Doch, es gibt eine andere Wirklichkeit

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Meditationen zu Texten von Etty Hillesum

I – Ich mit meiner „verstopften Seele“

„Da saß ich nun bei ihm [bei Julius Spier] mit meiner ‚verstopften Seele‘. Er sollte Ordnung in das innere Chaos bringen, die Leitung über die in mir wirkenden widersprüchlichen inneren Kräfte übernehmen. Er nahm mich sozusagen an die Hand und sagte: Schau her, so musst du leben! – Mein Leben lang hatte ich den Wunsch: Käme doch nur jemand, der mich an die Hand nähme und sich mit mir befasste; ich scheine tüchtig zu sein und mache alles allein, aber ich würde mich so schrecklich gern ausliefern! Und da kam nun dieser wildfremde Herr S. mit seinem komplizierten Gesicht und widmete sich mir; schon in einer Woche hatte er Wunder bei mir bewirkt. Gymnastik, Atemübungen, erhellende, erlösende Worte über meine Depressionen, mein Verhältnis zu anderen usw. Und ich lebte plötzlich anders, befreiter, flüssiger, das Gefühl der Verstopfung verschwand, im Inneren stellte sich eine gewisse Ordnung und Ruhe ein, vorläufig alles noch unter dem Einfluss seiner magischen Persönlichkeit, aber es wird sicher bald auch in der Psyche greifen und zu einem bewussten Akt werden“ (VB 12f, vgl. DDH 16).

So schildert Etty die Ausgangslage ihres Wegs der „Wiederherstellung“ und der Erweckung zu einem neuen Leben. Es war ein erstaunlich schnell durcheilter Weg, auf dem sie mit großen Schritten vorankam. Keine drei Jahre liegen zwischen der ersten Sitzung bei Julius Spier, den sie in ihren Aufzeichnungen einfach nur „Herr S.“ nennt, und jenem 30. November 1943, an dem sie nach einer Mitteilung des Roten Kreuzes im Vernichtungslager Auschwitz starb.

Auch wenn es Etty weder an Sensibilität noch an Intelligenz mangelte, so deutete doch erst einmal nichts auf die gewaltige, nachhaltige Veränderung hin, die sie erfahren hat. Sie selbst schrieb: „Bei vielen Problemen des Lebens mache ich einen sehr überlegenen Eindruck, und dennoch: Ganz tief in mir steckt ein geballter Kloß, irgendetwas hält mich fest im Griff, sodass ich manchmal trotz allen klaren Denkens nur ein ängstlicher armer Schlucker bin“ (DDH 13). Dies ist der Ausgangspunkt; hier beginnen ihre Tagebuchnotizen. Etty ist damals 27 Jahre alt.

Mal wurde sie „Don Quichotte im Unterrock“ genannt (von ihrem Vater!), mal mit einer „russischen Carmen“ verglichen (von einem Schweizer auf der Durchreise); auch als „junge, wilde Kirghisin“ hat man sie bezeichnet. Die lebendige, begabte junge Frau war psychisch nicht sehr stabil und litt unter häufig wiederkehrenden depressiven Phasen. An Beziehungen fehlte es ihr keineswegs, doch sie lebte diese sehr chaotisch und hatte so manche Liaison. Das Verhältnis zu ihren Eltern war reichlich stürmisch … Diese Unordnung, in der sich die eine oder der andere ein wenig wiederfinden mag (bei wem wäre schon alles „ruhig und geordnet“?), lässt an die erste Seite der Bibel denken, an den ersten Schöpfungsbericht: Gottes Pläne nehmen Gestalt an auf dem Hintergrund eines großen Chaos, biblisch „Tohuwabohu“ – ein Wort übrigens, das in viele Sprachen Eingang gefunden hat … Ein regelrechtes Tohuwabohu ist die Ausgangsbasis für Gottes schöpferisches Wirken – bis heute. Chaotisch präsentiert sich unsere Welt, chaotisch sind manche Aspekte der Kultur, in die wir eingetaucht sind, chaotisch ist oft genug auch unsere eigene Lebensgeschichte, und genau dies kann zum Ausgangspunkt für Gottes Wirken hier und heute werden.

