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Inhalte, Methoden und Ziele eines kritischen Posthumanismus

Nach dieser ersten negativen Bestimmung stellt sich die Frage nach den positiven Inhalten und Zielen kritisch posthumanistischer Theoriebildung sowie nach den Mitteln und Methoden, mit denen diese Inhalte und Ziele zum Thema gemacht beziehungsweise erreicht werden sollen. Trotz der eben erwähnten thematischen Vielfalt, kann kritischer Posthumanismus mit einigen geteilten Problemlagen und theoretisch-praktischen Annahmen identifiziert werden, auf denen im Folgenden der Fokus liegen wird.

Ausgehend von der noch zu begründenden These der radikalen Verstrickung des Humanen, Nicht-Humanen, Inhumanen und Ahumanen9 geht es kritischen Posthumanismen einerseits um die Beforschung der posthumanistisch konfigurierten Welt, d.h. um die Reflexion der über die Technowissenschaften vermittelten »posthumanistische[n] Neukonfiguration von Natur und Mensch beziehungsweise auch von Körper, Subjektivität, Maschine oder Identität« (Weber 2003b: 222). Doch was hat es mit jenen sogenannten Technosciences, denen innerhalb der posthumanistisch konfigurierten Welt eine so zentrale Rolle zukommt, auf sich? Unter einer historischen Hinsicht verweist der Begriff der Technoscience auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen, d.h. ökonomischen, politischen und kulturellen Umwälzungen, die sich angesichts stark veränderter Formen der Wissens- und Erkenntnisproduktion in den postindustriellen Gesellschaften ab Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen haben. Technowissenschaftliches Wissen ist demnach heutzutage zu einem wesentlichen (wenn auch nicht alles determinierenden) gesellschaftspolitischen Faktor geworden – sei es auf institutioneller, ökonomischer, militärischer oder ideologischer Ebene. Sowohl für Bruno Latour als auch für Donna Haraway ist mit Technoscience allerdings vielmehr verbunden als bloßes Produkt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sein. Latour verwendet den auf den belgischen Philosophen Gilbert Hottois zurückgehenden Begriff, um den Bruch zwischen den Laboren des 18./19. Jahrhunderts und jenen des späten 20. Jahrhunderts zu begreifen. Historisch betrachtet diente das Labor als ein Ort, Natur in eine kontrollierte und abgeschlossene Umgebung zu bringen, wobei die Wände des Labors im Falle einer Panne sicherstellen sollten, dass das Unbekannte und Nicht-Kontrollierbare nicht in die Gesellschaft durchdringt. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts ändert sich die Lage radikal: Die Welt selbst scheint zu einem gigantischen, offenen Labor geworden zu sein, so dass alle, auf die eine oder andere Weise, an kollektiven Experimenten teilhaben – man denke an die globale Erderwärmung, das Ozonloch, Atomwaffentests etc. Latour zufolge zeichnet genau dieses Phänomen die Technowissenschaften aus. Demnach ist Technoscience nicht einfach bloß Science plus Technology, sondern benennt eine soziale Realität, deren Kennzeichen es ist, von multiplen Verschränkungen zwischen wissenschaftlichen, technischen und anderen Aktanten – menschlicher wie nichtmenschlicher Art – durchzogen zu sein.10 Die Technosciences, so Haraway, die immer auch die Ambivalenzen bezüglich der technowissenschaftlich induzierten gesellschaftlichen Neuordnung(en) betont, sind angesichts ihres biokapitalistischen wie militärischen Nutzens fatal; in Bezug auf unerwartete Begriffsverschiebungen sowie die Eröffnung anderer Formen und Möglichkeiten des Lebens birgt der technowissenschaftliche Wandel aber zugleich emanzipatorische Potentiale. Haraway ist insofern darauf bedacht, dass ihre Figurationen, wie beispielsweise die Cyborg, sich weder in utopistisch technophile noch in dystopistisch technophobe Zukunftsvisionen eingliedern lassen. Darüber hinaus unterstreicht sie stets auch die problematischen Seiten des »transdisziplinären Wissenstransfers« (Weber 2003a), d.h. des Austausches von Begriffen, Konzepten und Metaphern zwischen Geistes-/Sozial- auf der einen und Natur-/Technowissenschaften auf der anderen Seite. So hält sie fest, dass »[d]as US-Militär wahrscheinlich zu den Institutionen [gehört], die sich heute weltweit am meisten für die Netzwerktheorie interessieren. Das heißt nicht, dass wir diese Bilder nicht mehr für die eigene Arbeit verwenden sollten, es sollte uns aber zu denken geben.« (Haraway 1995: 118)

