nahe, intensive Bindungen einging: zuerst mit seiner Mutter und dann mit einer Reihe von Verwandten oder angenommenen Verwandten. Er war jedermanns Mädchen für alles und ständiger Babysitter. Er war ein unverbesserlicher Geschenke-Austeiler, der seine Zeit und sein Geld vielen Erwachsenen großzügig zur Verfügung stellte. Nichts schien für Sam wichtiger zu sein, als geliebt und versorgt zu werden. Nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, wurde ihm auf einmal klar, dass er das Gefühl zu existieren nur hatte, wenn er geliebt wurde: Im Zustand der Isolation geriet er ganz ähnlich einem erschreckten Tier in einen scheintoten Zustand – weder lebendig noch tot. Als wir einmal über seinen Schmerz nach dem Weggang seiner Frau sprachen, sagte er: »Wenn ich allein zu Hause sitze, ist es am schwierigsten, daran zu denken, dass eigentlich niemand weiß, dass ich am Leben bin.« Wenn er allein war, aß er kaum oder versuchte, nur die allerprimitivsten Bedürfnisse zu befriedigen. Er säuberte sein Haus nicht, er wusch sich nicht, er las nicht; obwohl er ein begabter Künstler war, malte er nicht. Es gab, wie Sam es formulierte, keinen Grund, »Energie zu verschwenden, wenn ich nicht sicher bin, dass sie mir durch jemand anderen zurückgegeben wird.« Er existierte nicht, wenn niemand da war, der seine Existenz für gültig erklärte. Wenn Sam allein war, verwandelte er sich selbst in eine schlafende Spore, bis ein anderer Mensch ihn mit Energie versorgte, die sein Leben wiedererweckte.

Zu Zeiten der Bedürftigkeit suchte Sam nach Hilfe bei älteren Menschen aus seinem Leben: Er flog quer über den Kontinent, um ein paar Stunden Trost im Haus angenommener Verwandter zu finden; es war unterstützend für ihn, einfach vor dem Haus zu stehen, in dem er und seine Mutter einst vier Jahre lang gelebt hatten; er hatte astronomisch hohe Telefonrechnungen wegen seiner Rat- und Trostsuche bei anderen; er fand viel Unterstützung bei seinen Schwiegereltern, die sich wegen Sams Zuneigung zu ihnen (mit ihrer Liebe) auf seine Seite schlugen und nicht auf die ihrer Tochter. Sams Bemühungen, sich selbst in seiner Krise zu helfen, waren beachtlich aber einförmig: Er versuchte auf vielen Wegen, seinen Glauben zu verstärken, dass irgendeine beschützende Gestalt über ihn wache und für ihn sorge.

Trotz seiner extremen Einsamkeit war Sam nicht bereit, Schritte zu unternehmen, um sie erträglicher zu gestalten. Ich machte ihm ein paar praktische Vorschläge, wie er Freunde treffen könnte: Zusammenkünfte von Alleinstehenden, soziale Aktivitäten der Kirche, Sierra-Club-Aktivitäten, Kurse für Erwachsenenbildung und so weiter. Meine Ratschläge blieben, sehr zu meiner Verwirrung, völlig unbeachtet. Allmählich verstand ich: Es war für Sam trotz seiner Einsamkeit nicht wichtig, mit anderen zusammen zu sein, sondern seinen Glauben an einen letzten Retter zu bestätigen. Er war eindeutig dagegen, Zeit außerhalb seines Hauses auf Treffen von Alleinstehenden zu verbringen. Der Grund? Er fürchtete, einen Telefonanruf zu verpassen! Ein Telefonanruf von »da draußen« war unendlich viel mehr wert, als sich einem Dutzend sozialer Aktivitäten anzuschließen. Vor allem wollte Sam »gefunden« werden, beschützt, gerettet werden, ohne um Hilfe bitten und seine eigene Rettung bewerkstelligen zu müssen. Tatsächlich ging es Sam auf einer tieferen Ebene schlechter bei erfolgreichen Anstrengungen, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass er sich in seinem Lebensdilemma selbst half. Ich traf Sam über einen Zeitraum von vier Monaten. Als es ihm besser ging (durch meine Unterstützung und durch »Verschmelzung« mit einer anderen Frau), verlor er offensichtlich die Motivation, die psychotherapeutische Arbeit fortzuführen, und wir kamen überein, dass es in Ordnung war, sie abzuschließen.

Zwei grundlegende Abwehrstrategien gegen den Tod

Was lernen wir von Mike und Sam? Wir sehen deutlich zwei radikal verschiedene Arten, mit der grundlegenden Angst umzugehen. Mike glaubte fest an seine Besonderheit und persönliche Unverletzlichkeit; Sam glaubte an die Existenz eines letzten Retters. Mikes Empfinden der Unabhängigkeit wurde hypertrophiert, während Sam nicht allein existierte, sondern danach strebte, mit einem anderen zu verschmelzen. Diese zwei Arten sind diametral entgegengesetzt; und obwohl sie sich gegenseitig keineswegs ausschließen, stellen sie eine nützliche Dialektik dar, die es dem Kliniker erlaubt, eine Vielzahl klinischer Situationen zu verstehen.