In der Schöpfungsgeschichte heißt es, Gott habe ein Werk der Trennung vollbracht, der Scheidung von Licht und Finsternis. Arbeitet er nicht ähnlich jene Persönlichkeit heraus, die ein jeder Mensch werden soll? Schon die Geburt ist eine erste Trennung von der Mutter, und dann beginnt ein lebenslanger Prozess, in dem allmählich die eigene Persönlichkeit an Kontur gewinnt. Aus Chaos und Schlamm holt der Schöpfergott uns heraus und erweckt uns – nicht ohne unsere Mitwirkung – geduldig zum Leben, zu unserem Leben.

Etty öffnet sich mit all ihrem Chaos einem gewissen Julius Spier. „Da saß ich nun bei ihm“: Es ist die erste Begegnung mit diesem Autodidakten der Psychochirologie, der bei Carl Gustav Jung psychotherapeutisch ausgebildet worden war. Er war ein Vertreter der „Handlesekunst“ (Chirologie); in den Handlinien sah er so etwas wie ein zweites Gesicht eines Menschen. Spier wollte seinen Klienten helfen, wieder in Einklang mit sich selbst zu kommen. In seiner deutschen Heimat hatte er sich einen gewissen Namen als Therapeut erworben; als Jude war er vor den Nazis nach Amsterdam geflohen. Die Begegnung mit diesem inzwischen 55-jährigen Therapeuten war für Etty nicht „irgendeine“ der zahlreichen Bekanntschaften in ihrem Leben. Es war für sie „die“ Begegnung, ein bahnbrechendes Ereignis; die Entwicklung ihrer Verbindung mit Spier hat ihren weiteren Weg und ihre schriftliche Hinterlassenschaft maßgeblich bestimmt.

Sie selbst hat ihn einmal treffend als „Geburtshelfer ihrer Seele“ bezeichnet. Durch die Beziehung zu ihm fand sie eine neue Freiheit – und in dieser neu gewonnenen Freiheit konnte sie sich auch ihrer Quelle öffnen: jenem geheimnisvollen Gott, dessen Nähe sie immer mehr spürte. Gewiss, ihre Beziehung mit Spier war – wie alles Menschliche, ja selbst die schönsten Dinge machen da keine Ausnahme – nicht frei von Unklarheiten, ja auch gewissen Irrungen. Aus einem therapeutischen Verhältnis wurde sehr rasch eine affektive, leidenschaftliche Beziehung, die auch Momente von Eifersucht kennt. Aber zu keinem Zeitpunkt erschöpft sich ihre Beziehung in ihren auch vorhandenen negativen Aspekten. Als Spier unerwartet schnell starb, war das keineswegs das Ende ihrer Verbindung. Sein Tod bestärkte Etty vielmehr in dem, was zu leben sie schon begonnen hatte: ein Erwachen, ein Kommen zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott – und dies alles in einer einzigen Bewegung, die sich nicht auseinanderdividieren lässt.

Schon bei der ersten Begegnung mit Spier fand Etty innerlich ein wenig Frieden und Ordnung. Für sie ist es etwas „Magisches“, was da passiert. Vertrauensvoll lässt sie sich darauf ein, will aber zur Akteurin dieser unerwartet beginnenden Wandlung werden: „Es wird sicher bald auch in der Psyche greifen und zu einem bewussten Akt werden.“

Beziehungen zu anderen Menschen können wie eine geheimnisvolle Alchimie wirken. Etty hatte geschrieben: „Ich scheine tüchtig zu sein und mache alles allein, aber ich würde mich so schrecklich gern ausliefern.“

Sich selbst im Griff haben und gleichzeitig die Sehnsucht verspüren, sich auszuliefern – wie passt das zusammen? Wie soll man diesen „zweieinen“ Wunsch, der so widersprüchlich scheint, realisieren? Wie soll man beides leben, ohne wie ein Pendel hin und her zu schwanken, ohne von einem Extrem ins andere zu fallen, ohne von den Gefühlsschwankungen eines unsteten Herzens mal hierhin, mal dorthin getrieben zu werden?

