Septemberrennen

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3. Kapitel

Schwungvoll trat Christian das Gaspedal durch und fuhr auf die Autobahn auf, die ihn von der Donau an die Isar bringen sollte. Mit der Mittagszeit hatte er einen guten Zeitraum erwischt. Der Berufsverkehr vom Morgen war vorüber und der vom Nachmittag kam erst. Auf der Heimfahrt würde es mit Sicherheit anders aussehen. Doch jetzt war die Bahn frei, er konnte Gas geben und trotzdem seinen Gedanken weiter Raum geben. Nur selten hatte es sich ergeben, dass er seine Tochter sah, obwohl sie seit acht Jahren in München wohnte und als Rechtsanwaltsfachangestellte in einer großen Kanzlei arbeitete. Noch immer stand zwischen ihnen, was er vor mehr als zwanzig Jahren getan hatte. Immerhin, Ines sprach mit ihm und hatte in das Treffen eingewilligt. Und es war schön, sein Kind hier in seiner Nähe zu wissen. Was waren schon die zwei Autostunden? Der Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er auf jeden Fall pünktlich sein würde, selbst wenn er mit Stau auf dem Weg durch die Stadt rechnen musste. Er setzte den Blinker und fuhr von der Autobahn ab.

Trotz der, wie immer, hohen Verkehrsdichte war Christian viel zu früh an dem kleinen Café angekommen. Zumindest blieb ihm nun noch Zeit, um etwas zu essen. Er hatte beinahe den Klops, den sie hierzulande seltsamerweise »Fleischpflanzerl« nannten, verdrückt, als seine Tochter zur Tür hereinkam.

Mit unbewegtem Gesicht, das keine Regung erkennen ließ, ging sie auf Christian zu. »Hallo Chris!«

Er schluckte den Protest mit dem Klops herunter.

»Hallo Ines! Magst du auch einen Kaffee?«

Auf ihr Nicken winkte er der Serviererin und wand sich dann wieder dem restlichen Essen zu, froh, noch nicht reden zu müssen.

»Du bist wohl schon länger hier?«, fragte Ines mit Blick auf den nun leeren Teller, den die junge Frau jetzt abräumte und Ines ihren Kaffee kredenzte.

»Eine halbe Stunde. Ich wollte dich nicht warten lassen und man weiß ja nie, wie es auf den Straßen aussieht.« Er holte tief Luft. Wie er seine Tochter kannte, ließ die sich nicht mehr lange mit Konversation hinhalten.

Und so, wie er es sich gedacht hatte, drängte sie nun, den Grund ihres Treffens zu erfahren. »Was ist denn jetzt so Wichtiges?«

»Dein Opa ist gestorben.« Christian war einfach nicht wortgewandt genug, um lange um den heißen Brei zu reden. »Ich wollte dich fragen, ob du zur Beerdigung mitfahren möchtest.«

Ines sah ihn irritiert an. »Und das konntest du mich nicht am Telefon fragen?«

»Ich wollte nicht«, bekannte er. »Mir hat es gestern deine Tante Carola am Telefon gesagt. Auf diese Art und Weise solltest du es nicht erfahren. Ich wollte nicht, dass du dich so fühlst, wie ich mich gestern, so überrumpelt.«

Spöttisch verzog Ines die Mundwinkel und ähnelte damit auf frappierende Art und Weise ihrer Mutter.

»Also ehrlich, es gab Zeiten, da warst du nicht so feinfühlig! Da hat dir ein Zettel auf dem Stubentisch genügt, um Mama und mir kundzutun, dass du dich auf Nimmerwiedersehen verdrückt hast! Kannst du dir vorstellen, wie ich mich damals gefühlt habe? Ich war ein kleines, neunjähriges Mädchen und konnte mir gar nicht vorstellen, dass der Papa nicht mehr kommt.« Sie schluckte.

Betroffen rührte Christian in seiner Kaffeetasse. Er wusste es ja selbst, doch er hatte zu der Zeit keine andere Möglichkeit gesehen. Jetzt trafen ihn die Vorwürfe aus dem Mund von Ines hart.