Wir treffen Mike und Sam zu einer Zeit schwieriger Erfahrungen. Bei keinem der Männer ruft die Krise neue Abwehrstrategien hervor; in der reinsten Form, die möglich ist, beleuchtet sie die Natur und die Begrenztheit ihrer Seinszustände. Das extreme Verhaftetsein, entweder an den Modus der Individuation oder den der Verschmelzung, führt zu einer charakterlichen Rigidität, die offensichtlich schlecht angepasst ist. Mike und Sam weisen extreme Stile auf, die den Stress erhöhen, das Zurechtkommen verhindern und Wachstum verzögern. Mike verweigerte die Teilnahme an einer lebensrettenden Therapie und später an der Nachsorge. Sams intensiver Wunsch nach der vollen Aufmerksamkeit seiner Frau war verantwortlich für ihre Entscheidung, ihn zu verlassen; seine Leidenschaft für Verschmelzung führte zu einer Verstärkung der Qual der Einsamkeit und zur Unfähigkeit, angemessen mit seiner neuen Lebenssituation umzugehen. Weder Mike noch Sam waren irgendwie fähig, an der Krise zu wachsen. Fehlangepasstes und rigides Verhalten, das persönliches Wachstum ausschließt, ist per Definition neurotisches Verhalten.

In grob skizzierter Weise stellen die beiden Abwehrstrategien eine Dialektik dar – zwei diametral entgegengesetzte Modi, sich der menschlichen Situation zu stellen. Das menschliche Wesen verschmilzt entweder oder trennt sich, ist eingebettet oder tritt heraus. Der Mensch bestätigt seine Autonomie, indem er »aus der Natur heraustritt« (wie es Rank formulierte7) oder sucht Sicherheit, indem er mit einer anderen Kraft verschmilzt. Entweder er wird sein eigener Vater oder bleibt der ewige Sohn. Das ist sicher das, was Fromm meinte, als er den Menschen beschrieb als einen, der sich entweder »nach Unterordnung sehnt oder Macht begehrt«.8

Diese existenzielle Dialektik bietet ein Paradigma an, das es dem Kliniker erlaubt, die Situation zu »begreifen«. Es gibt viele alternative Paradigmen, jedes von ihnen mit Erklärungskraft: Mike und Sam haben Charakterstörungen – schizoid bzw. passiv abhängig. Mike kann vom Blickwinkel eines fortgesetzten Auflehnungskonflikts mit seinen Eltern, Abhängigkeit, neurotischer Fortsetzung des ödipalen Konflikts oder Angst vor Homosexualität aus gesehen werden. Sam kann vom Blickwinkel der Identifikation mit seiner Mutter und eines unaufgelösten Kummers oder von Kastrationsangst oder einer Familiendynamik, in der der Kliniker seine Aufmerksamkeit auf die Beziehung mit seiner Frau richtet, »begriffen« werden. Der existenzielle Ansatz ist daher ein Paradigma unter vielen, und dessen raison d’etre ist seine klinische Nützlichkeit. Diese Dialektik erlaubt es dem Therapeuten, Daten zu verstehen, die in der klinischen Arbeit oft übersehen werden. Der Therapeut kann zum Beispiel verstehen, warum Mike und Sam so übermäßig und manieristisch auf ihre schmerzhafte Situation reagierten, oder warum Sam vor der Aussicht zurückschreckte, seine Situation durch Übernahme von Eigenverantwortung zu »verbessern«. Diese Dialektik erlaubt es dem Therapeuten, den Patienten auf der tiefsten Ebene zu involvieren. Sie gründet auf einem Verständnis der ursprünglichen Angst, die in der unmittelbaren Gegenwart existiert: Der Therapeut sieht die Symptome des Patienten als eine Antwort auf die Todesangst an, die ihn gegenwärtig bedroht, nicht als eine Reaktion auf das Auftauchen vergangener Traumata und Stresssituationen. Von daher gesehen betont der Ansatz Bewusstheit, Unmittelbarkeit und Entscheidung – eine Akzentsetzung, die die Hebelkraft des Therapeuten erhöht.

Ich werde im verbleibenden Teil dieses Kapitels diese zwei grundlegenden Formen der Todesverleugnung und die Typen von Psychopathologie, die aus ihr hervorgehen, beschreiben. (Obwohl viele der bekannten klinischen Syndrome im Sinne dieser beiden grundlegenden Todesverleugnungen gesehen und verstanden werden können, erhebe ich nicht den Anspruch auf ein erschöpfendes Klassifikationssystem – das würde den Anschein größerer Präzision und Durchdringung nahe legen, als es der Fall ist.) Beide Glaubensannahmen, die an die eigene Besonderheit und die an den letzten Retter, können in hohem Maße adaptiv sein. Jede von ihnen kann jedoch überstrapaziert und bis zu einem Punkt überlastet werden, an dem die Anpassung zusammenbricht, die Angst durchsickert, die Person zu extremen Maßnahmen greift, um sich zu schützen, und die Psychopathologie entweder in der Form eines Zusammenbruchs der Abwehr oder eines Weglaufens vor ihr in Erscheinung tritt.

Um der Klarheit willen werde ich zuerst jede der Abwehrstrategien getrennt besprechen. Ich werde sie dann wieder integrieren müssen, denn sie sind auf komplexe Weise wechselseitig voneinander abhängig: Die große Mehrheit der Menschen hat Spuren beider Abwehrstrategien, die in ihre Charakterstrukturen eingewoben sind.

 
Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?