Lenchens Baby

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Dann bringe ich dich mal zurück nach Hause und danach trete ich auch die Heimfahrt an. Ich will ja auf dem Weg zur Autobahn noch beim Fleischer anhalten und mir Wurst mitnehmen.« Alexander hatte nicht gesagt, wann er wieder zurück sein würde, doch Heidrun war bestimmt froh, wenn er nicht so spät kam.

»Aber einen Kaffee trinken wir doch noch«, bat Franziska ihren Bruder. Viel zu selten war er hier.

»Das können wir machen«, ließ sich Alexander überzeugen.

Sie brauchten nur wenige Minuten, um den Wohnblock in der benachbarten Stadt wieder zu erreichen. Genauso schnell lief der Kaffee aus der Maschine und kurz darauf verabschiedete sich Alexander dann doch von seiner Schwester.

»Mach´s gut, meine Kleine!« Er hob sie ein wenig an und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Mach´s gut, mein Kleiner!«, erwiderte Franziska und grinste. »Ich spreche mit Michael und du mit Heidrun, dann telefonieren wir. Wäre schön, wenn es klappt!« Alexander zog die Autotür zu und startete den Motor. Noch ein kurzer Druck auf die Hupe, dann gab er Gas und entschwand aus Franziskas Blick.

3

Das war es also gewesen. Mechanisch stellte Franziska die Kaffeetassen in die Spülmaschine. Nun gehörte ihnen nichts mehr von dem, was sie einmal ihr Zuhause genannt hatten. Als kleinen Trost empfand sie das Glück von Annika, Heiko und Lukas. Schon stellte sie sich vor, wie der Junge durch den Garten tobte.

Auf dem Tisch begann ihr Handy zu vibrieren. Sie hatte es am Morgen stumm geschaltet, und so gab es noch immer keinen Ton von sich. Der Blick auf das Display ließ sie lächeln: Michael.

»Hallo Schatz!«, nahm sie das Gespräch entgegen. »Ja, alles soweit gut gelaufen«, antwortete sie auf die Frage ihres Gatten. »Alex ist schon wieder weg. Du weißt doch, er hat nie viel Zeit. Aber wir wollen uns demnächst mal wieder schön zu viert treffen«, bereitete sie ihren Mann auf die Pläne vor, die sie vorhin geschmiedet hatten. »Na klar, das besprechen wir in Ruhe am Sonnabend«, bestätigte sie die Worte, die Michael darauf erwiderte. Nun hörte sie sich geduldig an, wo heute wieder beim Entladen die Säge geklemmt hatte, wo die Autobahn wegen Unfällen gesperrt war und welche Touren er noch fahren musste bis zum Wochenende. Und wie so oft schimpfte er über das Verhalten mancher Berufskollegen.

»Dann bis morgen«, verabschiedete sich Franziska nach einigen Minuten von ihrem Mann. »Und fahr vorsichtig!«

Franziska legte das Handy zurück auf den Tisch und ging ins Arbeitszimmer, um das Bettzeug von Alexander wieder zu verstauen. Sie musste sich ablenken. Die Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Michael war mit Leib und Seele Kraftfahrer. Doch während es früher noch ein angesehener Berufsstand gewesen war, fühlten sich die Fahrer heute eher wie die Deppen der Nation. Michael waren vor allem die vielen ausländischen Laster ein Dorn im Auge, deren Fahrer sich weder an Verkehrsregeln noch an die EU-Gesetze hielten, die ja eigentlich auch für sie galten. Kontrolliert wurden aber überwiegend die inländischen Kraftfahrer, denn kaum ein Polizist war einer der osteuropäischen Sprachen mächtig. Selbst das in der DDR gelehrte Russisch schien in Vergessenheit geraten zu sein.

Ja, sie hatten kurz überlegt, ihr Elternhaus zu übernehmen. Doch schließlich sah sich Michael außerstande, sich neben seinem anstrengenden Beruf noch um ein Haus zu kümmern. Es blieb ihm ja nur das Wochenende. Nun war die Entscheidung endgültig. Der Neubaublock aus den 80er Jahren war immerhin nach der Wende saniert worden und die kleine Wohnung erfüllte voll und ganz ihren Zweck. Von dem Geld würden sie eine schöne Reise unternehmen oder sich in ein paar Jahren ein neues Auto kaufen.