Neben der Erforschung jener eben skizzierten posthumanistischen Realität geht es kritischem Posthumanismus aber andererseits und zugleich immer auch um eine radikale posthumanistische Theoriebildung, die das hegemoniale, Herrschaftsverhältnisse legitimierende und anthropozentrische Menschen- und Weltbild des Humanismus vom Nicht-Menschlichen, Inhumanen und Ahumanen her infrage zu stellen sucht.11 Denn die Kategorie Mensch ist, wie zu zeigen sein wird, eine zutiefst instabile und veränderliche Konstruktion, die, wie Jennifer Rhee bemerkt, permanent über »acts of boundary-creation and boundary-policing« (Rhee 2013: 313) hergestellt wird beziehungsweise sich daraus ergibt. Als ein Element der Stabilisierung von Macht und Herrschaft können daher im Allgemeinen sogenannte »boundary-drawing practices« (Barad 2007: 93) bezeichnet werden. ›Grenzziehende Praxen‹ zielen auf die Naturalisierung und Fixierung von Differenzen und sind darum niemals unschuldig; sie gehen stets mit Verwerfungen und Ausschlüssen einher. Kritische Posthumanist*innen entlarven diese dem humanistisch-modernen Denkrahmen inhärenten grenzziehenden Praxen, indem sie mithilfe historisch-materialistischer sowie kritisch-diskursiver Analyseverfahren auf den ideologischen12 und historisch-praktischen Kern einer jeden vermeintlich naturgegebenen Grenze verweisen.13 Sie wenden sich damit gegen die für den Humanismus so grundlegenden und bis heute geltenden Spaltungen zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist, Materie und Bewusstsein, Mensch und Nicht-Mensch:

[M]y use of ›posthumanism‹ marks a refusal to take the distinction between ›human‹ and ›nonhuman‹ for granted, and to found analyses on this presumably fixed and inherent set of categories. Any such hardwiring precludes a genealogical investigation into the practices through which ›humans‹ and ›nonhumans‹ are delineated and differentially constituted. A posthumanist performative account worth its salt must also avoid cementing the nature-culture dichotomy into its foundations, thereby enabling a genealogical analysis of how these crucial distinctions are materially and discursively produced. (Barad 2007: 32)

