Septemberrennen

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5. Kapitel

Carola Strabeck stand am Fenster und blickte in die Weite. Von ihrer Wohnung im zweiten Stock konnte sie in der Ferne die aufgehende Sonne über dem Süßen See beobachten. Obwohl es noch sehr früh am Montagmorgen war und sie heute Mittagschicht hatte, war sie bereits auf den Beinen. Vor einer halben Stunde hatte ihr Mann Thomas das Haus verlassen. Er arbeitete seit Mitte der 90er Jahre im Westen Deutschlands auf Montage und blieb die ganze Woche über weg. Das Eisleber Kultduo »Elsterglanz« hatte es in einem ihrer Sketche einmal so dem Publikum erklärt: Westen – das ist da, wo ihr zum Arbeiten hinfahrt!

Carola selbst hatte Glück gehabt. Einst hatte sie den Beruf einer Verkäuferin bei der Handelsorganisation der DDR gelernt. Während ihrer Lehre war sie täglich mit dem Bus von ihrem Wohnort nach Eisleben gefahren. Später war sie dann von Hettstedt in die Kreisstadt des damaligen Nachbarkreises umgezogen. Doch die Kreise waren längst Geschichte, ebenso wie ihre Arbeitsstelle. Im Kaufhaus oberhalb des Eisleber Marktes, im Volksmund Großer HO genannt, hatte sie bis kurz nach der Wende gearbeitet. Dann schloss das Kaufhaus seine Pforten und das Gebäude verkam immer mehr. Jedes Mal, wenn sie daran entlang lief,

tat es ihr weh. Inzwischen war es nur noch ein Bürohaus, nachdem auch ein Schuhgeschäft und ein Computerladen dicht gemacht hatten.

Doch die großen Supermarkt-Ketten standen damals in den Startlöchern. Carola fand bald wieder Arbeit, auch wenn der Job als Kassiererin nichts mehr mit Kunden bedienen und beraten zu tun hatte. Dennoch war sie froh, ihre Arbeit zu haben. Ihre Tochter Uta war damals zehn und ein selbständiges, vernünftiges Kind, sodass es keine Probleme mit den Arbeitszeiten im Schichtsystem bis 21.00 Uhr gab. Denn auf eine Oma konnten sie nicht zurückgreifen. Carolas Mutter war im Jahr vor der Wende überraschend an Krebs gestorben und die Eltern von Thomas lebten in Leipzig und waren damals selbst noch berufstätig, so wie auch Carolas Vater. Inzwischen waren Arbeitszeiten längst kein Problem mehr. Da sie die ganze Woche über ungebunden und allein war, übernahm sie gerne auch die Schichten, bei denen es Probleme mit den jungen Müttern und deren Kindern gab.

Sie riss sich von dem Anblick des Sonnenaufganges los. Es gab noch viel zu erledigen bis zum Arbeitsbeginn. Schließlich sollte ihr Vater, oder was dann noch von ihm übrig war, in zehn Tagen beigesetzt werden. Und ihr Bruder Christian konnte ihr dabei wenig helfen, so weit entfernt, wie er wohnte. Heute wollte sie unbedingt noch einmal zum Bestatter fahren. Sie hätte auch einen aus Eisleben wählen können, dann wären die Wege kürzer gewesen. Doch sie hatte den Auftrag an Herrn Ehrlich gegeben, von dem sie wusste, dass er ein guter Bekannter ihres Vaters, bereits aus Zeiten im Kulturbund der DDR, gewesen war. Dafür musste sie nun die Fahrt nach Hettstedt in Kauf nehmen.

