Zweitsommer

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sebastian sah fragend zu seiner Freundin, machte dann aber den ersten Schritt in Richtung Haustür.

»Guten Abend, Frau Schwerzer«, grüßte er Julias Mutter höflich.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer musste Berit beinahe lachen, und sie sprach diesen komischen Gedanken auch gleich aus. »Heute passen wir ja richtig gut zusammen«, wandte sie sich an Sebastian.

»Heute haben wir beide schwarze Klamotten an! Und dazu noch unser Name, da wird alles gleich noch schwärzer!« Das Wortspiel war ihr spontan in den Sinn gekommen.

»Mama! Das ist ja makaber!« Julia wusste nicht, was sie von ihrer Mutter zu halten hatte.

Doch Sebastian konterte sofort. »Lass nur, Humor ist, wenn man trotzdem lacht, selbst wenn man schon den Sarg zu macht!« Julia kicherte leise über Sebastians Reim.

»Ja, vielleicht ist es sogar gut, auch angesichts des Todes zu lachen, schließlich gehört er zum Leben«, sinnierte Berit.

»Sie haben Julia ja auch getröstet, als ihr Opa gestorben ist«, sprach sie nun wieder Sebastian direkt an. »Sie hat mir von Musik und Gedichten erzählt. Darf ich mal fragen, was das für Musik ist, die Sie so hören?«

Sebastian dachte kurz nach. »Gibt es hier einen USB-Anschluss? Ich habe einen Stick in der Tasche, der ist randvoll, da könnten wir mal reinhören.« Berit schüttelte den Kopf. »Nein, hier nicht. Der PC steht im Büro drüben im Geschäft.«

Aber Julia war schon aufgesprungen. »Wartet, ich hole mein Laptop. Da wird zwar die Klangqualität nicht so optimal sein, aber zum Anhören wird es genügen.«

Während Julia die Treppe herauf lief, unterhielten sich Berit und Sebastian weiter. »Ich weiß nicht, ob Sie schon was davon kennen, Frau Schwerzer«, begann der junge Mann zu erklären. »Vielleicht haben Sie ja schon mal was von »Unheilig« gehört. Das kommt jetzt sogar im Radio. Noch vor ein paar Jahren waren die Fans nur in der Gothic-Szene zu finden, jetzt hört es die halbe Welt. Auch »Rosenstolz« kommen eigentlich aus der Ecke. So ähnliche Bands gibt es viele, aber die meisten bleiben eher unbekannt oder sind nur in einem engen Fankreis bekannt, dort aber um so beliebter. Wenn Julia das Laptop hier hat, können wir mal in Songs reinhören von »Lacrimosa«, »L´Ame Immortelle«, »ASP«,

»Oomph«, »Illuminate« oder »Das Ich«. Es gibt auch welche mit ganz schön krassen Namen und ebensolchen Outfits, aber alle machen total gefühlvolle Musik. Schon mein Bruder hat das gehört und mir gefällt es auch. Und in den Zeitschriften der Gothic-

Szene findet man immer ein paar Seiten mit Gedichten von Lesern, in denen man sich wieder findet, die oft traurig sind, aber trotzdem irgendwie Mut machen. Glauben Sie mir, Frau Schwerzer, wir sind keine potentiellen Selbstmörder und auch keine so genannten Satanisten.«

Julia hatte schon einen Moment an der Treppe gestanden und gehört, was Sebastian ihrer Mutter erklärt hatte. Sie hatte nicht dazwischen platzen wollen, denn jetzt sah sie ihre Chance, dass die Mutti ihre bisher so ablehnende Haltung revidierte. Zu gerne wäre sie doch mit Sebastian noch am Pfingstwochenende nach Leipzig gefahren. Aber bisher hatte sie sich nicht getraut, ihren Eltern diesen Wunsch nahe zu bringen.

Sebastian hatte eine kleine Pause gemacht nach seinem Monolog. Nun setzte sich Julia wieder zu ihnen. Sebastian klappte das Laptop auf und steckte den USB-Stick in den Anschluss. Und schon bald erfüllten ungewohnte Töne und Klänge den Raum. Berit gab sich ganz dem Gefühl hin, das diese Musik plötzlich in ihr hervorrief. Ohne, dass es ihr bewusst wurde, liefen Tränen über ihre Wangen. Doch das Weinen tat nicht weh, es war auf unerklärliche Weise beruhigend und befreiend.