Nachdem sich Franziska noch mit Aufräumen und Putzen beschäftigt hatte, landete sie vor dem Fernseher. Kurz darauf zeigte ihr das Handy den Eingang einer SMS an. Beruhigt las sie den Text von ihrem Bruder. Alexander war gut wieder zuhause angekommen. Von Michael wusste sie, dass er mit dem LKW auf dem Rastplatz stand. Sie ließ sich Wasser in die Badewanne laufen und langsam entspannte sie sich.

Die nächsten beiden Tage verliefen im alltäglichen Einerlei. Die Getreideernte war soweit abgeschlossen, was auch im Büro der Agrargesellschaft Ruhe einkehren ließ. Einst hatte Franziska direkt nach dem Studium in der LPG angefangen. Manchmal erinnerte sie sich mit leichter Wehmut an die Anfangszeit, als sie noch ein junges Küken gewesen war. Von ihren älteren Kollegen hatte sie bestimmt mehr gelernt, als ihr das ganze Studium vermitteln konnte. Nun gehörte sie selbst zu den älteren Kollegen. Der damalige LPG-Vorsitzende war noch immer ihr Chef. Er hatte den Landwirtschaftsbetrieb in die neue Zeit geführt. Was kommen würde, wenn er in ein paar Jahren in den Ruhestand eintrat, konnte noch niemand sagen. Aber irgendwie ging es eben immer weiter. Ihr Optimismus hatte Franzi bisher noch nie verlassen. Und überhaupt, die Arbeit war auch nicht alles. Sie freute sich am Aufwachsen ihres kleinen Enkels und war froh, dass es Anja nicht in die Ferne gezogen hatte. Gemeinsam mit ihrem Freund Timo wohnte sie in Eisleben, gerade einmal fünfzehn Kilometer entfernt. Es war genau

richtig so, dachte Franziska. Weit genug, um ein eigenes Leben führen zu können; und nah genug, um im Notfall für Fränzchen da zu sein. Morgen wollten sie mit ihm in den Zoo fahren.

Franziska schaute zur Uhr. Bald musste Michael kommen. Sie ging in die Küche und begann, das Abendbrot anzurichten.

Endlich, es war bereits dunkel geworden, hörte sie Michaels Schritte auf der Treppe und riss die Wohnungstür auf. »Da bist du ja!« Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss und nahm ihm den Beutel ab, in dem er die leeren Getränkeflaschen die Woche über sammelte.

Während sich Michael im Bad kurz Hände und Gesicht wusch, brachte Franziska das vorbereitete Abendessen ins Wohnzimmer. Wenig später saßen sie sich am Tisch gegenüber und verkündeten wie aus einem Mund: »Wochenende!«

Es war spät geworden am Freitagabend. Michael brauchte seine Zeit, um abzuschalten und mental zur Ruhe zu kommen. Entsprechend spät war es auch, als Franziska und Michael sich am Morgen aus den Federn bewegten.

»Wann wollte Anja den Kleinen bringen?«, fragte Michael seine Frau beim Frühstück.

Als wäre es Gedankenübertragung, piepste Franziskas Handy und zeigte den Eingang einer SMS an. »Fahre jetzt los. Bis nachher. Anja«

»Hier, lies selbst«, hielt sie Michael das Gerät vor die Nase.

»Dann sollten wir mal in die Puschen kommen«, stellte Michael fest und erhob sich, um sich den ersten Platz im Bad zu sichern.

Kaum hatte Franziska den Tisch abgeräumt und sich ebenfalls zurecht gemacht, klingelte es schon an der Tür. Obwohl Anja noch einen Schlüssel besaß, benutzte sie den nur selten. Franz liebte es einfach zu sehr, bei Oma und Opa auf den Klingelknopf zu drücken. Michael betätigte den Türöffner und schon kletterte der Dreijährige flink die Treppe hinauf.

»Gehen wir heute in den Zoo?«, war die erste Frage des Knirpses, noch bevor er seine Oma mit einem feuchten Kuss begrüßte.

»In den Tiergarten«, antwortete Franzi und stellte gegenüber Anja damit direkt klar, dass sie nicht nach Halle fahren würden, wie es ursprünglich einmal gedacht war.

»Nach Bernburg«, wand sie sich erklärend an ihre Tochter.

»Na dann, ganz viel Spaß euch dreien!« Anja drückte ihren Sohn an sich. »Und sei lieb.«

»Bin iss doch immer!«, verkündete Franz mit großer Bestimmtheit.