Erklärtes Ziel kritischer Posthumanismen ist es also, die impliziten Annahmen und Grundlagen dieser als absolut gesetzten und jeder Zeitlichkeit enthobenen Dualismen sowie die damit einhergehenden blinden Flecken des Humanismus, die mit seinen Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit, Objektivität und Rationalität ebenso wie mit anderen westlichen Denkpraxen und Seinsgewissheiten einhergehen, offenzulegen. Anstatt sich also ad hoc ›nach‹ einem zu bestimmenden Humanismus zu verorten, versuchen kritische Posthumanismen den humanistischen Diskurs eher von innen heraus zu dekonstruieren und verweigern sich somit einer ausschließlich historischen Definition.14 Wie Cary Wolfe bemerkt, ist kritischer Posthumanismus daher paradoxerweise ebenso ›vor‹ ›dem‹ Humanismus zu verorten und zwar dahingehend, dass er die körperliche Abhängigkeit/Verkörperung (embodiment) des »human animal« wie auch seine kontextuelle Eingebundenheit (embeddedness), seine »prothetische Ko-evolution« sowie »all das, was vor dem historisch spezifischen Ding namens ›Mensch‹ kommt« (Wolfe 2010: 15) herausstellt. Es geht in kritisch posthumanistischer Theoriebildung dementsprechend auch immer darum, »anerkannte Konzeptionen von Menschlichkeit herauszufordern und für Diskussionen offenzuhalten« (Suchman 2007: 239). Demgegenüber führt die ahistorische, »pre-scientific ›philosophical anthropology‹« (Soper 1986: 12) des Humanismus zu einer Mystifizierung des Menschen und in weiterer Folge zu dem, was Haraway »human exceptionalism«15 nennt, also der Vorstellung, der Mensch nehme qua seines Menschseins eine absolute Sonderstellung in der Natur ein. Dieser Anthropozentrismus steht nicht nur für menschlichen Chauvinismus jeglicher Couleur, sondern strukturiert und organisiert als diskursives Ordnungsschema die Art und Weise wie Wirklichkeit verstanden und Wissen produziert wird. Dass Anthropozentrismus und Humanismus in enger Verbundenheit stehen, zeigt sich nicht zuletzt in der Abwertung alles und aller vermeintlich Anderen. Kritische posthumanistische Theorie ist daher immer auch mit einer radikalen Kritik am Anthropozentrismus verbunden: Wenn ›wir‹ uns in einem »posthumanen Zustand« (Braidotti 2013a) oder im »Zeitalter der Technoscience« (Weber 2003a)16 befinden, in dem die sichtbaren Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Natürlichem und Artefaktischem, Organischem und Anorganischem angesichts der exzessiven Erzeugung von Hybriden17, Cyborgs und Chimären noch instabiler und fließender werden,18 wird die Auffassung des Menschen als alleiniger Gestalter von Welt umso fraglicher und die Frage, welche Ausschlüsse und Abwertungen mit der humanistischen Konzeption des Menschen verbunden sind, noch dringlicher.

Wie ist nun aber der Mensch ›des Humanismus‹ beschaffen und was ist unter Humanismus zu verstehen? Abgesehen von der Heterogenität und Pluralität der historischen Humanismen,19 lassen sich einige geteilte wie sich gegenseitig stützende und implizite Annahmen unterschiedlicher Humanismen herausdestillieren: Erstens die Behauptung einer universellen, d.h. unsituierten und entkörperlichten ›menschlichen Natur‹, zu der wesentlich und notwendig bestimmte Vermögen wie vor allem Selbstbewusstsein, Rationalität und Handlungsfähigkeit gehören. Zweitens das Ideal einer bürgerlich-liberalen Subjektivität sowie drittens die Annahme allgemeingültiger Wahrheiten und Normen. Äußerst problematisch ist hierbei, dass der Mensch des Humanismus kaum etwas mit dem statistisch gesehen durchschnittlichen zu tun hat, insofern er lediglich den weißen, westlichen, heterosexuellen, bürgerlichen, erwachsenen und gesunden Mann als einen solchen anerkennt.20 Dieser Norm gelten die »sexualisierten, rassifizierten, naturalisierten Anderen«21 (Braidotti 2013a: 26) als wesentlich verschieden. Der humanistische Mensch ist daher ein standardisiertes Herrschaftsinstrument, mit dessen Hilfe alle Anderen bemessen, normiert, normalisiert, reguliert und einem gesellschaftlichen Ort zugewiesen werden. Diana Fuss hält in diesem Sinne fest, dass die Kategorie Mensch niemals eine unschuldige war, sondern als normalisierte und normalisierende immer schon der Legitimation von Ausgrenzung und Ausbeutung diente:

 

That the human has a history comes as no surprise to those subjects so routinely and so violently excluded from its ideological terrain. In the past, the human has functioned as a powerful juridical trope to disenfranchise slaves, immigrants, women, children and the poor. [...] In America, the human continues to be deployed as a weapon of potent ideological force, its unstable boundaries perpetually challenged and redrawn to exclude entire groups of socially disempowered subjects: the homeless, mothers on welfare, blacks in prison, people with HIV/AIDS, illegal ›aliens‹. The human is not, and has never been, an all inclusive category. (Fuss 1996: 1f.)