»Mama und ich waren ja froh, dass der Opa uns geholfen hat«, fuhr sie fort. »Er war genauso traurig wie wir. Und er war genauso wütend. So ungefähr ein Jahr haben wir ihn noch regelmäßig besucht. Ich weiß nicht, warum dann der Kontakt abgebrochen ist, ich hab Mama nie gefragt. Auch Tante Carola habe ich seit dem nicht mehr gesehen. Aber deshalb jetzt zur Beerdigung fahren?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde eine Karte schreiben. Jetzt habe ich ja keine

hier. Aber ich kann sie dann zu dir schicken. Oder an Tante Carola? Wohnt sie noch in Eisleben?«

Christian nickte. »Ja, immer noch in der alten Wohnung in der Bergmannsallee. Schick ihr die Karte. Carola übernimmt ja sowieso die ganzen Formalitäten.«

»Gut«, erhob sich Ines, »dann will ich mal wieder. Mein Chef wird froh sein, wenn ich nicht zu lange wegbleibe.« Sie reichte ihrem Vater die Hand. An der Tür drehte sie sich noch einmal kurz um. »Komm gut heim!«

Nachdem Christian die Rechnung bezahlt hatte, verließ auch er das Lokal. Obwohl die ganze Unterhaltung keine halbe Stunde gedauert hatte und er auch ein wenig betrübt über den Ausgang war, fand er es richtig, hergefahren zu sein. Er wusste sehr wohl, was er seiner Frau und seiner Tochter einst angetan hatte. Seit Jahren versuchte er, langsam wieder Vertrauen aufzubauen, wenigstens zu Ines. Er wollte nicht, dass es ihr mit ihm so erging, wie ihm jetzt mit seinem Vater.

Gemächlichen Schrittes lief Christian um die Ecke, wo er glücklicherweise ganz in der Nähe einen Parkplatz ergattert hatte. Nun würde er doch nicht spät zu Hause ankommen. Der Blick zur Uhr zeigte ihm, dass Monika noch im Büro war und da er sie dort nur im Notfall anrief, tippte er erneut einen Nachricht in sein Smartphone: »Bin zum Abendessen wieder daheim. Bis nachher!« Dann startete er den Motor.

Der einsetzende Berufsverkehr bremste das Vorankommen, und auch auf der Autobahn konnte er den BMW nur gemächlich dahin rollen lassen. Bei der Wahl seines Autos hatte er sich bewusst für die Bayerische Marke entschieden. Obwohl der Wagen schon einige Jährchen auf dem Buckel hatte, tat er treu seinen Dienst. Monika hatte sich inzwischen ein neues kleines, rotes Auto zugelegt. Der Mini passte einfach zu ihr. Es erinnerte ihn immer an ihre erste Begegnung. Schon mehrfach hatten sie überlegt, ob zwei Autos eigentlich sinnvoll waren, doch gerade an Tagen wie heute blieben sie beide unabhängig und konnten auch mal spontan reagieren. Zwar stand in der Garage neben der Werkstatt noch ein zum Camper umgebauter Kleinbus, doch der diente eigentlich nur dazu, mit dem Hänger die fertigen Autos zum Käufer zu transportieren. Eine seiner längsten Strecken hatte ihn bis nach Tallinn geführt. Dort wurde nun sein restaurierter »Estonia«-Rennwagen in einem Estnischen Museum ausgestellt.

Ja, er war inzwischen erfolgreich auf seinem Gebiet. Einem guten Dutzend historischer Fahrzeuge hatte er bereits zu einem zweiten Leben verholfen. Vielleicht wäre der Vater stolz auf ihn gewesen. Es hatte nicht sein sollen, dass er das noch erlebte.