»Euch beiden auch einen wunderschönen Tag, genießt die kindfreie Zeit«, lächelte Franziska ihrer Tochter zu. Anja und Timo hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ein paar Mal im Jahr zu zweit etwas zu unternehmen. Viel zu schnell verloren sich junge Paare nach der Geburt des ersten Kindes im Alltagseinerlei und lebten nur noch als Eltern statt als Paar. Franziska gefiel es, dass die beiden dem entgegen wirkten. Sie hatten auch diesmal einen Aufenthalt in einem Wellness-Hotel im nahen Harz gebucht. Und Franz freute sich auf den Tag bei Oma und Opa. Franzi winkte Anja auf der Treppe hinterher. Michael kramte unterdessen mit Franz bereits die alte Eisenbahn von Martin aus der Spielzeugkiste.

Während Michael sich erst als Eisenbahner, dann als Baumeister betätigte, begann Franziska damit, das Essen vorzubereiten. Nudeln mit Tomatensoße schmeckte fast allen Kindern gut, da machte Franz keine Ausnahme.

»Oma, wann fahren wir in den…Tiergarten?« Franz musste erst nach dem passenden Wort suchen, während er den Löffel erneut in den Mund schob.

Franziska schmunzelte. Das hatte sich der Zwerg also gemerkt. »Wenn wir fertig gegessen haben, machst du mit dem Opa eine Stunde Mittagsruhe und dann geht es los.«

Unbeirrt futterte Franz weiter. Mittagsruhe war eher nicht nach seinem Geschmack, aber wenn das der Opa auch machen musste, war es wohl richtig.

Wenig später hatte Franzi die beiden »Männer« ins Schlafzimmer verfrachtet und setzte sich mit einem Buch in den Sessel. Sie liebte diese Art, sich eine Stunde Ruhe zu gönnen. Bis zum Tiergarten im Nachbarkreis war es nicht weit, sie hatten genügend Zeit.

Die Sonne schien von einem fast makellosen blauen Himmel und von der nahen Saale wehte ein laues Lüftchen, als sie am frühen Nachmittag aus dem klimatisierten Auto stiegen. Franziska hatte sich angesichts der sommerlichen Temperaturen sogar entschieden, ein Kleid anzuziehen, während Michael es seinem Enkel gleichtat und Shorts und T-Shirt trug.

Schnell hatten sie den kurzen Weg bis zum Eingang des Tiergartens geschafft. Und kaum waren die Karten gekauft, stürmte Franz auch schon los. Überall gab es Neues und Interessantes zu entdecken. Am Schönsten fand er aber die kleinen Ziegen im Streichelgehege. In der Cafeteria bestellten sich Franziska und Michael einen Kaffee, während Franz genüsslich eine Kugel Eis löffelte. Als der Rundgang beendet war, wäre der Junge am liebsten noch einmal losgelaufen.

 

»Oder wollen wir noch mit der Eisenbahn fahren?«, schlug ihm Michael vor.

Mit einem lautstarken »Ja!« streckte er dem Opa die Hand entgegen und lief mit ihm schnurstracks aus dem Tiergarten heraus auf die andere Straßenseite. Sie hatten von vornherein so geplant, dass nach dem Besuch im Tiergarten noch Zeit blieb für die Fahrt mit der Parkeisenbahn zum »Paradies« und zum »Märchenwald«. Schon mit Anja und Martin waren sie oft und gerne zu den beiden Ausflugszielen gefahren. Und nun zeigte sich ihr Enkel ebenso begeistert von der kleinen Eisenbahn und den Märchenfiguren, die im Garten an der beliebten Gaststätte aufgebaut waren.

Von den vielen Erlebnissen hungrig geworden, stiegen sie später ins Auto und steuerten auf Fränzchens Wunsch das bekannte Fastfood-Restaurant mit dem großen M auf dem Dach an. Auch wenn Franz erst drei Jahre alt war, wusste er schon ganz genau, was er essen wollte.

»Oma, kaufst du mir Schicken Nacken?«

Franziska und Michael konnten sich nur schwer das Lachen verkneifen. Sollte er sein Happy Meal mit Chicken McNuggets ruhig bekommen, schließlich gab es nicht jeden Tag dieses Essen aus der Tüte. Und offensichtlich schmeckte es ihm. Erst als die Nuggets samt Pommes restlos aufgegessen waren und die Packung mit der Capri-Sonne leer war, fragte er, ob er zum Spielplatz gehen könne. Da auch Franziska und Michael ihre Burger inzwischen verspeist hatten, stimmten sie ihrem Enkel zu. So frisch gestärkt kletterte er mit Leidenschaft die Treppe hinauf und sauste durch die Rutsche wieder hinab. Die Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben, und Franziskas schlechtes Gewissen wegen des ungesunden Essens legte sich.