Wenn Etty sich nur ausgeliefert hätte, wenn sie sich ausschließlich Spier und seinem Einfluss auf ihre Persönlichkeit überlassen hätte, so hätte sie sich in der Beziehung mit ihm ihrer selbst entfremdet. Nun hat Etty aber weder ihre Freiheit noch diese Beziehung jemals geopfert. Sie ist in dieser Beziehung als Persönlichkeit gewachsen. Mehr noch: Sie merkt, wie sie mit Spiers Hilfe einen Weg beschreitet, auf dem sie sich jemandem zu öffnen und auszuliefern beginnt, den sie allmählich „Gott“ zu nennen wagt. Die Schönheit ihrer Verbindung mit Spier in aller Härte des Alltags hängt mit diesem inneren Weg eng zusammen.

ZUR REFLEXION

Ihr Unbehagen angesichts ihres inneren Chaos hat bei Etty Hillesum einen Prozess in Gang gebracht. Das kann ein Anstoß sein, einmal uns selbst zu fragen, womit wir unzufrieden sind, was uns unruhig macht, ob es auch in unserem Leben so etwas wie ein Tohuwabohu gibt.

Kann ich meine Fehler und Schwachpunkte, mein Chaos, meine Schwankungen annehmen als Einladung, diese Punkte anzugehen und an mir zu arbeiten? Mein inneres Durcheinander und meine Blockaden können mich bedrücken, sie können mir aber auch ein Anstoß sein, mich aufzumachen und etwas zu tun. Kann ich mich darauf einlassen? Stelle ich eventuell fest, dass ich jemand suchen sollte, der mich auf diesem Weg begleitet?

Ja zu mir sagen in all meiner Widersprüchlichkeit und angesichts der Feststellung, dass widersprüchliche Kräfte in mir am Werk sind, das verlangt Mut. Etty hat sich ihrer eigenen Befindlichkeit gestellt. Ihr Zeugnis weckt Zuversicht: Wer sich auf einen solchen Weg macht, bleibt nicht allein.

II – Eine stille Stunde

„Ich glaube, dass ich das tun sollte: morgens vor Beginn der Arbeit eine halbe Stunde lang ‚mich nach innen wenden‘, horchen nach dem, was in mir ist. ‚Sich versenken.‘ Man kann es auch als Meditieren bezeichnen. Aber vor dem Wort graut es mir noch ein bisschen. Aber warum eigentlich nicht? Eine halbe Stunde mit mir selbst allein. Es genügt nicht, morgens im Badezimmer nur Arme, Beine und alle andern Muskeln zu bewegen. Der Mensch besteht aus Körper und Geist. Und eine halbe Stunde Gymnastik und eine halbe Stunde ‚Meditation‘ können zusammen ein solides Fundament für die Konzentriertheit eines ganzen Tages bilden. Nur ist das nicht so einfach, so eine ‚stille Stunde‘. Das will gelernt sein“ (VB 35, DDH 35).

Etty beschließt, das oberflächliche Leben und dieses ständige Sich-im-Kreis-Drehen hinter sich zu lassen. Sie bemerkt, dass sie so vom Alltag in Beschlag genommen ist, dass ihr in ihrer Unruhe alles verschwimmt und sie nicht mehr zu sich selber findet. Doch wie ein Spielball hin und her geworfen zu sein … – ist das eigentlich noch Leben? Sie will dorthin, wo sie wirklich „zu Hause“ ist, und setzt sich klare Prioritäten: „Morgens vor Beginn der Arbeit eine halbe Stunde lang ‚mich nach innen wenden‘, horchen nach dem, was in mir ist. ‚Sich versenken.‘ Man kann es auch als Meditieren bezeichnen.“

 

„Meditieren“, das Wort klingt in ihren Ohren noch fremd. Aber sie ist fest entschlossen, es zu versuchen, sich nach innen zu wenden, in sich selbst hineinzuhorchen.

Doch was bedeutet eigentlich dieses „Selbst“? Wie soll man „zu sich selbst“ kommen? Etty blendet keine Dimension ihres Wesens aus: weder den Körper noch das Herz und das, was sie bewegt. Sie wendet sich dem Dschungel psychischer Regungen zu, in dem man sich so oft verliert und der im gängigen Sprachgebrauch mit so vieldeutigen Begriffen wie „Seele“ oder „Geist“ bezeichnet wird.

„Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar und bewahre euren Geist, eure Seele und euren Leib unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid, wenn Jesus Christus, unser Herr kommt“ (1 Thess 5,23), schrieb der Apostel Paulus im Jahr 51 n. Chr. Ausdrücklich erwähnt er Geist, Seele und Leib: eine Einladung, keine Dimension unseres Wesens auszulassen!

Wie hätte Etty auch ihren „Körper“ vergessen können? Er macht sich immer wieder präsent. Etty stellt fest: „Früher dachte ich, die körperlichen Probleme wie Kopfweh, Magenschmerzen, rheumatische Schmerzen wären eine rein physische Angelegenheit. Heute muss ich feststellen, dass sie nicht zuletzt psychisch bedingt sind. Körper und Seele sind bei mir ganz eng verbunden. Wenn bei mir psychisch oder spirituell etwas nicht stimmt, wirkt sich das ebenso auch physisch aus“ (NG 128).

Sie merkt allmählich, dass ihre Probleme nicht nur physische Ursachen haben: Vieles ist psychosomatischer Natur. Um der engen Verwobenheit von Leib und Seele Rechnung zu tragen, macht sie jeden Morgen im Bad erst einmal eine halbe Stunde Gymnastik, bevor sie dann eine weitere halbe Stunde meditiert. Es ist ihre „stille Stunde“, die, so schreibt sie, „gelernt sein will“.

Ettys „Geist“ und „Seele“ sind von vielerlei Gefühlen beherrscht; sie ringt damit und droht zu ertrinken in diesem mächtigen Strudel von Affekten, der auch die Gedanken hinunterziehen kann. Im Einzelnen spricht Etty von Träumereien, von großartigen Gedanken, von blitzschnellen Intuitionen, von Orgien inneren Lebens … Es ist wie ein seelisch-geistiger Mahlstrom, ein gefährlicher Gezeitenstrom voller Strudel, der sie mitreißt und aller Orientierung beraubt, ein Ozean, der sie jederzeit verschlingen könnte.

So nimmt sie sich jeden Morgen eine Stunde Zeit für einen „inneren Großputz“. Langsam, aber sicher gelingt es ihr, die „verstopfte Seele“ zu befreien und wieder Klarheit zu gewinnen. Erst müssen sich die Dinge absetzen, die ihre Seele trüben – wie beim Dekantieren eines guten alten Bordeaux …

Auch wir werden manches Mal von einem Gefühlswirrwarr überrollt; gestresst, wie wir häufig sind, merken wir gar nicht, wie es uns den Halt verlieren lässt. Oder denken wir an die überbordenden Informationen, die geradezu über uns hereinbrechen. Mehr denn je verspüren wir heute das vitale Bedürfnis, auf Distanz zu all diesen Eindrücken und Emotionen zu gehen, Abstand zu gewinnen, loszulassen und zu entspannen.

Etty schafft es dank ihrer „Aufräumaktion“ mit der Zeit, den Schutt wegzuräumen, der sie innerlich blockiert und ihr „die Seele verstopft“. Sie hat dabei den Eindruck, am Rand „eines tiefen Brunnens“ zu stehen, für den sie den Namen „Gott“ wählt (VB 55).

„Nur ist das nicht so einfach, so eine ‚stille Stunde‘. Das will gelernt sein … Der Zweck des Meditierens sollte sein: dass man sich innerlich zu einer großen Ebene ausweitet, ohne all das heimtückische Gestrüpp, das die Aussicht behindert. Dass etwas von ‚Gott‘ in einem erwächst, wie auch in der Neunten von Beethoven etwas von ‚Gott‘ enthalten ist. Dass auch eine Art ‚Liebe‘ entsteht, keine Luxus-Liebe von einer halben Stunde, in der es sich voller Stolz auf die eigenen erhabenen Gefühle herrlich schwelgen lässt, sondern eine Liebe, mit der man in der kleinen alltäglichen Praxis etwas anfangen kann“ (VB 36, DDH 35f).

Hätte Etty sich nicht einfach in die Bibel hineinvertiefen können, die sie durch Spier kennen- und schätzen gelernt hatte? Mit feinem Gespür nimmt sie wahr, dass dieser Augenblick für sie noch nicht gekommen ist; sie wäre Gefahr gelaufen, die Bibellektüre noch zu „verkopft“ anzugehen.