Nach einer Weile drückte Sebastian die Pausentaste. »Ich kann Ihnen gerne auch eine CD brennen,

dann können Sie es im Auto hören, da mag ich die Musik auch besonders gern.«

Berit sah Julia und ihren Freund an und nickte nur. Ja, im Auto, da hatte sie jetzt immer das Radio ausgeschaltet, weil ihr die Unterhaltungsmusik zu viel wurde. Aber das hier, das wollte sie gerne ab und zu hören.

Jetzt war Julias Moment gekommen. Sie nahm die Hand ihrer Mutter. »Mama, jetzt kennst du den Basti und die Musik. Und jetzt habe ich eine Bitte. Darf ich morgen mit ihm nach Leipzig fahren zum Wave Gotik Treffen? Bitte Mama, sag ja!«

Für einen Augenblick fühlte sich Berit überrumpelt. Doch dann lächelte sie die beiden erwartungsvoll blickenden jungen Leute an. »Ich denke mal, ich kann gar nicht nein sagen, oder? Dann erzählt mal, wie ihr euch das vorgestellt habt.«

Sebastian begann zu erklären: »Ich bin ja schon 18 und habe auch einen Führerschein. Morgen darf ich das Auto von meinem Vater nehmen. Aber wir fahren nur bis zum Stadtrand, dort steigen wir in die Straßenbahn um. Wir haben auch keine teure Festivalkarte gekauft, aber es gibt genug Veranstaltungen, die öffentlich sind, wo wir hingehen können.«

»Wo will wer hin?« Von den dreien unbemerkt war Daniel zur Tür herein gekommen und sah erstaunt auf die muntere Diskussionsrunde im Wohnzimmer mit dem Laptop auf dem Tisch.

Berit sah ihren Mann durchdringend an. »Ich erzähle es dir später, es ist nichts Schlimmes.«

Julia war aufgestanden. »Ich bringe noch rasch den Basti raus, dann verziehe ich mich nach oben. Gute Nacht, Papi. Gute Nacht, Mami!«

Auch Sebastian verabschiedete sich, nicht ohne noch einmal ein dankbares Lächeln zu Julias Mutter zu werfen.

Daniel fand kurz darauf kaum Worte für das, was sich hier in seiner Abwesenheit ereignet hatte. Nur einmal hatte er fassungslos gefragt: »Was, zu den Gruftis?« Doch nachdem ihm seine Frau einen Teil von Sebastians Erklärung wiedergegeben hatte, war auch er halbwegs beruhigt. Und außerdem, da gab es doch ganz andere Sorgen, die Eltern mit ihren heranwachsenden Kindern hatten. Julia hatte Vertrauen zu ihnen und das sollten sie ja wohl auch zu ihr haben!

Am nächsten Morgen saß Julia, ganz entgegen ihren Gewohnheiten am Wochenende in der letzten Zeit, gemeinsam mit den Eltern am Frühstückstisch. Berit beobachtete ihre Tochter aus den Augenwinkeln heraus und amüsierte sich über deren Unruhe. Dann endlich ertönte die Hupe eines Autos vor dem Haus und Julia sprang sofort auf. Mit ihrem Freund an der Hand kam sie zurück zu den Eltern.

Sebastian hatte eine an den Seite geschnürte schwarze Lederhose an, die ihm ausgezeichnet stand, und ein naturfarbenes Hemd, ebenfalls mit Schnürung statt Knöpfen. Julia trug zum langen schwarzen Rock ein knallrotes Trägertop. Und zum Erstaunen aller hatte sie sich die ungeliebte »Beerdigungsbluse« der Mutter frisch von der Wäscheleine geholt und locker über dem Top gebunden. Julias Haar fiel lang und glatt über ihre Schulter, während Sebastian die dunkel gefärbten Haare in Irokesenart steil nach oben gestylt hatte. Nun sah man auch, dass seine seitlichen Kopfpartien rasiert waren, was er aber im Alltag mit den darüber liegenden Haaren verdeckte. Doch auf diese kleinen Ungewöhnlichkeiten seines Äußeren kam es längst nicht mehr an. Die Eltern sahen das Glück in Julias Augen und wünschten den beiden einen schönen ereignisreichen Tag in Leipzig.