Müde vom Laufen, Schauen und Toben schlief Franz beinahe schon auf der Heimfahrt im Auto ein. Franziska verzichtete darauf, ihn noch in die Wanne zu setzen, sondern wusch ihm nur rasch am Waschbecken Gesicht und Hände ab und legte ihn dann in sein Bettchen. Noch passte er in das Reisebett, das sie kurz nach seiner Geburt angeschafft hatten. Doch bald würde er in das Klappbett von seinem Onkel Martin umziehen, wenn er zu Besuch bei Oma und Opa war. Franzi räumte seine Sachen auf und sah noch einmal ins Zimmer, wo der Knirps schon tief und fest schlief. Danach schloss sie leise die Tür und ging hinüber ins Wohnzimmer.

Mit einem theatralischen Stöhnen ließ sich Michael auf einen Balkonstuhl sinken. »Man ist einfach nichts mehr gewöhnt.« Er öffnete eine Bierflasche und zündete sich eine Zigarette an. Solange Franz dabei war, hatte er auf das Rauchen verzichtet.

Franziska sah ihn amüsiert an. Sie fühlte sich noch fit genug und freute sich schon auf die Zeit, wenn sie mit ihrem Enkelsohn die Abenteuerspielplätze und Erlebnisbäder der Umgebung unsicher machen würden. Vielleicht kamen ja noch ein paar Enkelkinder hinzu, überlegte sie. Wellnesshotel und romantische Stimmung… wer weiß? Oder Martin, der bei einem großen Automobilwerk in Leipzig arbeitete, fand eines Tages die passende Frau.

Während sich Franziska am Sonntag nach dem Frühstück dem Kochen des Essens widmete, schnappte sich Michael seinen Enkel und den Roller und unternahm einen Spaziergang zum Park. Am Schloss blieben sie stehen, vom dem sie laute Geräusche, die nach geschäftigem Werkeln klangen, vernahmen. Nach über zehn Jahren des Leerstandes hatte sich nun endlich ein neuer Besitzer gefunden, der das schöne Bauwerk zu neuem Leben erweckte. Bald sollten hier die ersten Veranstaltungen stattfinden. Wer weiß, überlegte Michael, vielleicht sitzen wir in ein paar Jahren auf der Terrasse und trinken Kaffee. Pläne schien der junge Schlossherr, ein Sänger, genug zu haben.

Das Sonnenlicht drang durch die Kronen der Bäume, an denen sich schon die ersten Blätter färbten. Bald konnte Franz hier Kastanien sammeln. Vorerst staunte er, als er den alten Turm entdeckte. Auch hier täten ein paar Handwerker bitter Not, dachte Michael. Selbst wenn die Bäume den ehemaligen Aussichtsturm inzwischen überragten, so war er eigentlich doch ein schönes Ziel.

Pünktlich zum Mittagessen kehrten die beiden hungrigen Wanderer nach Hause zurück. Nicht nur Chicken Nuggets schmeckte Franz, auch Gulasch mit Kartoffeln und Möhrengemüse trafen seine Zustimmung. Und ohne Murren legte er sich kurz darauf mit dem Opa zusammen zur Mittagsruhe, während Franziska begann, Proviant für Michael einzupacken, ehe sie den Jungen zurück nach Eisleben brachten.

»Kommt rein, der Kaffee ist gleich fertig«, begrüßte Anja ihre Eltern, während sich Franz in ihre Arme warf. »Na, war es schön bei Oma und Opa?«, wollte sie nun von ihrem Sohn wissen. Eine Antwort erhielt sie nicht, aber sein froher, zufriedener Gesichtsausdruck sagte ihr alles.

»Wir hatten ein schönes Wochenende«, antwortete nun Franziska stattdessen. »Und du siehst auch gut erholt aus.«

»Ja, bei uns war es auch sehr schön.« Anja zwinkerte Timo zu, der sie liebevoll ansah.

Der Gedanke an ein zweites Enkelkind schoss Franziska wieder durch den Kopf. »Ich hole dann mal den Kaffee«, wandte sich Franzi der Küche zu, während alle anderen am Tisch Platz nahmen. »Wir bleiben auch gar nicht lange«, fügte sie erklärend hinzu. »Michael fährt heute Abend wieder los und muss sich vorher noch etwas hinlegen.«

Es war die Krux an jedem Wochenende, es ging viel zu schnell vorbei. Sie mussten unbedingt mal wieder raus, wenn Michael Urlaub hatte, und sei es nur für ein paar Tage.