Sie hat sich in diesem langsamen Prozess der inneren Erneuerung weder durch hin und wieder aufkommende Lustlosigkeit und Verdrossenheit noch durch körperliche Schmerzen aufhalten lassen. Durch alle nie ganz überwundenen Schwierigkeiten und Rückschläge hindurch hat Gott sein Werk in ihr vollendet.

ZUR REFLEXION

Sich nach innen zu wenden, das war für Etty Hillesum ein bewusster „Entschluss“ – mit allem, was dazugehört: geistige Präsenz, das Setzen von Prioritäten, Initiative, Entschlossenheit, Energie, guten Willen und das Einbeziehen des Körpers …

Wie sieht das bei mir aus? Habe ich schon einmal einen solchen Entschluss, eine grundlegende Entscheidung getroffen? Habe ich Wege gefunden, sie im Lebensalltag umzusetzen und durchzutragen?

III – Hineinhorchen

„Und lieben und ‚hineinhorchen‘ in sich und andere, und forschen nach den Zusammenhängen in diesem Leben und nach dir. ‚Hineinhorchen‘, dafür möchte ich einen guten holländischen Ausdruck finden. Eigentlich ist mein Leben ein unablässiges ‚Hineinhorchen‘ in mich selbst, in andere und in Gott. Und wenn ich sage, dass ich ‚hineinhorche‘, dann ist es eigentlich Gott, der in mich ‚hineinhorcht‘. Das Wesentlichste und Tiefste in mir horcht auf das Wesentlichste und Tiefste in dem anderen. Gott horcht auf Gott“ (DDH 176).

Etty hatte beschlossen, den „verrückten Zug“ ihres Lebens anzuhalten: Eine stille Stunde am Morgen sollte ihre inneren Turbulenzen beruhigen, ihr seelisch-geistiges Wirrwarr entflechten und die „seelische Verstopfung“ überwinden. Mit diesem Entschluss allein hat sie schon ein wichtiges Wegstück geschafft. Sie will nicht mehr der ständigen Versuchung äußeren Getriebenseins erliegen, jenen „Zerstreuungen“, wie Blaise Pascal es genannt hat: Er stellte fest, dass sie das Einzige seien, was uns in unserem Elend tröste – und gerade deshalb seien sie das größte Elend; denn sie hinderten uns daran, an unsere wirkliche Lage zu denken, und so verlören wir, ohne es zu merken, uns selbst!

Was aber zeigt sich, was tut sich auf bei der Hinwendung nach innen, in die Tiefe des Herzens? Und was ist das eigentlich: sich nach innen wenden? Etty kommt dafür ein deutsches Wort in den Sinn, für das sie keine genaue niederländische Entsprechung findet: Hineinhorchen. Es ist ein sehr dichtes, prägnantes Wort. Es bezeichnet ein ganz besonderes Hören; es ist etwas anderes als etwa das durch eine Lektüre angestoßene Nachdenken, als Studieren, Reflektieren oder Ähnliches. Mit all diesen geistigen Tätigkeiten ist Etty mehr als vertraut; doch es ist ein nur vermeintliches inneres Leben, das sie bislang geführt hat – mit der Folge, so schreibt sie, dass „ich mich zu sehr in ‚Ausschweifungen‘, in Bacchanalien des Geistes verliere. Vielleicht identifiziere ich mich auch zu stark mit allem, was ich lese und studiere. Jemand wie Dostojewski macht mich immer noch irgendwie kaputt … Mit Denken komme ich ja doch nicht weiter“ (DDH 54).

Hineinhorchen ist etwas anderes: ein ungeteiltes Hören in der Hinwendung zur Wirklichkeit, und zwar so, dass diese Bewegung nicht doch wieder von einer subtilen Eigenliebe umgebogen und auf einen selbst gelenkt wird.