Entspannt lenkte Carola ihren Passat durch das Zentrum des Mansfelder Landes. Gleich drei große Abraumhalden des Kupferschieferbergbaus türmten sich abseits der Straße weithin sichtbar auf. Obwohl sie hier geboren und aufgewachsen war, faszinierte sie diese herbe und doch schöne Landschaft, die der Bergbau geschaffen hatte, immer wieder. Sie war einmal in Frankreich gewesen und sah dort ähnliche Halden, da hatte sie sich gleich wie zuhause gefühlt. Für sie gab es inzwischen nicht mehr eine bestimmte Heimatstadt. Schon des Vaters wegen pendelte sie oft, wie früher, zwischen der Lutherstadt und der Kupferstadt hin und her. Ihr Vater hatte zwar bis zu dem Tag, als er einen Herzinfarkt erlitt und daran starb, selbständig in seinem Haus gelebt, doch sie hatte regelmäßig nach ihm gesehen. Und ihrer Region blieb sie sowieso treu. Nie hatte sie sich vorstellen können, von hier weg zu gehen. Wie fassungslos war sie damals gewesen, als sie diesen Anruf von ihrer Schwägerin erhielt, dass Christian mit Sack und Pack auf und davon war. Erst ein halbes Jahr später hatte er sich endlich bei ihr gemeldet. Sie hatte nicht einmal gewagt, ihrem Vater davon zu berichten, als sie end-

lich etwas von ihrem Bruder hörte. Für ihn war sein Sohn sprichwörtlich gestorben. Und selbst dann, als auch er wusste, wo sich Christian aufhielt, lehnte er jeden Kontakt ab. Wie gut, dass er sich über den Tod hinaus nicht mehr dagegen wehren konnte. Nun würden Vater und Sohn wenigstens am Grab wieder vereint sein.

»Ja, so ist es gut. So machen wir das«, stimmte Carola dem Bestatter in seinen Vorschlägen zu. Auch im Gespräch waren ihre Gedanken immer wieder abgeschweift, doch ihr Gegenüber schien es nicht zu bemerken oder es als normal anzusehen. In der vorigen Woche hatte er sie im Haus des Vaters aufgesucht, wo nahezu alle Formalitäten gleich erledigt werden konnten. Die wichtigsten Dinge für die Einäscherung und die Beisetzung hatte sie aus einem Katalog ausgewählt und sich für die Urne und die Musik jetzt vor Ort entschieden. Ihr Vater stammte aus einer alten Bergmannsfamilie und hatte noch einige Jahre bis zur Schließung des Reviers unter Tage gearbeitet. Darauf stimmte sie nun auch die Urne ab, verziert mit Schlägel und Eisen.

In den Geschäftsräumen hatte sich Carola noch beherrscht gezeigt, doch als sie jetzt in den strahlend hellen, warmen Sommertag hinaustrat, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Für ihren Vater war es der letzte Sommer gewesen, unwiederbringlich vorbei und vorüber. Sie wischte sich mit dem Taschentuch

über die Augen, ehe sie das Auto wieder startete. Dann fuhr sie zum Friedhof. Dort hatte der Vater nach dem Tod seiner Frau ein Grab gekauft und wohlweislich auch beim Ende der Mindestlaufzeit den Vertrag verlängert. Nun konnte er neben seiner Gattin beigesetzt werden.

Im Schatten eines großen Baumes ließ sich Carola auf einer Bank nieder. Sicherlich war sie kein Kind mehr, doch jetzt, in diesem Moment, wurde ihr bewusst, dass sie nun keine Eltern mehr hatte. Und auch Verwandtschaft gab es nicht viel. Der einzige Bruder des Vaters starb als ganz junger Soldat in den letzten Kriegstagen. Carola hatte immer bedauert, keinen Cousin und keine Cousine zu haben, da auch die Mutter ohne Geschwister aufgewachsen war. Sie selbst hätte gerne mehrere Kinder gehabt, doch nach der Tragödie um Uwe, ihren kleinen Sohn, der nur zwei Monate alt wurde, war sie froh, wenigstens ihre Uta zu haben.

Als in der Tasche ihr Handy vibrierte, sah sie sich erst vorsichtig um, ob jemand in der Nähe war, ehe sie mit leisen Worten das Gespräch annahm.

»Hallo Uta, meine Süße! Wie geht es dir?«

»Hallo Mama, das wollte ich dich fragen!«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte sie ihre Tochter.

»Ich war gerade nochmal bei Herrn Ehrlich. Jetzt ist alles geklärt, was für die Beisetzung wichtig ist. Nun muss ich nur noch einen Tisch für die Trauerfeier

besorgen. Aber ich habe noch gar nicht gezählt, wie viele denn kommen. Da werde ich nachher noch mal mit deinem Onkel telefonieren. Seine Frau wird auf jeden Fall mitkommen, aber ob sie vielleicht Ines begleitet oder Victoria, das weiß ich gar nicht.«

»Also, mich darfst du dann mit zwei Personen einplanen.«

Uta hatte seit ein paar Monaten wieder einen Freund, nachdem ihre vorherige Liebe in die Brüche gegangen war.