4

Man konnte nicht behaupten, dass Franziska Trübsal blies, wenn Michael unterwegs war. Sie hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, in der Woche Strohwitwe zu sein. Ihr Beruf und ein großer Freundeskreis boten genügend Beschäftigung, Abwechslung und Unterhaltung. An den Abenden las sie leidenschaftlich gerne und vertrieb sich damit oft die Zeit, viel lieber als mit Fernsehen. Zudem versuchte sie, alle Hausarbeiten während der Woche zu erledigen, um an den Wochenenden Zeit für Unternehmungen zu haben. Sie liebten es, in die Sauna zu gehen oder zu schwimmen, im Sommer in einem der Seen der Umgebung, im Winter in einer Therme. Und ab und zu blieb daheim die Küche kalt, dann führte Michael seine Frau zum Essen aus.

Am nächsten Wochenende war kein Restaurantbesuch geplant, denn die Einschulungsfeiern standen an und die Gaststätten waren ohnehin gut gefüllt. Einschulung war jetzt mein Stichwort, dachte Franziska, als sie überlegte, was sie am Wochenende auf den Tisch bringen konnte und die mit allerlei Schulutensilien gefüllten Regale im Supermarkt musterte. Annika hatte doch von Lukas´ Einschulung erzählt, erinnerte sie sich. Sie kaufte eine hübsche Karte, ein Malheft, eine Packung Stifte und eine Schokoladentafel. Das alles verstaute sie in einem stabilen, großen Umschlag, legte zuletzt noch einen Geldschein hinzu und adressierte den Brief an Lukas Borkhof. Da der Umzug erst nach der Einschulung geplant war, konnte sie die Glückwünsche getrost noch zur alten Adresse schicken. Irgendwie fühlte sie sich ein wenig in der Pflicht, weil sie bei der Vertragsunterzeichnung nichts für den Jungen dabei gehabt hatte, was ihr immer noch leid tat. Und ein bisschen vermittelte ihr selbst diese kleine Geste eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl der beiden Familien. Das Haus loslassen war das Eine, sich wirklich davon trennen, das Andere.

»Was meinst du«, fragte Franziska später am Telefon ihren Mann, »wollen wir am Sonnabend in die Therme fahren? Wenn überall Einschulung ist, wird es bestimmt nicht so voll.«

»Na klar«, stimmte Michael ihr sofort zu. Das würde auch seinem Bewegungsapparat gut tun, mal wieder im warmen Solewasser zu schwimmen. »Ist gebongt!«

In freudiger Erwartung verging die Zeit bis zur Abfahrt am Sonnabend, als sie sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg machten. Über die Autobahn erreichten sie den Thüringischen Kurort mit der »Kristall-Therme« in einer reichlichen Stunde. Und schon bald konnten sie den Alltag hinter sich lassen und abschalten. Mit geschlossenen Augen gab sich Franzi den duftenden Essenzen beim Saunaaufguss hin. Später saßen sie im Saunagarten und stießen mit einem Prosecco auf diesen wunderbaren Tag an.

Der Aufenthalt in der Therme tat ihnen wirklich gut. Michael spürte Linderung in seinem berufsbedingt strapazierten Rücken und Franziska versuchte, sich von den Gedanken abzulenken, die sich seit dem Notartermin nicht verdrängen ließen. Immer war da die Frage: Haben wir es richtig gemacht? Ständig überkam sie ein Gefühl, als hätten sie etwas vergessen, und konnte es sich nicht erklären. Michael wollte sie damit nicht behelligen, er hatte genug um die Ohren. Und Alexander anrufen? Das hatte sie sich gefragt, es aber auch wieder verworfen. Franziska schalt sich selbst als dumm und überdreht. Schließlich hatte sie gemeinsam mit Annika ein paar Tage vor dem Notartermin noch die Zählerstände von Wasser, Strom und Gas abgelesen. Das Haus war besenrein gewesen.

So genossen beide die Entspannung beim Schwimmen und Saunieren, fast wie in einem Kurzurlaub. Und doch war es nur ein Wochenende und wieder schneller vorüber als es ihnen lieb war.