Dass der Mensch und Subjektivität historisch-diskursive, höchst ideologische Konstrukte sind, wird vom Humanismus allerdings systematisch geleugnet. Das kritisch posthumanistische Interesse, das humanistische Menschen- und Subjektbild zu dekonstruieren, entstammt daher zuallererst dem politischen Anspruch, der im Namen des ethnisch, soziologisch, geschlechtlich wie sexuell standardisierten Menschen ausgeübten Herrschaft die Legitimation zu entziehen. In einer solchen Bewegung soll aber nicht nur die humanistische Vorstellung die humanistische Konzeption des Menschen dekonstruiert werden; vielmehr geht es immer auch darum, sich ›den Menschen‹ mit »größerer Genauigkeit, größerer Kenntnisnahme seiner Körperlichkeit (embodiment), Situiertheit (embeddedness) und Materialität« anzusehen, zu untersuchen, »wie diese [Körperlichkeit, Situiertheit, Materialität, Anm. I.A.] Bewusstsein, den Geist usw. formen und im Gegenzug von diesen geformt werden« (Wolfe 2010: 120). Jener pragmatistisch-postanthropologische Ansatz eines kritischen Posthumanismus steht in diesem Sinne in drastischem Gegensatz zur wesensphilosophisch orientierten und naturalistisch beschaffenen philosophischen Anthropologie. Denn ein solcher Ansatz widersteht und widerspricht »jedem Versuch, eine eigentliche menschliche Natur von den konkreten sozialen und technischen Kontexten abzulesen« (Rölli 2010: 3). Das humanistische Begehren nach Universalisierung, Normierung und Essentialisierung kann im Umkehrschluss als Versuch gedeutet werden, die Kontingenz, Situiertheit, Historizität und spezifischen Körperlichkeit des Menschen zu leugnen, um für einen bestimmten Menschen Privilegien zu sichern und diese anderen zu verwehren.

Darüber hinaus benötigt der Mensch jenes geschilderten Humanismus zur eigenen Konstruktion immer auch das Nicht-Identische/Andere/Inhumane als Negativfolie und erzählt sich daher aus posthumanistischer Sicht eine fragwürdige Erfolgsgeschichte: Er ist deshalb die Krone der Schöpfung, weil er sich der Fesseln des Animalischen, Biologischen, Evolutionären entledigt, d.h. die Grenzen des Materiellen und des Körpers transzendiert hat. In diesem Sinne führt der Transhumanismus, stets darum bemüht, alles Leibliche hinter sich zu lassen, in der Tat zu einer »Verschärfung des Humanismus« (Wolfe 2010: 15.) und steht insofern einem kritischen Posthumanismus antithetisch gegenüber. Dass der Transhumanismus auf dem rationalistischen Humanismus basiert, sozusagen dessen Erbe weiterführt, wird von den Vätern des Transhumanismus – wenig erstaunlich handelt es sich bei den meisten Transhumanisten um Männer – ganz offen ausgesprochen, ja zelebriert. So macht Nick Bostrom, Doyen des Transhumanismus, Mitbegründer der World Transhumanist Association und Philosophieprofessor an der renommierten Oxford University, keinen Hehl daraus, dass »der Transhumanismus seine Wurzeln im rationalen Humanismus hat« (Bostrom 2005: 2) – wohl nicht zuletzt aus dem strategischen Grund, transhumanistisches Gedankengut gesellschaftsfähig zu machen. Das Verdrängte in der Evolution des Menschen, das Nicht-Menschliche, Monströse, Amenschliche zu rehabilitieren und in die Geschichte der Menschwerdung zu integrieren, auch das ist deshalb Teil und Programm kritischer Posthumanismen.