»Oh, das ist aber schön, dass Jens mitkommt!« Carola war wirklich erfreut über diese Entwicklung. Schließlich wollte sie irgendwann einmal Oma werden.

»Ja, als ich ihm von Opas Tod erzählt habe, hat er sofort gesagt, dass er mich nicht allein zur Beerdigung gehen lässt. Mama, ich glaube, es ist diesmal der Richtige!«

Carola hörte das Glück in der Stimme ihrer Tochter, was dem Anlass des Gesprächs ein wenig die Trauer nahm.

»Ich wünsche es dir so sehr, mein Liebling!« Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, diesmal vor freudiger Rührung.

Nachdem sich Mutter und Tochter verabschiedet hatten, schlenderte Carola zurück zum Ausgang. Inzwischen war die Uhr ganz schön weit vorgerückt. Wenn sie vor der Arbeit noch etwas essen wollte, musste sie sich beeilen. Am Ortseingang in Eisleben bremste sie und ihr ging Blick unwillkürlich nach rechts, zu einem anderen Friedhof. Obwohl seit dem Tod von Uwe schon 35 Jahre vergangen waren, konnte sie sich nicht entschließen, das kleine Kindergrab ihres ersten Kindes beseitigen zu lassen. Es zog sie noch oft hierher. Heute allerdings saß ihr die Zeit im Nacken und sie gab wieder Gas.

6. Kapitel

»Jetzt kommt der Sommer aber richtig in Gang!« Christian wischte sich mit einer für ihn typischen Bewegung über die Stirn. »Ich gehe erst mal unter die Dusche.«

Monika hatte sich ebenfalls regelrecht erschrocken, als sie zum Feierabend aus dem klimatisierten Büro nach draußen trat. Inzwischen trug sie nur noch ein dünnes Top und einen bunten Rock und fühlte sich eigentlich recht wohl. Ihr gefiel der Sommer viel besser als der Winter. Sie hatte bereits ein paar leichte Salate angerichtet, aber auch Fleisch und Würstchen gekauft. Sie hoffte, dass Christian mit ihr einer Meinung war und sich für einen Grillabend begeistern konnte. Nicht, dass Monika ein besonders großer Grillfreund gewesen wäre, aber an solch einem herrlichen Sommerabend musste man sich nicht an den Herd stellen und drin sitzen. Sie liebte ihr kleines Häuschen, am Ortsrand im Grünen gelegen. Im angrenzenden Garten baute sie etwas Obst und Gemüse an, und frische Kräuter waren auch immer verfügbar. Manchmal hatte sie schon scherzhaft zu ihrem Mann gesagt, dass sie dadurch nicht verhungern müssten, auch wenn er über ein oder zwei Monate kein Geld verdiente. Doch ganz so schlimm war es noch nie gekommen, die Bauern in der Gegend und auch ein Fuhrunternehmer schätzten sein fachliches Können und ließen ihn manche Durststrecke überstehen.

 

Förmlich ohne Worte hatte Christian den Plan seiner Frau durchschaut, als er die Salate stehen sah. Er lief direkt auf die Terrasse und bereitete den Grill vor. Jetzt konnte er durchaus etwas Essbares vertragen.

»Morgen werde ich das Auto bekleben«, erzählte er, während er das erste Steak auf den Grill legte. »Da ist es gar nicht so schlecht, wenn es warm ist. Besser warm als zu kalt.«

»Ist die Lieferung angekommen?« Monika wusste, dass er die Logos extra in einer reprografischen Werkstatt bestellt hatte. Manchmal dauerte das etwas länger.

Mit einem kurzen Nicken beantwortet Christian die Frage und wendete das Fleisch. Inzwischen strömte ein herrlicher Duft durch den Garten. »Wenn das die Nachbarn riechen, wird es gleich klingeln«, scherzte er.

Monika holte ein Bier und ein Radler aus dem Kühlschrank und dann stand dem gemütlichen, rustikalen Abendessen nichts mehr im Weg.