Über diesen Gedanken erreichte er die Donauniederung wieder. Die Ereignisse hatten dazu geführt, dass er vor zwei Jahrzehnten zufällig hier landete. Obwohl die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten da schon fünf Jahre offen war, ähnelte sein Neuanfang doch einer Flucht. Akribisch hatte er alles vorbereitet, aber niemandem etwas von seinen Plänen erzählt. Das Plattenbaukombinat hatte schon längst die Tore geschlossen. Dadurch bekam er die Chance, nun doch als Schlosser zu arbeiten, zwar ungelernt und schlecht bezahlt, aber endlich in seinem Wunschberuf. Doch auch mit dieser Firma ging es bergab. Und leider schien es in seiner Ehe mit Beate nicht anders zu sein. Inzwischen waren die glücklichen Jahre nach der Geburt von Ines dem täglichen Einerlei gewichen und den Kämpfen, sich mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren. Nahezu jeder Tag endete statt in liebevoller Umarmung mit Vorwürfen, die sie in einer nicht enden wollenden Litanei herunter ratterte. Sie wünschte sich so viel und er konnte ihr so wenig bieten. Mit der Zeit reifte der Entschluss in ihm, weg zu gehen. Weg von der schlechten wirtschaftlichen Lage, weg von seiner Frau, weg auch von seiner Tochter, weg von seiner Familie. Arbeit und Wohnung in Bayern fand er durch eine Chiffre-Anzeige. Am Morgen hatte er seine Frau ins Büro und Ines zur Schule gebracht. Dann musste alles ganz schnell gehen. Wenn er jetzt nicht fuhr, dann nie, soviel wusste er. Bei einem nochmaligen Zusammentreffen mit Beate hätte er auf jeden Fall kapituliert. Seit zwei Stunden klangen ihm Ines´ Vorwürfe im Ohr. Dass er seinem kleinen Mädchen das angetan hatte, war das Schlimmste an der Geschichte. Er hoffte sehr, dass sie ihm eines Tages wirklich verzeihen konnte.

Christian bog von der Hauptstraße ab und hielt eine Minute später vor seinem Haus an. Als er die Tür öffnete, hörte er seine Frau in der Küche hantieren. Bevor er um die Ecke in Richtung Bad verschwand, steckte er kurz den Kopf durch die geöffnete Küchentür. »Bin wieder da!«

Ein tiefes Aufatmen ging durch Monikas Körper. Nach langer Zeit hatte sie diese Angst wieder einmal gespürt. Schon kurz nach ihrem Kennenlernen hatte ihr Christian von seinem Ausstieg erzählt. Er war nicht stolz darauf gewesen, wie er seine Familie verlassen und über Monate im Ungewissen gelassen hatte, doch er wollte ihr von Anfang an reinen Wein einschenken und kein Geheimnis zwischen sich stehen haben. Was Christian vielleicht gut getan hatte, bereitete Monika Sorgen. Jedes Mal, wenn sie nicht wusste, wo Christian hingefahren war oder er sich nur verspätete, setzte bei ihr eine Panik ein. Das wurde erst besser, als sie sich zwei Handys zulegten und nun immer füreinander erreichbar waren. Auch heute hatte er sie informiert, dass er nach München gefahren war. Und sie war ihm dankbar für seine Nachricht noch zwischendurch, doch ihre Anspannung legte sich erst, als das vertraute Motorengeräusch vor dem Haus zu hören war und sein dunkelblonder Strubbelkopf im Türrahmen erschien.

Ist doch Quatsch, schalt sie sich zum wiederholten Mal. Selbst wenn sich Christian von ihr trennen wollte, hier hielt ihn doch inzwischen viel mehr als damals in der Plattenbauwohnung. Er würde nie einfach seine Werkstatt verlassen. Daran hing sein Herz.

 

Monika nahm die Teller und Bestecks aus dem Schrank und deckte den Tisch in der großen, mit rustikalen Möbeln eingerichteten Wohnküche, als sich ihr Mann wieder zu ihr gesellte. Sie wünschten sich guten Appetit und aßen ansonsten schweigend. Monika kannte ihren Mann gut genug, um ihn nicht sofort mit Fragen zu bedrängen. Erst als sie die Küche aufgeräumt hatten und im Wohnzimmer auf dem gemütlichen Sofa saßen, sah Monika Christian fragend an.