Der Sonntag verging mit den üblichen Hausarbeiten und am Montagmorgen verließen Franziska und Michael ausnahmsweise zeitgleich die Wohnung. Während es für Michael in dieser Woche in Richtung Österreich gehen sollte, richtete sich Franziskas Augenmerk wie jedes Jahr auf die Vorbereitung der Rübenernte. Schließlich brach bereits der September an. Wenn sie nächste Woche gemeinsam mit ihrem Mann noch ein paar Tage Urlaub machen wollte, musste sie die Dinge vorher geordnet haben. Im Laufe der Jahre hatte sich eine gewisse Routine ergeben. Die PC-Programme waren eingerichtet. Noch vor der Wende hatte sie bereits das Privileg besessen, am damals einzigen Computer der LPG zu arbeiten. Das Monstrum hatte einen ganzen Raum für sich beansprucht und würde jetzt wohl nur noch belächelt werden. Heute half ihr die modernste Technik bei der Abrechnung. Und so, wie es aussah, konnte die Kampagne beginnen. Also entschloss sie sich am Abend, ihren Bruder anzurufen.

»Hallo Schwesterchen!«, begrüßte Alexander sie erfreut.

»Ich wollte dich auch anrufen.«

»Tja, Alex, da war ich wohl schneller!«, lachte Franziska.

»Hast du inzwischen mit Heidrun gesprochen?«

»Ja, deshalb wollte ich dich ja anrufen. Wann hat Michael genau frei?«, wollte Alexander wissen.

»Die ganze nächste Woche«, antwortete Franzi. »Und bei mir klappt es auch. Wir könnten von Freitag zum Sonnabend zu euch kommen, oder schon am Donnerstag, ganz wie es bei euch passt.«

»Uns ist beides recht. Wir können ja mal noch den Wetterbericht im Auge behalten, damit wir nicht den ganzen Tag drin sitzen müssen, falls es an einem Tag regnet.«

»Prima!«, freute sich Franziska. »Dann stimmen wir uns in einer Woche noch einmal miteinander ab.«

»Genau so machen wir das«, bekräftigte auch Alexander. Wieder überlegte Franziska, ob sie Alexander mit ihren seltsamen Gedanken behelligen sollte. Doch ohne ein Wort dazu verabschiedete sie sich von ihrem Bruder.

»Mach´s gut und grüße Heidrun ganz lieb. Ich freue mich schon, sie mal wieder zu sehen!«

»Und du sag meinem Schwager liebe Grüße, wenn du mit ihm sprichst. Mach´s gut, Schwesterchen!« Franziska legte das Handy zurück auf den Tisch. Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Schon in ihrer Kindheit und Jugend hatte sie immer wieder solche unterschwelligen Gedanken gehabt, die sie nicht erklären konnte. Mit keinem hatte sie darüber gesprochen. Und doch hatte sie ihre Ahnung nicht getrogen, es gab ein Geheimnis in ihrer Familie. Aber das war inzwischen aufgeklärt.

Schluss jetzt, riss sie sich von den Grübeleien los und begann, das Bad zu putzen.

Der Rest der Woche zog sich wie klebriger Kaugummi in die Länge. Zwar ging ihr die Arbeit flott von der Hand, doch die Tage wollten einfach nicht vergehen. Sie freute sich schon, am nächsten Wochenende würde alles etwas relaxter verlaufen, wenn Michael nicht losfahren musste. Und auch Franziska wollte dann in der Woche zwei Tage Urlaub nehmen, das hatte sie bereits mit ihrem Chef abgesprochen. Allerdings musste sie am Freitag zur Kenntnis nehmen, dass Michael erst am Sonnabend früh heimkam.

 

Am Nachmittag schaltete sie im Arbeitszimmer den Rechner an. Vor kurzem hatte sie sich bei Facebook angemeldet. Der Grund waren eigentlich die Kinder gewesen. Martin und Anja schrieben dort immer mal was rein, und so wusste Franzi über die beiden Bescheid. Und auch das eine oder andere Bild von Fränzchen flatterte auf diesem Weg auf ihren Bildschirm. Sie hatte sonst nicht viele Freunde in dem Portal, aber zuletzt fand sie eine Gruppe, die sich über gelesene Bücher austauschte. Das gefiel ihr. So klinkte sie sich auch heute in die Diskussion ein und merkte kaum, wie nun doch die Zeit verflog. Manchmal überlegte sie dann, ob sie es wagen sollte, auch einmal ein Buch zu schreiben. Erlebt hatte sie schon einiges, aber ob es jemand lesen wollte?