Genüsslich kauend dachte Christian an früher. Da hatten sie mit den Eltern auch oft gegrillt. Früher, das war inzwischen über 40 Jahre her. Selbst wenn es sicherlich in der DDR manchen Mangel gegeben hatte, hungern musste keiner. Und mit etwas Organisationstalent kam man auch an gute Sachen ran. Er hatte jedenfalls nichts vermisst und behielt seine Kindheit und Jugend mit Carola in bester Erinnerung. Dass er es seinem Vater nie wirklich recht machen konnte, war auf einem anderen Blatt geschrieben.

Am nächsten Morgen stand Christian mit Monika zusammen auf. Er wollte lieber etwas früher in der Werkstatt arbeiten, als später in der Nachmittagshitze. Außer an seinem Rennauto arbeitete er auch noch an einem Getriebe für einen Sportfreund, den er nicht länger warten lassen wollte. An der Tür verabschiedete er sich von Monika und lief den kurzen Weg bis zu seiner Werkstatt. Ein lauer Wind schubste am strahlend blauen Himmel ein paar Schäfchenwolken vor sich her. Kaum zu glauben, dass fast schon September war.

Er ließ seinen prüfenden Blick noch einmal über die frisch lackierte Karosse gleiten, ehe er an die Fertigstellung ging. Jetzt kam es auf eine ruhige Hand und ein geschultes Auge an. Schief sitzende Starternummern oder Blasen in den Logos, das wollte er tunlichst vermeiden. Also schaltete er auch sein Handy lautlos und legte es in den Schrank. Jetzt wollte er auf keinen Fall gestört werden. So war es dann bereits Mittag durch, als er wieder drauf sah und bemerkte, dass Carola ihn erreichen wollte. Rasch drückte er die Wahltaste, um sie zurückzurufen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis seine Schwester den Anruf mit einem kurzen »Ja« annahm.

»Hallo, kleine Schwester, was gibt es?«

»Sorry Chris, ich bin schon bei der Arbeit, muss mich also kurz fassen«, erwiderte Carola. »Ich wollte auch nur wissen, ob es bei euch passt mit dem Termin für die Beisetzung. Morgen sollen die Anzeigen in der Zeitung erscheinen. Aber nun isses eh für Änderungen zu spät.«

»Na sicher klappt das«, beruhigte Christian seine Schwester. »Sonst hätte ich mich doch gemeldet.«

»Was ist mit deinen Töchtern?« Carola stellte Ines und Victoria in dieser Beziehung auf eine Stufe.

»Nein, da kommt keine mit. Ist ja irgendwie verständlich«, fügte er erklärend hinzu. »Aber das müssen wir jetzt nicht diskutieren. Ich will dich auch nicht weiter von der Arbeit abhalten.«

»Na gut. Mir wäre es ja egal, aber meinem Chef nicht«, lachte Carola. »Dann mach´s gut, großer Bruder!«

»Mach´s gut, meine Kleine!«

Ach ja, überlegte Christian, an Carola blieb jetzt alles hängen. Obwohl sie die Jüngere war, hatte sie schon von Kindheit an die Fäden in der Hand. Er war einfach zu ruhig, reden war nicht sein Ding, und schreiben eigentlich auch nicht. Von seiner Exfrau wurde er dafür immer kritisiert. Erst Monika wusste ihn zu nehmen, wie er war.

Er putzte sich die Hände ab und griff zur Wasserflasche, die er schon fast ausgetrunken hatte. Mit Sicherheit war die Temperatur längst wieder über 30 Grad gestiegen. Nein, an das Getriebe ging er heute nicht mehr. Dafür fühlte er sich zu abgespannt. Christian griff zum Handy und tippte eine Nachricht an Monika. »Kommst du nachher pünktlich heim? Was hältst du von einer Runde schwimmen

Kaum eine Minute später erklang schon das »Pling«, was den Eingang einer Nachricht signalisierte.

»Super! Bin spätestens 16.00 Uhr da.« Ein grinsender Smiley vervollkommnete den Text.

Er lächelte. Noch immer fühlte er so etwas wie Verliebtheit, wenn er an seine Frau dachte. Nach all den Beziehungen, die er hinter sich hatte und die auch durch seine Schuld nicht hielten, was sie versprachen, fühlte er sich jetzt einfach wohl. Hier bei Monika war er angekommen. Mit ihr wollte er alt werden.