Die Wirklichkeit umfassend in den Blick nehmen, das verlangt die Entschlossenheit, in der Betrachtung der anderen und der Dinge zu verweilen. Wozu Entschlossenheit?, mag jemand einwenden: Ist es denn nicht ganz natürlich, die Welt mit den Sinnen wahrzunehmen, durch Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken, Riechen? Ist nicht auch die geistig-gefühlsmäßige Wahrnehmung eine Selbstverständlichkeit? Wir empfinden doch ganz von selbst eine Sache so oder so, werden uns ihrer bewusst …!? Und dennoch: Das „Verweilen in der wahrnehmenden Betrachtung“ ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Dies sind wir in aller Regel nicht gewohnt, sondern wir ordnen das, was wir wahrnehmen, ganz schnell ein, wir analysieren und brüten vielleicht darüber, wir überlegen, was wir damit machen können … Im „Denken“ der Wirklichkeit verzwecken wir sie oft, fragen uns, was wir damit anstellen können, was wir tun können. Die Wahrnehmung als solche ist auf ein Minimum beschränkt. Etwas einfach wahrnehmen – ohne sogleich zu reagieren und zu versuchen, etwas damit anzufangen oder es zu verändern, das ist gerade in unseren westlichen Gesellschaften eine eher seltene Haltung. Statt offen aufzunehmen, was ist, stürzen wir uns wie versessen aufs „Agieren“ und nehmen das zum Alibi, zum Vorwand, um der mühsamen Aufgabe zu entgehen, uns offen der komplexen Wirklichkeit zu stellen.

Aus der Biologie wissen wir, dass es in unserem Gesichtsfeld einen sogenannten schwarzen Fleck gibt, eine Stelle auf der Netzhaut, die keine Signale empfangen und weitergeben kann. Die Psychologie kennt entsprechende Phänomene: Unbewusst schließen wir ganze Teile der Wirklichkeit aus unserem Bewusstsein aus. Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass Dinge, die unserem Interesse oder dem, was uns gefangen nimmt, zuwiderlaufen, ausgeblendet, gewissermaßen neutralisiert werden. Entweder treten sie erst gar nicht über die Schwelle unseres Bewusstseins, oder sie werden nur beiläufig als mehr oder weniger unwichtig registriert.

„Hineinhorchen“, das bedeutet für Etty, die Wirklichkeit nicht zu reduzieren auf das, was sie auslöst – Interesse, Haben-Wollen oder Ungeduld … Die Dinge sind mehr als das, was sie oberflächlich an Eindrücken wecken. Etty möchte lernen, tiefer wahrzunehmen. Ein gewiss schwieriges Unterfangen! Sie hätte ihre Aufzeichnungen durchaus mit dem Titel von Gandhis Autobiografie überschreiben können: „Meine Experimente mit der Wahrheit“.

Hat nicht alles, was da ist, erst einmal das Recht, da zu sein? Das jedenfalls ist die uneingeschränkte Offenheit, die zum „Hineinhören“ unbedingt dazugehört. In dieser Offenheit ist Etty achtsam auf ihre Affektivität, ihre Gefühle. Sie bringt eine große „Durchlässigkeit“, ein feines Gespür mit und geht nicht über das hinweg, woran sie rührt. Schwachstellen und neuralgische Punkte in ihr werden bloßgelegt, Abgründe und Gräben tun sich auf: Sie hätte daran auch zerbrechen können. Als „Seele ohne schützende Haut“, der es schon weh tut, wenn jemand flüchtig an sie rührt, hat sie sich einmal bezeichnet (VB 56). Im alltäglichen Leben lernt sie zu unterscheiden zwischen zwei nicht zu verwechselnden Haltungen, die sich mit den Begriffen „sich abhärten“ einerseits und „verhärten“ oder „empfindungslos werden“ andererseits beschreiben lassen: „Ich glaube, dass ich jeden Tag mehr abgehärtet werde, aber empfindungslos werde ich wahrscheinlich nie“ (VB 197).

Sich der ganzen Wirklichkeit öffnen, das bedeutete für Etty, auch unangenehme Wahrheiten ertragen zu lernen und sich eine „schützende Haut“ zuzulegen, sich zu stählen. Immer wieder fühlte sie sich kraftvoll und merkte dann doch sehr schnell, wie schwach sie war. Sie musste „abgehärtet“ werden und dabei wachsam sein, dass sie nicht verhärtete und sich nicht mit einem Panzer umgab.

Salomos schönste Bitte an Gott lautet: „Verleihe deinem Knecht ein hörendes Herz“ (1 Könige 3,9). Mit diesem Wort ließe sich Ettys Weg beschreiben. Gott ist nie fern, wo Offenheit ist und Freiheit aufkeimt: Er ist allen nahe, die ihn suchen.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?