Verschlafen rieb sich Franziska über die Augen, als sie das Geräusch des Schlüssels im Schloss der Wohnungstür vernahm.

»Guten Morgen, mein Schatz!« Michael beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss. »Aufstehen, die Sonne scheint und ich war schon beim Bäcker.« Er hielt ihr die Tüte mit den frischen Brötchen direkt vor die Nase.

Schwungvoll sprang Franziska aus dem Bett. »Na dann will ich mal die Kaffeemaschine anwerfen.«

Michael trug bereits das Geschirr ins Wohnzimmer, während Franziska in der Küche das Frühstück richtete, und wenig später saßen sie gemütlich am Tisch und ließen es sich schmecken.

Später räumte Michael seine Sachen aus dem LKW in den Keller und Franziska stopfte das Bettzeug direkt in die Waschmaschine. Unterdessen kochte auf dem Herd die Suppe für das Mittagessen. Erst nach dem Essen kamen sie wieder ein bisschen zur Ruhe.

»Ich habe mit Alexander vereinbart, dass wir ein Auge auf den Wetterbricht haben werden und uns danach konkret abstimmen, ob wir am Donnerstag oder am Freitag nach Hessen fahren«, erläuterte Franzi ihrem Mann das Gespräch mit ihrem Bruder noch einmal. Sie hatten zwar bereits am Telefon darüber geredet, doch erfahrungsgemäß hatte Michael meistens den Kopf so voll, dass ihm die Hälfte wieder entfiel.

»Das klingt wie ein guter Plan«, antwortete er. »Aber wie es scheint, bleibt das Wetter ja ganz passabel. Da stellt sich doch direkt die Frage, was wir morgen unternehmen. Immerhin muss ich nicht losfahren, du musst kein Essen vorbereiten, es bietet sich an.«

Franziska überlegte nur kurz. »Ich weiß es, wir fahren nach Wernigerode.«

Mit einem fragenden Gesichtsausdruck schaute Michael sie an. Obwohl die bunte Stadt am Harz ein beliebtes Ausflugsziel war, hatte sie bei ihm nur den zweifelhaften Ruf, in der dortigen Brauerei Bier laden zu müssen.

»Ich würde mir gerne den ›Kleinen Harz‹ ansehen«, erklärte sie ihm, ehe eine ablehnende Bemerkung über seine Lippen kommen konnte. Den Miniaturenpark gab es seit einigen Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bürgerpark, der 2006 anlässlich der Landesgartenschau angelegt wurde. Erst kürzlich hatte wieder ein Artikel darüber in der Zeitung gestanden und Franziska nahm sich danach vor, einmal dorthin zu fahren.

»Hm, warum eigentlich nicht«, überlegte Michael. »Wir suchen uns irgendwo was zum Essen und gucken uns

diese kleinen Bauwerke mal an.« Oft genug hatte er die Hinweisschilder ja schon gesehen.

Franzi schmunzelte innerlich. Wie oft musste sie Michael zu einem Ausflug überzeugen, obwohl er genau wusste, wo das Ziel lag. Er kurvte in halb Europa herum, sah aber eigentlich immer nur die Autobahnen.

Nach einem gemütlichen Nachmittag bei Kaffee und Kuchen praktizierten sie ein bisschen Wellness im heimischen Badezimmer. Es war vor kurzem von Grund auf saniert worden und nun »der schönste Raum der Wohnung«, wie Michael meinte. Einiges hatte sich seit ihrem Einzug vor dreißig Jahren im Haus und in der Wohnung schon verändert. Neue Fenster waren eingebaut worden und eine Heizung. Längst brauchte keiner mehr Kohlen schleppen und den Badeofen anheizen, wenn er sich ins warme Wasser legen wollte. Auch die Fassade hätte eine Renovierung nötig gehabt, doch wer wusste schon, wie lange sie darauf noch warten mussten. Aber kam es nicht so manches Mal auf die inneren Werte an?

Franziska zog es vor, in duftendem Schaumbad zu relaxen, während Michael sich und seinem Rücken mit Rheumabad etwas Gutes tat. In der Zeit brutzelte Franzi ein leckeres Abendessen für zwei. Sie prosteten sich zu, genossen den lauen Sommerabend auf dem Balkon und freuten sich auf den nächsten Tag.

»Guten Morgen, mein Schatz. Kaffee ist fertig!« Franziska drückte Michael einen Kuss auf seine, noch vom Schlafen, warme Wange.