»Du warst bei Ines?« Auf sein Nicken fuhr sie fort:

»Wie hat sie die Nachricht aufgenommen?«

»Eher ruhig. Sie hat ihren Opa so lange nicht gesehen, dass er ihr jetzt wohl nicht mehr fehlen wird als vorher. Jedenfalls hat sie kein Interesse daran, mit zur Beisetzung zu fahren. Aber es war gut, wenigstens von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu sprechen.« Mit einem gedankenvollen Blick sah er zu seiner Frau und griff zu seinem Bierglas.

»Ich bin vorhin auf dem Rückweg bei Victoria gewesen«, ließ sich Monika nun vernehmen. »Wie ich es schon dachte, sie hat auch keine Ambitionen, mit zur Beerdigung zu fahren. Aber weißt du was, egal, was jetzt der Anlass für diese Reise ist, ich freue mich drauf.«

Zwar kannte sie ihre Schwägerin Carola und deren Mann Thomas inzwischen gut und mochte sie auch gerne, aber obwohl Deutschland seit gut 25 Jahren nicht mehr geteilt war, hatte sie noch wenig Ahnung vom Osten des Landes. Ein Besuch dort gefiel ihr schon. Nur, dass sie ihren Schwiegervater nicht mehr persönlich kennenlernen würde, bedrückte sie ein wenig.

Christian lächelte. Ja, irgendwie wich auch bei ihm die Trauer einer gewissen Freude auf das Wiedersehen mit seiner Schwester und seiner Heimat. So sehr er sich hier in der Oberpfalz auch eingelebt hatte und sich wohlfühlte, spätestens seit er gestern Carolas Stimme gehört hatte, sehnte er sich nach seinem Mansfelder Land.

»Klappt das bei dir mit dem Urlaub?«, wollte er nun von Monika wissen.

»Na sicher doch«, bestätigte sie sofort. »Bei einem Todesfall muss es gehen.« Im Grunde war sie froh gewesen, durch die Feuerbestattung und die erst später stattfindende Beisetzung noch so früh Bescheid sagen zu können. Das erleichterte die Planung in der Firma. Bei einer Erdbestattung hätten sie schon in den nächsten Tagen aufbrechen müssen. Nun hatten sie noch fast zwei Wochen Zeit. »Und der Termin liegt ja gut. Am nächsten Wochenende habe ich doch Klassentreffen, da hätte ich drauf verzichten müssen. So passt alles.«

Christian nickte. Ein Klassentreffen hätte er im vorigen Jahr auch gehabt. Doch er konnte sich nicht entschließen, hinzufahren. Nur ein einziges Mal seit dem Schulabschluss hatte er an solch einem Treffen teilgenommen. Lang war´s her.

Als Christian die Augen aufschlug wunderte er sich zuerst über die Stille. Doch als er neben sich seine Frau friedlich schlummern sah, fiel ihm ein, dass ja Samstag war. Seit er als sein eigener Herr arbeitete, hatten die Wochentage nur noch untergeordnete Bedeutung. Sein Zeitplan richtete sich eher nach den Terminen im Rennsportkalender. Oft verbrachte er auch am Wochenende Zeit in der Werkstatt. Er musste niemandem Rechenschaft ablegen, wann er kam oder ging und was er heute geschafft hatte, außer sich selbst. Und einmal im Jahr dem Finanzamt. Das Verständnis von Monika setzte er einfach voraus. Sein Blick streifte ihr Gesicht. So lange wie mit ihr war er noch mit keiner Frau zusammen geblieben. Sicherlich lag das auch daran, dass beide bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich hatten und mit weniger Erwartung,

dafür umso mehr guten Willen in diese Beziehung gingen.

Leise schlich er sich aus dem Schlafzimmer und zog sich Hose und T-Shirt über. Dann schwang er sich auf´s Fahrrad und radelte zum Bäcker. Die Sonne strahlte von einem fast wolkenlosen Himmel, es sah so aus, als wolle der Sommer noch einmal richtig Gas geben.

