Zweitsommer

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Kinderseelen

Aus einem unruhigen Schlaf erwachte Berit, als sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Sie sah auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass ihr noch genug Zeit blieb, bis sie zur Arbeit los musste. Nachdem sie rasch geduscht hatte, trank sie eine Tasse Kaffee und bestrich sich eine Toastscheibe mit Frischkäse, ehe sie sich die Haare föhnte. So gestärkt, machte sie sich kurz darauf auf den Weg.

Das Kinderhaus war eine freie Jugendeinrichtung im Neubauviertel der Stadt. Es war vor allem gedacht für die Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren, die für den Hort in der Grundschule zu alt, fürs Alleinbleiben aber zu jung waren. Viele der Kinder kamen aus problematischen Elternhäusern, die außer »Hartz 4« keinen Beruf der Eltern nennen konnten. Andere waren Kinder allein erziehender Mütter, die sogar mehr als eine Putzstelle annahmen, um ihre Kinder zu kleiden und zu ernähren. Jedoch blieben die Kinder dann oft mangels Zeit und Zuwendung auf der Strecke.

Wenn Berit darüber nachdachte, hatte es auch früher schon Familien gegeben, die im Sprachgebrauch als asozial bezeichnet wurden, doch hatte es bis zur Wende eine Pflicht zur Arbeit gegeben und irgend eine Arbeitsstelle war jedem zugewiesen worden. Jeder war berufstätig gewesen und hatte damit ein geregeltes Leben und sein Auskommen gehabt. Jetzt reichten die Arbeitsplätze nicht einmal für die, die dringend nach Arbeit suchten. Noch immer gehörte der Landkreis zu denen mit der höchsten Arbeitslosenquote im Land. Es gab daher genug Menschen, die sich ihr Leben mit der »Stütze« einrichteten und gar keinen Grund sahen, etwas an ihrer Situation zu ändern. Nur, die Kinder waren daran völlig unschuldig. Das Kinderhaus konnte nicht alle Probleme lösen, aber ein wenig Sonne in das Leben der Kinder bringen, das konnte es. Zum Glück erfuhr die Einrichtung Unterstützung durch die Stadt und auch ein Verein der örtlichen Tageszeitung half mit Spenden weiter.

Berit parkte das Auto und öffnete die Tür. Der Raum war erfüllt von lauten Kinderstimmen, von Durcheinanderrufen, Streiten, Kreischen, aber auch Lachen. An diesem Ferientag war schon am Morgen ein emsiges Treiben im Gang. Mit einem Winken begrüßte sie ihre Kollegin, dann betrat sie das Büro.

Sie stellte die Tasche ab und ließ ihren Blick über den Schreibtisch wandern. Schon wieder ein Antrag, schon wieder ein Fragebogen! Sie schüttelte instinktiv den Kopf. Viel zu viel Zeit ging für die Bürokratie drauf, von den Kosten ganz zu schweigen. Doch sie wusste auch, dass es ein notwendiges Übel war.

Die Kinder waren beschäftigt, also setzte sich Berit gleich an den Schreibtisch und sichtete die eingegangene Post genauer. So schwer es ihr auch fiel, es war wichtig, die Termine für die Anträge einzuhalten, um Geld oder Genehmigungen zu bekommen. Es wäre den Kindern kaum zu vermitteln gewesen, wenn ein Ausflug ins Wasser fallen müsste wegen eines Stück Papiers. Darum musste sie sich auch heute noch durch den Papierkram kämpfen, denn morgen sollte es mit einem Teil der Kinder auf eine richtige Reise gehen.

Am Nachmittag hatte Berit fast alles aufgearbeitet, was in der letzten Woche liegen geblieben war. Sie ging hinüber in den großen Aufenthaltsraum und half den letzten Kindern, die noch da waren beim Aufräumen.

»Frau Schwerzer, ich freue mich schon so auf morgen!«, vernahm sie die Stimme der 13jährigen Emily. Das Mädchen war in ihrem ganzen Leben noch nicht von zuhause fort gewesen. Berit drückte das Kind an sich. Emily hatte ein bisschen Freude redlich verdient. Als Älteste von 4 Geschwistern lastete oft mehr Verantwortung auf ihr, als gut war in dem Alter. Auch ihre beiden jüngeren Schwestern, 10 und 12 Jahre alt, würden morgen mit auf die Reise gehen.

»Na dann geh mal lieber nach Hause und hilf den Kleinen beim Sachen packen. Und seid morgen bitte pünktlich!«, ermahnte Berit das Mädchen.

Auch bei Berit stellte sich nun eine gewisse Vorfreude ein. Es war die erste mehrtägige Reise, die das Kinderhaus durchführte. Ihre Julia hätte womöglich die Nase gerümpft über diese Reise, deren Ziel gerade einmal 20 Kilometer von der Stadt entfernt lag. Doch für diese Kinder, deren Eltern nicht einmal das Geld für die Klassenreise aufbrachten, war es das Ereignis des Jahres.