Kritischen Posthumanismen zufolge ist der Mensch oder das Menschliche also als Resultat oder Effekt des »Humanismus als ideologischem Diskurs« (Herbrechter 2009: 19) innerhalb der modernen Gesellschaftsformation zu verstehen. Folglich kann auch die angenommene Grenze zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem nicht mehr als natürlich gegeben angesehen werden, sondern als spezifisch historischen Konstruktionsweisen unterliegend, die ihrerseits mit spezifischen sozialen und materiellen Konsequenzen verbunden sind. Dann aber muss sich die humanistische Frage nach einem essentiellen ›Wesen‹ des Menschen notwendig hin zur kritisch posthumanistischen und materialistischen Frage verschieben, auf welcher ideologischen und sozialhistorischen Grundlage ›wir‹ uns im Allgemeinen auf unsere Spezies beziehen und welche Politiken damit verknüpft sind.22 Mit kritischem Posthumanismus geht also die denaturalisierende, historisch-materialistische, aber eben auch postanthropozentrische beziehungsweise posthumanistische Einsicht einher, dass

Mensch und Humanität historisch-kulturelle Konstrukte, nicht ideologiefreie transzendentale Begriffe [sind], und daher in größere Zusammenhänge wie Ökosystem oder Technik oder Evolution eingefügt werden [müssen]. (Herbrechter 2009: 13)

Je ernster die Idee des kritischen Posthumanismus denn auch in seiner politisch-praktischen Hinsicht genommen wird, desto radikaler auch die politisch-ethischen Konsequenzen beziehungsweise Forderungen, wie sie beispielsweise im Antispeziesismus formuliert sind. Denn Antispeziesismus ist in der Tierbefreiungsbewegung, der Tierethik und Teilen der (critical) human-animal studies die Forderung nach einem Ende der Ausbeutung und Unterdrückung von Tieren aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zur Spezies Mensch beziehungsweise ihres ›Tierseins‹. Speziesismus weist für Antispeziesist*innen Strukturähnlichkeiten mit Rassismus oder Sexismus auf. Ziel muss folglich die Dekonstruktion beziehungsweise Auflösung der Kategorie Spezies und das Ende der Tierausbeutung sein. Selbst die radikale Linke, die, mit dem marxistischen Literaturtheoretiker Fredric Jameson (1995) gesprochen, ihr ›politisch Unbewusstes‹ an diesem Punkt allzu gerne ignoriert, verbleibt weiterhin im humanistischen Diskurs – obschon in seiner sozialistischen, vielleicht auch (methodisch) antihumanistischen Variante –, wenn die (organisierte, massenhafte, gewaltsame) Tötung von Tieren als ethisch unbedenklich angesehen und der antispeziesistische Vorstoß für die ›Befreiung des Menschen‹ oder im Sinne einer revolutionären Bündnispartnerschaft als irrelevant und irrational abgetan wird.

Dennoch sollte es nicht um eine pauschale Verwerfung des Humanismus gehen, ist es doch eine Illusion zu glauben, ihn so leicht hinter sich lassen zu können. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, kritisch-dekonstruktivistisch wie historisch-materialistisch herauszuarbeiten, wie der Humanismus über seine philosophischen Bezüge – die ihn zugleich erst hervorbringen – seine eigenen Ansprüche untergräbt. Denn es ist der Logik des Humanismus geradezu eingeschrieben, seine Ideale zu pervertieren.23 Die »Krise des Humanismus« entspringt daher auch nicht erst der posthumanistischen Neukonfiguration der Welt, sondern ist dem Humanismus inhärent.24 Eindeutig wurde jene Krise durch die im Namen von Humanismus und Aufklärung verübten Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So bemerkt Michel Foucault: »[I]nsofern als alle Regime des Ostens oder des Westens ihre schlechte Ware unter der Flagge des Humanismus durchbringen, ist es im Augenblick unsere Aufgabe, uns endgültig vom Humanismus zu befreien.« Angesichts der gegenwärtig so zahlreich in Anschlag gebrachten Rückbesinnungen auf humanistische Werte und Ideale zum Zweck der Rechtfertigung äußerst problematischer Politiken, hat Foucaults Beobachtung nichts an Aktualität eingebüßt.25 Foucault begreift daher die Aufgabe, sich endgültig vom Humanismus zu befreien auch als »eine politische Arbeit« (Foucault 1967: 93). Und falls der uns geläufige Mensch ohnehin, wie Foucault in posthumanistischer Fasson in Die Ordnung der Dinge kritisch-diskursiv meint, »eine Erfindung der jüngeren Vergangenheit« (Foucault 1971: 571), d.h. ein historisch-diskursives Phänomen ist, das angesichts der massiven posthumanistischen Neukonfigurationen vielleicht sogar bereits ›verschwunden‹ ist, sollten an die Stelle der »humanities« (Geistes- und Kultur, sowie Teile der Sozial- und Humanwissenschaften) kritische »posthumanities« treten: Disziplinengrenzen überschreitend und disziplinenunabhängig wären diese nicht nur imstande, so die Überzeugung, den nunmehr als erweitert zu denkenden Untersuchungsgegenstand Mensch wie seine ›Anderen‹ adäquater zu fassen, sondern zugleich orthodoxe und unhinterfragte Kategorien, Methoden und Begriffe einer kritischen Prüfung zu unterziehen als auch Perspektiven für egalitärere Formen der Wissens- und Erkenntnisproduktion zu entwickeln.26 Kritischer Posthumanismus ist daher mit Neil Badmington