Als er mit der Tüte voller Brötchen das Haus wieder betrat, wehte ihm der Duft von frischem Kaffee um die Nase. »Oh, du bist ja doch schon wach«, stellte er ein wenig enttäuscht fest. »Ich wollte dir doch das Frühstück ans Bett bringen.«

Monika grinste. »So siehst du schon aus! Aber hiermit«, sie drückte ihm das Tablett in die Hand, »kannst du das Frühstück raus auf die Terrasse bringen!« Christian gab ihr einen flüchtigen Kuss und fügte sich. So gut, wie Monika schon wieder drauf war, hatte er keine Chance. Allerdings lud der Morgen wirklich dazu ein, draußen zu sitzen.

»Das war die letzte Wurstscheibe«, stellte Monika wenig später fest und legte sie ihrem Mann auf den Teller. »Ich glaube, nachher muss ich dringend zum Einkaufen fahren. Oder magst du mitkommen?«

Er überlegte. »Ach nein, fahr du nur. Ich werde noch mal rüber in die Werkstatt gehen. Gestern habe ich ja nun gar nichts geschafft.«

»Ich denk, du hast den Flitzer soweit?« Monika wäre gern mit ihrem Mann gemeinsam gefahren.

»Das schon. Aber ich hab da noch was für den Huber angenommen. Den will ich nicht so lang warten lassen.«

Monika nickte verstehend. »Dann mach das.«

Der Huber war ein Bauer aus dem Nachbardorf und mitunter der einzige zahlende Kunde in den Zeiten, wo Christian über Monate an einem Auto schraubte, bis es endlich verkaufsfertig war.

»Aber was hältst du davon, wenn wir morgen etwas unternehmen? Das Wetter scheint es doch gut zu meinen.«

»Ja, warum nicht«, stimmte Christian ihr zu. »Wenn nix schief geht, kriege ich dem Huber seinen Trecker heute wieder flott.« Er erhob sich. »Dann will ich auch gar nicht weiter trödeln und mache mich mal los. Zum Abendessen bin ich spätestens wieder da. Und wenn du Getränke kaufst, lass sie im Auto stehen, ich bringe sie dann rein.«

Monika sah ihm lächelnd hinterher. So hatte sie Christian kennengelernt, immer am Schrauben, immer dabei, etwas zu reparieren. Allerdings war damals noch nicht abzusehen gewesen, dass er einmal seine eigene Werkstatt haben würde. Sie räumte das Geschirr zurück in die Küche und warf noch einen Blick in den Kühlschrank. So, wie es aussah, war ein ziemlicher Großeinkauf fällig. Dann griff sie den leeren Wasserkasten und eine Klappbox und fuhr los. Zuerst war der Metzger dran. Zum Glück hatte sich der morgendliche Andrang schon gelegt. Schnell hatte sie Wurst und Fleisch beisammen. Nun musste keiner mehr hungern. Für den Supermarkt konnte sie sich Zeit lassen, dort war noch den ganzen Tag geöffnet. Grübelnd bummelte sie durch die Gänge und verfluchte sich selbst, dass sie sich keinen Einkaufszettel geschrieben hatte. Irgendetwas würde sie wieder vergessen. Aber meistens konnte sie beim Kochen ganz passabel improvisieren. Darin war sie genauso gut wie Christian beim Reparieren.

Wieder zuhause schaltete sie die Waschmaschine an, begann schon mal mit den Vorbereitungen für das Abendessen und schob einen Kuchen in den Ofen; nur für den Fall, dass Christian schon früher fertig wurde. Und wenn nicht, dann konnte er ihn am Montag immer noch in der Werkstatt essen.

Schließlich ließ sie sich mit einem Buch im Garten auf einem Liegestuhl nieder und versank schon bald in der spannenden Handlung um den »Bluttempel« einer gewissen Martina Schmid, die hier ganz in der Gegend zuhause war. Ob es wirklich solche Geschehnisse gegeben hatte beim Bau der Walhalla?, fragte sie sich, als sie das Buch zuklappte. Nein, das war doch nur ein erdachter Roman, beruhigte sie sich selbst. Aber einen Besuch wäre der alte Tempelbau schon einmal wieder wert. Sie selbst war das erste Mal schon als Kind mit der Schulklasse dort oben gewesen, aber ob Christian das Bauwerk kannte, wusste sie gar nicht zu sagen. Zehn Jahre lang hatte es Restaurierungsarbeiten an dem Bauwerk gegeben, da hatte sie nie über einen Besuch nachgedacht.