Als das Auto um die Straßenecke gebogen war, gingen die Eltern zur Tagesordnung über. Berit räumte den Frühstückstisch ab und nahm die restliche Wäsche von der Leine, während sich Daniel in den Laden verabschiedete. Bedrückt sah ihm Berit nach. Mit seinem Geschäft schien er mehr verheiratet zu sein als mit ihr. Daniel war im Grunde ein lieber Ehemann, doch sie fühlte sich irgendwie von ihm vernachlässigt. Sie hatten kaum noch Gemeinsamkeiten. Als Julia noch jünger gewesen war, hatte es noch ab und zu gemeinsame Ausflüge gegeben, wohl um des Kindes Willen. Doch diese Zeit war nun endgültig vorbei. Ihr Julchen baute sich sein eigenes Leben auf, und darin spielten die Eltern nicht mehr die erste Geige.

Also versuchte Berit mal wieder, sich mit der Situation zu arrangieren. Im Haushalt war einiges liegen geblieben, was ihr jetzt unangenehm ins Auge fiel. Mit Staubtuch und Möbelspray bewaffnet brachte sie wieder Sauberkeit und Ordnung in die Räume. Zum Mittag setzte sie Kartoffeln auf und legte Bratwürstchen in die Pfanne. Daniel mochte Hausmannskost, und Kartoffelbrei mit Würstchen am meisten. Sie wollte gerade zum Telefon greifen und im Geschäft anrufen, als er schon in der Tür stand.

»Na, das klappt ja wieder mit uns wie ein Länderspiel!«, rief er Berit entgegen, als er sah, dass das Essen fertig war.

Berit stellte die gefüllten Teller auf den Tisch. Ein Glück, dass er so ans Essen gewöhnt ist, ging ihr durch den Kopf.

Sie hatte eigentlich erwartet, dass Daniel sich nach dem Essen wieder in den Laden verziehen würde, doch er schüttelte den Kopf. »Nein, von jetzt an bis zum Dienstag ist Pfingsten. Weißt du, das muss auch einmal sein. Wenn ich dran denke, wie schnell

das Leben zu Ende sein kann, dann sollte man doch ab und zu eine Pause einlegen.«

Durch den Tod von Berits Vater schien ihm das plötzlich wieder bewusst zu werden, wie wertvoll doch das Leben war. Sicherlich hatte er es über Jahre hinweg verdrängt, nachdem seine eigenen Eltern kurz nacheinander verstorben waren. Berit nahm es dankbar zur Kenntnis.

So setzten sich die Eheleute nach dem Mittagessen ins Wohnzimmer und nahmen sich jeder ein Buch zum Lesen. Berit musste für einen Moment überlegen, wo sie sich gerade in der Handlung befand. Sie hatte zwar ein Lesezeichen im Buch liegen, aber so lange nicht hinein gesehen, dass sie kaum noch wusste, worum es ging. Doch nach zwei Seiten war sie in die Handlung eingetaucht und schon bald davon gefesselt. Daniel waren die Augen zugefallen. Die viele Arbeit in der letzten Zeit, dazu die traurigen Ereignisse, das alles forderte seinen Tribut.

 

Berit schlich sich in die Küche und begann ein paar Blätterteigtaschen zu backen. Mit Besuch war eher nicht zu rechnen und für sie beide würde es reichen. Der Kaffeeduft weckte dann auch ihren Mann wieder auf. Er schaltete den Fernseher an und zappte durch die Programme. Und so, als hätte er es gewusst, kam ein kurzer Bericht vom Wave Gotik Treffen in Leipzig. Da also, inmitten dieser

schwarzen Szenegestalten lief nun auch ihre Tochter herum. Aber der Bericht war so positiv, selbst die »normalen« Passanten auf der Straße äußerten sich nicht abfällig über das illustre Völkchen, dass die Eltern sich nun von Herzen für ihre Tochter freuen konnten.