Christian räumte seine Arbeitsmaterialien zusammen, brachte den Müll nach draußen in die Tonne und begab sich auf den Heimweg. Nachdem er geduscht hatte, setzte er sich ins Auto und fuhr zum Bäcker. Dort ließ er sich ein paar belegte Baguettes einpacken. Wieder zuhause angekommen, schnippelte er noch Gurke, Melone und Tomaten in mundgerechte Stücke und packte alles zusammen mit ein paar Weintrauben in eine Kühltasche. Im Kühlschrank vorgekühlte Getränke ergänzten seine Proviantbox. Der Blick auf die

Uhr zeigte ihm, dass Monika jeden Moment kommen musste. Flink stopfte er noch die Handtücher und die Badesachen in die Sporttasche, als er auch schon Monikas roten Mini um die Ecke biegen sah.

»Da bist du ja!«, begrüßte er sie erfreut. »Wirf dich rasch in ein paar zivile Klamotten, dann können wir los.« Das Sommerkleid, was sie im Büro trug, war zwar hübsch, aber für ein Picknick am Wasser nicht so optimal.

»Dann werde ich mich mal deiner Kleiderordnung anpassen«, entgegnete sie mit Blick auf Christian, der in Shorts und Muskelshirt vor ihr stand. Sie überlegte gar nicht lange und griff zu dem Top und dem Rock vom Vortag. Um sich ins Gras zu setzen, waren die Sachen noch gut. Während sie sich umzog, hatte Christian schon die Kühlbox und die Tasche in den Mini getragen.

Mit einem durchdringenden Quietschton zog Monika die Tür ins Schloss. »Auf geht´s!«

Hier in der Bayerischen Niederung, in den Tälern von Donau, Naab und Regen gab es eine Vielzahl von kleinen Seen oder Teichen, die jedoch meistens der Fischzucht und den Anglern vorbehalten waren. Einige wurden aber auch seit jeher von den Bewohnern der anliegenden Ortschaften zum Baden genutzt. Besonders die Kinder fanden den Sprung in den nahegelegenen Weiher viel besser, als die teuren Freibäder in den Städten.

Etwas abseits von der offiziellen Badestelle breitete Christian die mitgebrachte Decke aus. »Komm, setz dich. Ruhe dich erst ein wenig aus, ehe du in die Fluten springst.« Er öffnete die Kühlbox und schob seiner Frau eine süße, rote Weintraube in den Mund.

»Oh, du hast ja an alles gedacht!«, freute sie sich und streifte sich das Top und den Rock ab, worunter sie bereits ihren Badeanzug trug. »Aber das kommt später. Ich muss mich jetzt endlich erfrischen.« Mit einem Satz sprang sie auf und rannte, übermütig wie ein Kind zum Ufer, um sich bäuchlings ins Wasser zu stürzen.

Kopfschüttelnd sah Christian ihr nach. Als er ein Junge war, da konnte er es ebenfalls gar nicht erwarten, endlich ins Wasser zu kommen. Auch wenn die Oma ihm immer mit auf den Weg gab, er müsse sich erst vorher abkühlen, getan hatte er es nie. Oma war wohl die Einzige gewesen, die auch genau wusste, wo er baden ging. Obwohl es seine Eltern verboten hatten, radelte er regelmäßig am städtischen Freibad vorbei, um sich mit seinen Freunden am alten Kalkbruch zu treffen. Steil ragten die Kalkwände am Ufer des kleinen Sees auf und lockten zu gewagten und nicht ungefährlichen Sprüngen. Das war Abenteuer! Seine kleine Schwester hockte derweil am Beckenrand des Stadtbades und traute sich nicht mal, vom Turm zu springen. Wenn am Abend das Bad seine Pforten schloss, traf er Carola wieder. Nie hatte sie ihn verra-

ten; im Gegenteil, so manches Mal, wenn die Eltern misstrauisch wurden, hatte sie ihm ihre Eintrittskarte als Alibi zugesteckt.

Jetzt legte auch er seine Sachen ab und folgte Monika ins Wasser, nicht, ohne sich vorher mit einer Handvoll Wasser abzukühlen. Nun endlich hörte er auf seine Oma.