Während sie noch darüber grübelte, trat Christian durch die Terrassentür und lächelte ihr zu. »Fertig! Was sagst du nun?«

»Ich sage: Wenigstens habe ich den Kuchen nicht umsonst gebacken!«, gab Monika glücklich zurück.

»Dann setze ich mal gleich den Kaffee auf.«

Während sie sich in guter Stimmung Kaffee und Kuchen schmecken ließen, brachte Monika das Gespräch auf den geplanten Ausflug und reichte Christian ihr Buch über den Tisch. »Schau mal!«, forderte sie Christian auf.

»Was soll ich mit einem Roman?«, rümpfte der die Nase. Lesen war noch nie etwas für ihn gewesen, sofern es sich nicht um Fachliteratur handelte.

»Du sollst auch gar nicht lesen«, wandte sie ein.

»Aber schau doch mal das Bild an«, wies sie auf das Buchcover hin. »Kennst du die Walhalla

»Klar, kenne ich das Ding, steht bei Regensburg oben auf dem Berg rum«, antwortete er eher desinteressiert. Monika zog die Augenbrauen hoch und streifte ihren Mann mit einem kritischen Blick. »Du alter Ignorant! Das ist unsere Geschichte! Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne mal wieder hinfahren. Denn seit

wir uns kennen, war ich nicht mehr dort. Und du wahrscheinlich noch nie. Es ist herrliches Wetter für Sonntag angesagt. Der Ausblick von da oben ist traumhaft. Gib dir einen Ruck und lass uns morgen hinfahren!«

Christian beugte sich über den Tisch zu Monika herüber und küsste sie schmatzend auf den Mund. »Natürlich fahren wir da hin, wenn du es gerne möchtest.« Viel zu oft musste sie zurückstecken, wenn er für seinen Beruf und sein Hobby, was auf das Gleiche raus kam, unterwegs war. Da konnte er sich schon mal mit ihr gemeinsam etwas Kultur und Geschichte reinziehen.

4. Kapitel

Nach einem ausgiebigen, gemütlichen Frühstück brachen Christian und Monika am Sonntag in Richtung Regensburg auf. Den vorigen Abend hatten sie noch auf der Terrasse verbracht, bis die Dunkelheit hereinbrach. Monika hatte zwischendurch den bereits vorbereiteten Auflauf in den Herd geschoben und Christian sorgte für eine kühle Flasche Weißwein. Sie genossen den wunderbaren, lauen Sommerabend in romantischer Stimmung. So verschieden sie auch waren, so sehr liebten sie sich und nahmen manchen Kompromiss füreinander in Kauf. Während sich Monika auf die Besichtigung des Denkmals freute, war es für Christian nur wichtig, seine Frau neben sich zu haben und sie glücklich zu sehen.

Der schnellste Weg wäre ein Stück über die Autobahn gewesen, doch sie wählten die etwas längere, aber schöner zu fahrende Strecke über die Landstraße. Heute kam es nicht auf ein paar Minuten an. Am gegenüberliegenden Donauufer sahen sie in der Ferne bereits Regensburg liegen, die mächtigen Türme des Doms ragten weithin sichtbar auf. Und während sie sich Donaustauf von Osten her näherten, rückte der gewaltige Bau der Walhalla in ihren Blick, wie er oben auf dem Felsen thronte. Christian steuerte den Wagen die Walhallastraße hinauf bis zum Parkplatz und als sie ausstiegen, wehte ihnen die hochsommerliche Wärme entgegen. Wie gut, dass keiner auf die Idee gekommen war, vom Donauufer die Treppen hinauf zu steigen, dachte Monika. So war es nur noch ein kurzer Anstieg, dann hatten sie das Plateau erreicht.