»Weißt du was, Berit«, überlegte Daniel am Abend, »wir könnten doch morgen einen Ausflug machen.« Berit ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, als sie erwiderte: »Gute Idee, hast du schon ein Ziel ausgesucht?«

»Ich dachte, wir fahren in den Harz, das ist nicht weit und ich denke, am Josephskreuz ist bestimmt einiges los zu Pfingsten. Wir könnten auch deine Mutti fragen, ob sie mitkommt. Es wäre doch gut, wenn sie mal rauskommt nach dem Schock. Auf Julia brauchen wir wohl nicht mehr zählen. Wer weiß, wann die beiden wieder zurück sind, da ist bestimmt erst mal ausschlafen angesagt und dann wird sie doch lieber zu Sebastian wollen als mit uns rum zu kutschen.«

»Ja, genau so machen wir es!« Berit war mit allem einverstanden, was ihr Mann vorgeschlagen hatte. Es würde ihnen allen gut tun, dem Stress der letzten Tage zu entfliehen. »Ich rufe Mama gleich noch an.«

Als Berit ihrer Mutter von Daniels Vorschlag berichtet hatte, war die, entgegen aller Befürchtungen, sofort einverstanden. »Wir holen dich dann ab, so gegen 10!«

Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und wandte sich dem Fernsehprogramm zu. Die seichte Samstagabendunterhaltung plätscherte aber mehr an ihr vorbei, als sie es in sich aufnahm. Irgendwie waren ihre Gedanken nicht bei der Sache. Mehrfach ging ihr Blick zur Uhr und zum Telefon und wieder zurück. Zu gerne hätte sie Julia auf ihrem Handy angerufen, wollte wissen, ob es ihr gut ging, wo sie war. Doch sie verkniff es sich lieber. Wie peinlich war es damals gewesen, wenn die Mutter einfach »zur Kontrolle« in ihr Zimmer geplatzt war, wenn sie Besuch hatte oder wenn ihr Vater am Abend vor dem Jugendclub stand, um sie abzuholen. Oh, hätte es damals schon Handys gegeben, Berit hätte wohl keine ruhige Minute gehabt.

Schließlich gingen Berit und Daniel zu Bett. Doch spät in der Nacht drang das vertraute Geräusch der Haustür an Berits Ohr und Julias Schritte auf der Treppe. Nun erst schlief sie ruhig weiter bis zum Morgen.

Nach einem gemütlichen Sonntagsfrühstück rüstete sich das Ehepaar für den geplanten Ausflug. Sie legten für ihre Tochter einen Zettel auf den Tisch,

dass sie zum Abend wieder da sein würden. Daniel zückte seine Geldbörse und holte noch 20 Euro heraus. Vom Taschengeld dürfte wohl nach dem Tag in Leipzig nicht mehr viel übrig sein. Vielleicht wollten die jungen Leute ja ein Eis essen gehen. Und auch wenn Sebastian schon 18 war, er befand sich noch in der Ausbildung und das Lehrgeld war hierzulande nicht so üppig.

Berits Mutter musste schon fix und fertig angezogen hinter der Gardine gestanden haben. Kaum, dass sie mit dem Auto vor dem Haus angehalten hatten, kam sie auch schon aus der Tür.

Berit war ausgestiegen, um ihrer Mutter den Platz auf dem Beifahrersitz anzubieten. Doch die lehnte ab. »Lass nur, Mädchen, euer Auto ist hinten doch auch bequem und Platz genug habe ich auch.« So stieg die Mutter also hinten ein und lehnte sich ins Polster zurück. Daniel sah noch einmal nach hinten, ob seine Schwiegermutter auch den Gurt umgelegt hatte, dann fuhren sie los.

Sie nahmen die steil bergan führende Ausfallstraße in Richtung Harz. Der Vater hatte Berit einmal erklärt, dass diese Straße ein Stück der alten Kohlenstraße sei, die vom Harz bis zur Saale führte. Noch immer war es die kürzeste Verbindung, wenn man in den Harz wollte. Sie durchquerten zwei kleine Dörfer und bogen dann auf die Bundesstraße ein, die Harzhochstraße, die seit Jahrhunderten den Ost-

harz und den Westharz verband. Auch das hatte ihr der Vati erzählt. Im Atlas ihrer Schulzeit und den damaligen Landkarten hatten der Harz und die Straße abrupt im Nichts geendet und Berit hatte sich gar nicht vorstellen können, dass danach doch noch etwas kam. Als die Straße wieder durchgängig befahrbar war, hatten sie sich auch den westlichen Teil des Harzes angesehen, waren in Braunlage und Clausthal-Zellerfeld gewesen. Doch es zog sie immer wieder hier her, in den östlichen Teil des Gebirges. Zwar waren auch hier die Souvenirläden und Restaurants nur so aus dem Boden geschossen, doch hatte sich der Kommerz nicht in dem Maße durchsetzen können, wie im westlichen Teil. Vieles hier war einfacher, aber auch uriger und die Menschen irgendwie herzlicher.