»Was, schon halb neun!«, schaute er ungläubig zur Uhr und rekelte sich, ehe er die Decke von sich schob und die Beine aus dem Bett schwang. »Dann muss ich wohl aufstehen.« Er stapfte ins Bad, unterdessen schenkte Franzi den Kaffee ein. Sie ließen sich die im Herd frisch aufgebackenen Brötchen, Wurst, Käse, Marmelade und weichgekochte Eier schmecken. Wann immer es ging, genossen sie an den Wochenenden dieses gemeinsame Frühstück. Und da heute keine Hausarbeiten drängten, nicht gekocht werden musste und sie alle Zeit der Welt hatten, dehnten sie es entsprechend lange aus. Es war bereits nach elf, als sie sich nacheinander erhoben und das Geschirr in die Küche trugen.

Ach wenn der meteorologische Herbst bereits begonnen hatte, wirkte das Wetter eher spätsommerlich. In kurzer Zeit erreichten sie die vor ein paar Jahren neu erbaute vierspurige Bundesstraße, die schon bald den Namen

»Nordharzautobahn« bekommen hatte. Hinter Aschersleben wurde deutlich, warum das so war. Linker Hand rückten die Hügel des Mittelgebirges in ihr Sichtfeld und nach vorne gab die Straße den Blick auf den Brocken frei. Wo früher die alte Fernverkehrsstraße 6 entlang führte, ließ sich bald nicht mehr erkennen. Neue Zubringerstraßen und Kreisverkehre entstanden überall. Im Volksmund wurde die F6 einst »Zigarettenstraße« genannt. Franziska wusste nicht einmal, ob es diese Sorte heute noch gab. Selbst rauchte sie nicht und Michael war auch irgendwann bei den Westsorten gelandet. Oh ja, es hatte sich viel verändert in den Jahren nach dem Mauerfall.

Und sie waren wirklich lange nicht mehr hier gewesen, das letzte Mal musste noch gemeinsam mit den Kindern gewesen sein.

Inzwischen erreichten sie die Abfahrt WernigerodeZentrum und verließen die Fernstraße. Nun kamen Franziska die Gegebenheiten wieder bekannt vor. Über der Stadt thronte das weithin sichtbare Schloss. Am Rande des alten Ortskerns stellte Michael den Audi ab. Gemächlich schlenderten sie die Fußgängerzone entlang und bald lockte sie der Duft nach südländischen Gewürzen in einen kleinen Innenhof. Trotz der Mittagszeit fanden sie in dem griechischen Restaurant noch Plätze. Obwohl sie erst vor zwei Stunden vom Frühstückstisch aufgestanden waren, bestellten sie Knoblauchbrot als Vorspeise und zwei Mal überbackene Medaillons mit Metaxasoße und ließen es sich schmecken. Sie stießen mit dem unvermeidlichen Ouzo an und fühlten sich wie im Schlaraffenland, satt und zufrieden.

»Jetzt müssen wir aber erst mal ein Stück laufen«, stöhnte Michael. Er strich sich über den deutlich gewölbten Bauch unter dem sommerlichen Hemd. Auch Franziska war froh, dass sie sich für ein lockeres Kleid entschieden hatte, das Platz bot für das üppige Mahl. Gemächlich schlenderten sie bis zum Markt mit dem berühmten Rathaus. Und zumindest das hatte sich nicht verändert seit ihrem letzten Besuch. Schließlich machten sie kehrt und liefen zurück zum Parkplatz, denn immerhin stand noch mehr auf ihrem Besichtigungsplan für heute und an ihrem eigentlichen Ziel waren sie noch gar nicht angekommen. Sie fuhren am Bahnhof vorbei und folgten den Schildern, die ihnen sicher den Weg zum Bürgerpark und zum Miniaturenpark wiesen. Trotz der Nachmittagszeit ergatterten sie einen gerade frei werdenden Parkplatz direkt am Eingang. Wenig später standen sie staunend wie Kinder vor den kleinen maßstabsgenau nachgebildeten Gebäuden, die es allesamt im Harz im Original zu sehen gab. Der Halberstädter Dom und das Schloss Wernigerode standen hier ebenso im Kleinformat wie die Kaiserpfalz in Goslar. Aber auch das Bodetal mit der Seilbahn und der Brocken mit der Schmalspurbahn waren naturgetreu nachgebildet worden. Wieviel Mühe steckte in diesen kleinen Bauwerken!