»Was für ein Bauwerk!«, bekannte Christian voller Erstaunen. »Aus der Ferne begreift man gar nicht, wie riesig das wirklich ist.« Sein Blick ging entlang der Säulen, die sich 15 Meter hoch gen Himmel reckten.

»Ist schon gewaltig, was unsere Vorfahren hier gebaut haben, und das vor über 170 Jahren ohne die technischen Hilfsmittel von heute«, pflichtete ihm Monika bei.

Sie liefen durch den Säulengang bis zum Eingang und betraten kurz darauf die Ruhmeshalle. Innen empfing sie eine angenehme Kühle. Monika ließ ihrem Mann Zeit, den Gesamteindruck auf sich einwirken zu lassen. Die riesige Halle wirkte imponierend und erhaben und bot einen wahrhaft ansprechenden Rahmen, um die Persönlichkeiten des deutschen Volkes zu ehren. Gemächlichen Schrittes liefen sie an den Büsten der berühmten Menschen aus vielen Jahrhunderten, die hier einen Platz gefunden hatten, entlang. Vor Martin Luther verweilte Christian einen Moment. Auch wenn er sich nicht viel aus Geschichte machte, den kannte er. In Eisleben war Luther geboren und gestorben, in der Stadt wohnte seine Schwester jetzt,

und auf dem Marktplatz stand ein Denkmal des großen Reformators. Und sogar hierher, ins katholische Bayern, in die Walhalla, hatte es der Begründer des Protestantismus geschafft. Auch Händel entdeckte er, dessen Denkmal auf dem Halleschen Markt stand; ebenso Goethe und Schiller und Gottfried August Bürger, der ganz in der Nähe von Christians Heimatstadt geboren wurde und von dem er schon als Kind etwas gehört hatte, vor allem von den »Abenteuern des Freiherrn von Münchhausen«. Die meisten der Marmorbüsten waren ihm aber unbekannt. Der Adel vergangener Jahrhunderte zählte nicht zu seinen Interessen. Dennoch stand er voller Ergriffenheit inmitten dieser Stein gewordenen Personen, denen etwas gemeinsam war, sie hatten deutsche Wurzeln.

 

Viel länger, als es Monika erwartet hätte, verweilten sie in der Ruhmeshalle. Als sie wieder hinaustraten in den heißen Sommertag verschlug es ihnen fast den Atem. Die Temperatur musste inzwischen auf mindestens 30 Grad geklettert sein. Sie liefen in Richtung der großen Freitreppe, die hinab zur Donau führte und setzten sich auf die Stufen. Vor ihnen bot sich ein herrlicher Blick über die Donauniederung bis hin zum Bayerischen Wald.

»Schade, dass es heute nicht ganz so klar ist«, bedauerte Monika. »Manchmal kann man sogar die Spitzen der Alpen erkennen.«

»Trotzdem, das Bauwerk ist der Hammer.« Christian deutete zur Walhalla. »Und der Ausblick auch. Deine Idee war gar nicht schlecht. Aber jetzt könnte ich was zu essen vertragen und etwas trinken auch bei der Wärme.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und kraxelte die Stufen wieder hinauf, um im Schatten der Säulen auf Monika zu warten, die immer noch nachdenklich den Unterbau des Gebäudes betrachtete. Wie es wohl war, damals beim Bau der Walhalla?, fragte sie sich. Gab es wirklich Tote und lag hier noch immer eine wertvolle Schmuckkassette versteckt, wie sie gestern in ihrem Buch gelesen hatte? Mit Sicherheit barg das Gemäuer mehr als ein Geheimnis. Das Buch würde sie noch einmal lesen, jetzt, wo sie die örtlichen Gegebenheiten wieder genauer vor Augen hatte. Sie wandte sich nach oben und winkte ihrem wartenden Mann zu. Monika gab ihm recht, sie verspürte ebenfalls Hunger und Durst und das Kioskangebot war nicht das, was sie sich gerade wünschte. Gemeinsam schlenderten sie zurück zum Parkplatz.