not the property or progeny of any particular academic discipline; on the contrary, it touches and troubles across the lines that conventionally separate field from field, mode from mode. (Badmington 2011: 381)

Dezentrierung des Menschen und kritisch posthumanistische Subjektivität

Was also im Sinne kritisch posthumanistischer Theoriebildung notwendig ist, ist eine Dezentrierung und Prothetisierung des Menschen, und zwar sowohl in theoretisch-analytischer als auch in methodischer Hinsicht. Dies impliziert, dass es eine radikale, das heißt posthumanistisch-postanthropozentrische Neukonzeptualisierung von Humanität und Subjektivität braucht. So bedeutet bei Haraway Subjektivität »zunächst raum-zeitlich situierte Verkörperung« (Becker-Schmidt 1998: 113). Subjektivität ist damit nicht an bestimmte Wesensmerkmale beziehungsweise eine bestimmte attributive Ausstattung wie etwa Bewusstsein gebunden und das heißt auch und vor allem nicht ausschließlich an den Menschen.27 Gleichermaßen versteht Braidotti das Subjekt primär als »ein Raumzeitgefüge, das die Grenzen von Werdensprozessen absteckt« (Braidotti 2018: 22).28 Weil Subjektivität, obwohl theoretisch wie praktisch kaum begründbar,29 im humanistisch-modernen Diskurs allerdings auf menschlich-selbstbewusste beschränkt wird, lässt sich der anthropozentrische Subjektbegriff des Humanismus mit Haraway als »unmarkierte Kategorie«30 und Ausdruck der Ideologie des »human exceptionalism« fassen. Die Dezentrierung und Prothetisierung des Menschen bedeutet daher auch, dass der Homo sapiens in Hinblick auf Geschichte, Kultur und Wissenschaft nicht länger als alleiniger und wesentlicher Bezugspunkt, als »Maß aller Dinge« (Braidotti 2013a: 2) gelten kann. Foucault hält bezüglich des Humanismus fest, dass es nicht nur erforderlich ist, »das traditionelle Bild, das man sich vom Menschen gemacht hatte, aus[zu] [löschen], sondern [...] sogar die Idee vom Menschen in der Forschung und im Denken überflüssig zu machen« und eben genau nicht, wie es die humanistische Doktrin nahelegt, »den Menschen zu retten, den Menschen im Menschen wiederzuentdecken usw.« und dadurch »die gesamte geistige Arbeit zur Sterilität [zu] verdamm[en]« (Foucault 1967: 93).31 Erklärtes Ziel kritischer Posthumanismen ist es daher, endgültig »der menschlichen Perspektive zu entkommen« (Stengers 2011: 2), wie Isabelle Stengers mit Bezug auf Whitehead schreibt. Denn der Mensch, so eine grundlegende Einsicht kritisch posthumanistischen Denkens, gestaltet die von ihm wie auch von nicht-menschlichen Bewohner*innen besiedelten naturetechnosciencecultures nicht allein. Karen Barad möchte eben diesen Umstand mit dem Begriff ›posthumanistisch‹ anzeigen:

 

By ›posthumanist‹ I mean to signal the crucial recognition that nonhumans play an important role in naturalcultural practices, including everyday social practices, scientific practices, and practices that do not include humans. (Barad 2007: 32)

Aufgrund dieser Einsicht, so Neil Badmington, hätte die posthumanistische Debatte in den Jahren ab 2000 einen wesentlichen Aufschwung erhalten:

One thing, however, is certain: posthumanism has become a major site of debate in recent years because anthropocentrism, with its assured insistence upon human exceptionalism, is no longer an adequate or convincing account of the way of the world. (Badmington 2011: 381)

Der Begriff des Anthropozäns behauptet, könnte in gewisser Hinsicht gesagt werden, das Gegenteil. Mit dem Terminus, der im Jahr 2000 vom Atmosphärenforscher und Nobelpreisträger für Chemie, Paul J. Crutzen, popularisiert wurde, ist die Annahme verbunden, in ein geologisches Zeitalter eingetreten zu sein, in dem die Menschheit, verstanden als ein einziges großes Subjekt, zur größten geophysikalischen Kraft auf dem Planeten Erde geworden ist. Insofern der Begriff auf die oftmals fatalen ökologischen Auswirkungen menschlicher Handlungen verweist und hierüber Stimmen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die sich mit Ökologie im weitesten Sinne beschäftigen (Umwelt- und Klimaforschung, aber auch Kunst-, Kultur- und Geisteswissenschaften) beispielsweise gegen die Leugnung des Klimawandels vereint, ist er als durchaus emanzipativ zu bewerten. Andererseits aber ist der Begriff zu unterkomplex und unkritisch. Er führt darüber hinaus zu einer Reifizierung der Begriffe Natur und Mensch, womit er dem Humanismus zutiefst verpflichtet bleibt. Um darauf hinzuweisen, dass nicht die ganze Menschheit gleichermaßen für den Klimawandel verantwortlich zu machen ist, sondern die globale Verteilung von Macht und Ressourcen innerhalb des Kapitalismus, setzten sich kritische Forscher*innen und Theoretiker*innen wie Andreas Malm, Jason W. Moore oder T. J. Demos dafür ein, anstatt von ›Anthropocene‹ von ›Capitalocene‹ zu sprechen.32 Haraway geht mit ihrem Begriff ›Chthulucene‹ noch einige Schritte weiter: sie benennt mit dem Terminus, im Gegensatz zu reduktionistischen und essentialistischen Konzeptionen des Menschen und seiner ›Anderen‹, die post-anthropozentrische Epoche von Multispezies Assemblagen. Im Sinne eines kritischen Posthumanismus betont Haraway mit dem Konzept der ›Chthulucene‹ die »Sympoiesis« (»co-becoming«, »worlding-with«, »becoming-with each other«33), die produktive Wirksamkeit Speziesgrenzen überschreitender Kollaborationen, und damit auch die geteilte ›agency‹ bei Phänomenen wie beispielsweise dem Klimawandel.34

Es sollte nun deutlich geworden sein, dass kritischer Posthumanismus nicht die Aufhebung, Überwindung oder Perfektionierung des Menschen beabsichtigt,35 sondern lediglich das Ende einer bestimmten Konzeption des Menschen (oder auch der Wissenschaft, der Kultur, der Technik etc.) eruiert und forciert, nämlich das Ende der wesensphilosophisch-humanistischen: Nach dem Humanismus ist also, wie weiter oben schon erwähnt, ebenso vor dem Humanismus beziehungsweise

[n]ach dem Menschen [...] vor dem Menschen, doch zwischen Endlichkeit und Erneuerung besteht die Möglichkeit des ganz ›anderen‹ Menschen. Dies ist die Ambiguität, die jedem Präfix ›Post-‹ innewohnt. (Herbrechter 2009: 19)

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