So in ihre Gedanken versunken, bemerkte Berit gar nicht, dass sie die Hauptstraße schon verlassen hatten und sich dem Auerberg näherten. Daniel bog auf den Parkplatz ein. Früher hatten sie meistens in einem ständig feuchten Waldweg geparkt, wenn sie mit Markus hier hoch gefahren waren. Jetzt gab es einen, den Touristenströmen angepassten, großen befestigten Parkplatz. Aber noch immer stand der winzige Andenkenkiosk an der selben Stelle wie vor 25 Jahren. Fast so etwas wie Nostalgie kam in Berit bei dem Anblick auf.

Am Beginn des Waldweges, der hinauf auf den Berg führte, stand ein Pferdegespann mit einem Kremserwagen. Daniel hatte es als erster entdeckt.

»Seht mal, da könnten wir doch nach oben mitfahren!«, schlug er den beiden Frauen vor. Er dachte dabei natürlich an seine Schwiegermutter, welcher der beschwerliche Weg nach oben doch Mühe bereiten würde. Aber wie aus einem Mund kam von beiden die Antwort: »Gute Idee!«

Der Fahrpreis, den der Kutscher verlangte, war moderat. So nahmen die drei in dem Wagen Platz. Rasch füllten sich auch die anderen Plätze und das Pferdegespann setzte sich in Bewegung. Langsam und bedächtig wand sich der Waldweg dem Gipfel entgegen. Und nach der letzten Kurve kam es den Fahrgästen ins Blickfeld, das Josephskreuz. Es galt noch immer als das größte eiserne Doppelkreuz der Welt. Vor über 110 Jahren nach dem Vorbild des Eiffelturms in Paris errichtet, erhob es sich seit dem auf dem Großen Auerberg fast 40 Meter in die Höhe. Ein traumhafter Blick war der Lohn für die mühsame Kletterei hinauf. Aber wer nicht schwindelfrei war, dem wurde dringend von der Besteigung abgeraten.

Die drei Ausflügler hatten das auch gar nicht vor. Schon von Weitem hatte Blasmusik vom Berg geklungen. Nun setzten sie sich am Waldrand auf eine Bank und lauschten den Klängen der Kapelle,

die sich mit einem Chor abwechselte, der romantische Volkslieder vortrug. Es war eine melancholische Stimmung, die doch nicht ins Traurige umschlug. Berit und Daniel sahen sich an und ohne Worte waren sie sich einig. Es war eine gute Idee gewesen, mit der Mutter hier her zu fahren.

Eine Stunde später saßen sie im Biergarten des Berggasthauses und ließen sich das deftige Mittagessen schmecken.

»Wollen wir nachher wieder mit dem Kremser fahren oder vielleicht laufen?«, erkundigte sich Daniel bei den beiden Frauen.

»Ach weißt du«, meinte Berits Mutter, »es geht ja bergab und ein paar von den Kalorien kann man sich ruhig wieder ablaufen.« Sie deutete auf ihren gesättigten Bauch.

»Gut, dann machen wir aber einen Abstecher zum Schindelbruch. Dort können wir Kaffee trinken oder ein Eis essen.« Das Hotel am Fuße des Berges entwickelte sich immer mehr zum Touristenmagneten. Vor zwei Jahren hatte Daniel seine Berit einmal zu einem Wochenendaufenthalt eingeladen. Und am Lächeln seiner Frau sah er, dass sie es noch immer in der besten Erinnerung hatte.

Pünktlich zur Kaffeezeit nahmen sie auf der Terrasse des Hotels Platz.