Obwohl das Auto im Schatten großer Bäume gestanden hatte, war es doch in der Hitze aufgeheizt worden. Selbst die Klimaanlage schaffte es nicht, den Innenraum abzukühlen. Schließlich öffneten sie die Seitenscheiben und ließen sich den Wind um die Nase wehen.

»Wir sollten nicht direkt hier im Ansturm der Touristen eine Gaststätte suchen«, gab Monika zu bedenken, während sie Donaustauf durchquerten. »In einer halben Stunde können wir in Regenstauf sein. Lass uns doch zu Francesco gehen.«

»Gute Idee!«, stimmte Christian sofort zu. So lange hielt er es gerade noch aus.

Wenig später erreichten sie die am Sonntagnachmittag nur wenig befahrene Bundesstraße, was Christian veranlasste, über Gebühr aufs Gas zu treten.

»Liebling, du bist aber nicht auf der Rennstrecke!«, wies ihn Monika mit einem kritischen Seitenblick zurecht.

Er reduzierte die Geschwindigkeit ein wenig. »Ich wollte doch nur etwas schneller in der Pizzeria sein«, gab er sich reuig, um gleich darauf lachend wieder Gas zu geben. »Ich tue doch keinem was!«

»Dann hätten wir die Autobahn nehmen müssen, wenn du schnell sein willst!«, wiedersprach Monika.

»Ach Schatz, keine Panik, ich bin doch bei dir!« Resigniert ließ sich Monika an die Rücklehne sinken. Christian war eben verrückt nach Fahren. Und seit er selbst keine Rennen mehr fuhr, trat er ab und an mit dem Bleifuß auf´s Gas. Und sowieso kam das Ortsschild schon in Sicht.

Kurz darauf bog Christian in die kleine Gasse am Markt ein, wo er das Auto direkt vor dem Ristorante abstellte.

»Buon giorno!«, begrüßte Francesco die beiden, die sich trotz der Wärme einen Platz im Freien gesucht hatten. Noch war es relativ leer, doch das würde sich am Abend garantiert ändern. Sie waren nicht gerade Stammgäste des Lokals, doch der nette italienische Wirt hatte wohl ein gutes Personengedächtnis. »Ein Weißbier, eine Cola light?«

»Bitte zwei Cola«, berichtigte Christian die Getränkebestellung. »Wenn ich schon zu schnell unterwegs bin, dann wenigstens nüchtern.« Er drückte Monikas Hand und lächelte sie an.

Dann widmeten sie sich der Speisekarte. Als Francesco mit den Getränken erschien, gaben sie ihm ihre Essenwünsche mit auf den Weg. Während sich Monika für eine Pizza Calzone entschieden hatte, bestellte Christian ein Nudelgericht.

Bäume und große Schirme spendeten angenehmen Schatten. Monika trank in großen Schlucken ihre gut gekühlte Cola und lehnte sich in den bequemen Korbsessel. Nur noch ein paar Stunden, dann ist der Sonntag schon wieder vorbei, dachte sie. Morgen kehrte erneut der Alltag ein und der ganz normale Wahnsinn im Büro. Doch ihr Gehalt half, auch in Monaten, wo Christian zwar jeden Tag arbeitete, aber nichts verkaufte, sicher über die Runden zu kommen.

»Prego!« Francesco stellte die dampfenden Teller vor ihnen ab. »Buon appetito! Lasst es euch schmecken!« Das musste der Wirt nicht zweimal sagen. Mit wirklich gutem Appetit und einer inzwischen gehörigen

Portion Hunger machten sie sich über die italienische Küche her.

»Nun noch zwei Espressi!« Mit einem anerkennenden Blick räumte Francesco das leere Geschirr ab, während Christian und Monika nickten.

»Ich glaube, ich brauche heute nichts mehr!« Obwohl es erst kurz nach 17 Uhr war, wusste Monika, dass für sie heute kein Abendbrot mehr infrage kam. Christian würde sich vielleicht noch ein Stück Wurst aus dem Kühlschrank holen, aber mehr musste nicht sein. Sie waren beide satt und zufrieden und schlossen mit ihrem Espresso einen schönen Sonntagsausflug ab.