Mit kraftvollen Bewegungen kraulte er zu seiner Frau. »Ist doch herrlich hier!«, rief er ihr zu. »Wenn das Wetter wirklich die ganze Woche so bleibt, können wir jeden Abend herfahren und uns erfrischen.« Sie schwammen gemeinsam bis zu einer Sandbank, die eigentlich über einen Meter unter der Wasseroberfläche lag. Doch der fehlende Regen in den letzten Wochen und die Wärme der vorangegangenen Tage hatten den Wasserspiegel so stark abgesenkt, dass man auf der Sandbank sitzen konnte. Das angenehm kühle, glasklare Wasser umspielte ihre Köper. Christian sah seine Frau an. Wie schön sie war! Wie eine Seejungfrau kam sie ihm vor mit ihren nassen offenen Haaren. Er beugte sich zu ihr und küsste sie zärtlich. Monika war alles, was er sich je ersehnt hatte. Sie war hübsch, sie war klug und sie hatte Einfühlungsvermögen. Sie hatte ihm zugeredet, sich mit seiner Exfrau zu verständigen, um wenigstens die Verbindung zu seiner Tochter nicht ganz abreißen zu lassen. Nach dem letzten Treffen mit Ines war er sicher, es konnte noch besser werden.

»Lass uns zurück schwimmen.« Christian griff nach Monikas Hand. »Das Picknick wartet!«

»Überredet!« Monika ließ sich ins tiefe Wasser gleiten und schwamm auf das Ufer zu.

Im Gras breiteten sie ein Tuch aus und machten sich, vom Schwimmen hungrig, über die mitgebrachten Leckereien her. Genüsslich schlürfte Monika einen sekthaltigen Cocktail mit dem Trinkhalm direkt aus der Flasche. Leicht beschwipst ließ sie sich nach hinten auf die Decke sinken und schloss die Augen. Zärtlich hauchte Christian seiner Frau einen Kuss auf die Lippen.

So hatte er damals als junger Mann auch mit seiner ersten Freundin im Gras gelegen. Lange hielt diese erste Liebe nicht; und auch die nachfolgenden Beziehungen gingen schneller in die Brüche als er dachte. Die Mädchen kamen und gingen. Einmal war er sogar verlobt gewesen. Das war jetzt um die 35 Jahre her. Die Armee und die damit verbundene lange Trennung kamen ihm und Hanna in die Quere. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er die wenigen freien Tage mehr mit seiner Schwester und dem Schwager verbrachte als mit seiner Freundin. Carola hatte ihren Freund geheiratet und wurde bald darauf schwanger. Als wäre er, Christian, selbst der Vater des Babys, fieberte er der Geburt von Carolas erstem Kind entgegen. Noch heute trieb es ihm die Tränen in die Augen, wenn er an das kurze Leben seines Neffen dachte, den

er nie in den Armen halten konnte. Nur wenige Wochen nach seinem ersten Schrei schloss der kleine Uwe für immer seine Augen. Damals brach auch für ihn eine Welt zusammen. Als hätte er geahnt, dass es keinen weiteren geben würde, trauerte er um den einzigen männlichen Nachkommen. Drei Mädchen vervollkommneten in den nächsten Jahren die Familie. Zwei Jahre nach Uwe wurde Carolas Tochter Uta geboren und wieder zwei Jahre später, nach seiner Hochzeit mit Beate, kam seine Ines zur Welt, fast ein Jahr danach Victoria. Doch die lernte er erst als Elfjährige kennen.

»Woran denkst du?« Monika blinzelte ihn aus halb geschlossenen Augen an.

»Ach nichts. Nur so.« Er wollte jetzt die Stimmung nicht mit traurigen Erinnerungen zerstören.

Monika ließ es dabei bewenden. Ihre Eltern lebten noch, doch als ihre Großmutter starb, war sie auch oft so in den Erinnerungen versunken. Manchmal brauchte man solche besinnlichen Momente.

Als die Sonne hinter dem Wäldchen, das den Weiher vom Fluss trennte, versank, packten sie ihre Sachen wieder ein und trugen die Taschen zurück zum Auto, sichtlich erholt und erfrischt und nach einer geruhsamen Nacht fit für den neuen Arbeitstag.

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