»Ach, wenn ich nur die Speisekarte lese, könnte ich schon wieder essen!«, schwärmte Daniel in Erinnerung an die Kochkünste des Hauses. Doch schließlich entschieden sich alle drei für Kaffee und Kuchen und genossen das Ambiente, hier inmitten des Waldes.

Noch einmal gut gestärkt machten sie sich schließlich auf den Rückweg zum Auto. Daniel hatte zwar vorgeschlagen, alleine bis dorthin zu laufen und das Auto her zu holen, doch das war von seiner Schwiegermutter vehement abgelehnt worden. Und Berit war froh, ihre Mutti wieder in so guter Verfassung zu wissen. Sie konnte die Kraft brauchen, es würde noch schwer genug werden, bis sie den plötzlichen Tod ihres Mannes verarbeitet hatte.

»Danke für den schönen Tag, ihr Lieben!« Berits Mutter stand vor der Haustür und umarmte Daniel und ihre Tochter. »Lass nur Mama, es hat auch uns gut getan. Morgen werden wir es noch ein bisschen schleifen lassen, aber am Dienstag geht die Arbeit von vorn los. Nur Julia hat Glück, bei ihr sind Pfingstferien. Sie wird dich ganz bestimmt mal besuchen kommen. Sie hat übrigens einen sehr netten Freund. Lass dich nur nicht von seinem Äußeren abschrecken. Sebastian ist ein wirklich lieber junger Mann und er tut Julia gut. Vielleicht lernst du ihn ja bald einmal kennen.«

Damit umarmte Berit ihre Mutter noch einmal und stieg wieder ins Auto ein. Hinter der Mutter fiel die Tür ins Schloss.

Kurz darauf lenkte Daniel das Auto in die Einfahrt. Es gab zwar auch eine Garage am Haus, doch wegen des Geschäfts hatte Daniel einen kleinen Lieferwagen angeschafft, der momentan wenig genutzt wurde und meistens in der Garage stand. Also musste der Audi mit dem Außenplatz vorlieb nehmen.

Als sie ins Haus eintraten, wirbelte ihnen eine fröhlich lachende Julia entgegen.

»Hallo Mami, hallo Papi! Na, hattet ihr einen schönen Ausflug? Und wie geht es Omi?«

Daniel bremste den Überschwang seiner Tochter.

»Mal immer langsam mit den jungen Pferden! Unser Ausflug war schön. Aber wir müssen dir doch erst mal die Gegenfrage stellen. Wie war denn euer Ausflug? Es war ja ganz schön spät oder eher früh letzte Nacht!«

»Ach, wenn ich das alles erzählen würde, es könnte etwas länger dauern. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was da ab geht in Leipzig! Einfach genial. Und alles ganz friedlich, wir haben einen Haufen nette Leute kennengelernt. Wir haben sogar ein Autogramm von einem Sänger bekommen. Der lief da einfach auf der Straße rum und Basti hat ihn angesprochen. Der war so was von cool drauf! Ich glau-

be, nächstes Jahr kaufen wir uns eine Wochenendkarte und fahren mit dem Zelt hin. Ich fange schon mal an mit sparen.« Sie machte eine kleine Verschnaufpause. »Und danke noch für das Geld, das war lieb von Euch, wir haben uns Döner gekauft, irgendwann am Nachmittag hatten wir doch Hunger.

Aber nun sagt schon, wie geht es der Oma? Hat es ihr im Harz gefallen?«

Berit legte ihrer Tochter den Arm um die Schulter.

»Der Oma hat es gut gefallen und ich glaube, es ging ihr heute auch gut. Sie braucht einfach etwas Gesellschaft. Kannst du nächste Woche ab und zu mal bei ihr vorbei gehen und nach ihr sehen? Du hast doch Ferien.«

»Aber klar, mache ich das. Ist doch auch immer schön, sich von Omi eine heiße Schokolade kochen zu lassen.«

Berit stand auf und sah ihre Eltern an. »Seid ihr böse, wenn ich noch mal zu Basti gehe?« Sie war schon auf dem Weg zur Tür.

Daniel lachte. »Verschwinde schon!«

»Und grüße den Sebastian von uns!«, fügte Berit noch hinzu, ehe die Tür ins Schloss fiel.

Berit richtete für sich und ihren Mann ein paar belegte Brote zum Abendessen an und schaltete den Fernseher ein. Daniel öffnete eine Flasche Wein und so ließen die beiden den Tag ausklingen.

Auch wenn morgen noch ein Feiertag war und damit etwas Ruhe, so wussten sie doch, dass die kommenden Tage jeden wieder fordern würden.

Als Berit am nächsten Morgen die Augen aufschlug, hingen dunkle Wolken vor dem Fenster. Noch fiel kein Regen, aber wer weiß, wie lange sich das Wetter noch halten würde. Welch ein Glück, dass sie den Ausflug am Sonntag gemacht hatten!

Nun ließen sie es also ruhig angehen. Nach einem ausgiebigen Frühstück, zu dem sich sogar Julia hinzu gesellte, bereitete Berit das Mittagessen vor.

»Und, was steht bei dir heute noch auf dem Plan?«, wollte sie von ihrer Tochter wissen.

Julia grinste ihre Mutter an. »Na was schon! Nach dem Essen gehe ich zu Basti, bisschen Musik hören und auf dem Sofa rumhängen. Wenn ich den Himmel ansehe, wird es keinen Spaziergang geben.«

Berit lächelte vor sich hin. Ach ja, wenn man jung und zu zweit ist, dann ist das Wetter sowieso egal, solange sich irgendwo ein gemeinsames Plätzchen findet. Und Sebastians Eltern schienen der Beziehung der beiden offen gegenüber zu stehen. Berit erinnerte sich noch an die Zeit, als Markus so alt war. Da waren sie irgendwie ruhiger und gelassener gewesen. Wahrscheinlich lag es doch daran,

 

dass Markus eben ihr großer Junge und Julia ihr kleines Mädchen war.

Nach dem Essen nutzte Berit die Zeit, um sich der Bügelwäsche zu widmen. Das gehörte wahrhaftig nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Doch Daniels Hemden und die Arbeitskittel sollten schon entsprechend gepflegt aussehen. Schließlich stand er tagtäglich den Kunden gegenüber. Als Berit auch noch eine offene Naht an einem der Kittel entdeckte, holte sie kurzerhand die Nähmaschine hervor. Dann ist heute eben der Bügelund Flicktag, dachte sie bei sich.

Daniel hatte sich in die Garage verzogen und sah mal nach den Autos. Schließlich hatte er Schlosser gelernt und konnte viel selbst erledigen. Leider fehlte ihm oft die Zeit. Heute nutzte er sie aber intensiv und Berit hörte später sogar das Brummen des Staubsaugers zu ihr herüber dringen und riss sie aus ihren Gedanken.

Morgen würde sie wieder zur Arbeit gehen. Morgen war der Vater genau eine Woche tot. Noch immer schien es ihr so unwirklich zu sein. Er war der Held ihrer Kindheit gewesen, war wie ein Fels in der Brandung gewesen. Nun gab es ihn nicht mehr. Was blieb, war die Erinnerung.

Berit dachte an die Kinder, um die sie sich morgen wieder kümmern würde. Sie arbeitete gern mit

Kindern. Viele von denen hatten keinen Vater, der sie liebte. Manche kannten ihren nicht einmal.

Nein, sie durfte nicht traurig sein, dass es den Vati nicht mehr gab. Sie musste froh und dankbar sein, dass er ihr so viele schöne Jahre mit so viel Zuneigung geschenkt hatte.

Das Geräusch des Staubsaugers war verstummt. Berit räumte die Nähmaschine und das Bügeleisen weg und sah verwundert auf die Uhr. Die Zeit war vergangen wie nichts. Zum Kaffee trinken war es zu spät. So setzte sie Teewasser auf und richte ein kleines Buffet an. Daniel würde bestimmt Appetit mitbringen, wenn er rüber kam.

Ein wenig später trudelte auch Julia wieder ein und stopfte sich gleich ein paar der leckeren Häppchen in den Mund.

»Ach Mama, ich glaube, zum Essen werde ich auch in zehn Jahren noch her kommen, bei dir schmeckt es noch immer am Besten!«, rühmte sie ihre Mutter.

»Na, darüber sprechen wir aber noch mal«, wand Berit sichtlich amüsiert ein, während Daniel genüsslich kauend seiner Tochter beipflichtete: »Aber recht hat sie!«