Auf dem Rückweg nach Hause hielt Berit noch einmal bei ihrer Mutter an. Schließlich musste sie ihr Bescheid sagen, dass sie für drei Tage nicht hier war. Das gute Gefühl, was sie am Sonntag gehabt hatte, war verflogen. Die Mutter saß gedankenverloren auf dem Sofa und sah mit starrem Blick auf ein Bild gegenüber an der Wand, das sie gemeinsam mit ihrem Heinrich zur Goldenen Hochzeit zeigte. Es war erst ein paar Jahre her, doch nun für sie so fern wie die Ewigkeit. Berit setzte sich zu ihrer Mutter und sah sie nachdenklich an. Die Eltern waren wirklich ein Leben lang zusammen gewesen. Schon als Kinder hatten sie sich gekannt, später geheiratet und nahezu jeden Tag ihres Lebens gemeinsam verbracht. Berit verstand, dass es der Mutter jetzt schlecht ging. Doch die Kinder und Enkel konnten sie nur unterstützen, bewältigen musste sie ihre Trauer allein.

Als Berit wieder zuhause angekommen war, rief sie ihre Schwester an und berichtete ihr, wie es der Mutter ging.

»Fährst du bitte morgen und vielleicht auch übermorgen mal bei ihr vorbei?«, bat sie Jana. »Julia wird sie auch besuchen, aber du stehst ihr doch näher.«

»Natürlich mache ich das!«, erwiderte Jana verständnisvoll. »Das ist doch nach der Arbeit gar kein Problem. Und außer dem Hund wartet ja auch niemand auf mich. Also werde ich mich bei Mama zum Abendbrot einladen. Fahr du nur ganz unbesorgt mit den Kindern los!«

Trotz der beruhigenden Worte ihrer Schwester gingen Berit tausend Gedanken durch den Kopf, als sie ihre Reisetasche für den morgigen Tag vorbereitete. Nein, um ihren Mann und Julia musste sie sich nicht sorgen. Die beiden kamen gut alleine klar. Aber die Mutter erschien ihr momentan hilfsbedürftig wie ein kleines Kind. Wenn sich Berit an ihre Kindheit und Jugend erinnerte, dann hatte die Mutter immer alle Geschicke der Familie in den Händen gehabt. Oft hatte sie so etwas wie unsichtbare Fäden geführt, um ihre Lieben zu lenken und zu leiten. Doch nun stellte sich heraus, dass es einen schwachen Punkt an ihr gab, dass die starke Frau ohne ihren geliebten Heinrich kraftlos war.

Berit schob die Gedanken beiseite. Gleich würde Daniel aus dem Geschäft kommen, dann sollte das Essen auf dem Tisch stehen. Also, keine Zeit für Grübeleien.

Zum Glück ließen die Erinnerungen Berit in der Nacht in Ruhe schlafen und so erwachte sie recht ausgeruht am nächsten Morgen. Zusammen mit Daniel war sie aufgestanden und sie hatten sich auch noch einen gemeinsamen Kaffee gegönnt. Doch dann drängte die Zeit.

Berit verstaute ihr Gepäck im Auto und setzte sich neben Daniel auf den Beifahrersitz. Er wollte seine Frau schnell noch vor der Arbeit zum Kinderhaus bringen und dann das Auto wieder mit zurück nehmen. Dann musste der Audi nicht drei Tage lang herrenlos im Neubaugebiet stehen. Es war schon ein sozialer Brennpunkt geworden in den letzten Jahren. Als die Neubauten vor 30 Jahren gebaut wurden, waren sie überaus begehrt. Denn im Vergleich zu den winzigen Bergmannshäusern, in denen es oft noch nicht einmal eine Innentoilette gab, besaßen die Plattenbauten mit Heizung, Warmwasser und Bad den reinsten Luxus. Doch nach und nach waren die besser gestellten Bewohner abgewandert, hatten sich ein Häuschen gebaut oder waren der Arbeit hinterher gezogen, in den Westen Deutschlands. Übrig blieben die sozial Schwachen, Arbeitslose, Rentner und Umsiedler aus Russland.

Und genau aus diesen Schichten kamen auch die Kinder, die ein wenig Geborgenheit und Zuwendung so nötig hatten, wie Essen und Trinken.

Ein Dutzend aufgeregter Kinder stand dann auch schon schnatternd wie ein Entenschwarm auf dem Platz vor dem Haus.

»Hallo Berit, da bist du ja!«, tönte ihr eine Stimme aus einem weißen Kleintransporter entgegen. Es war Thomas, ihr Kollege, der sie und die Kinder begleiten sollte. Berit drückte ihrem Mann noch schnell einen Kuss auf die Wange und war im nächsten Moment von der munteren Truppe umringt.

Inzwischen hatte Thomas den zweiten Kleinbus vor das Haus gefahren. »Sind schon alle da?« Er sah in die Runde und nickte zufrieden. »Es sieht so aus, als wären wir vollzählig. Keiner hat verschlafen.« Thomas lachte. »An Schultagen sieht das meistens nicht so gut aus.« Auch er kannte die Probleme. Thomas war vor fast zwei Jahren als Zivildienstleistender ins Kinderhaus gekommen. Der Dienst war längst vorbei, doch er war der Einrichtung als freiwilliger Helfer erhalten geblieben. Für

diese Fahrt hatte er sogar drei Tage Urlaub geopfert.

»Alles einsteigen!« Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. In jedem Fahrzeug fanden sechs der Kinder einen Platz. »Sind auch alle angeschnallt?« Nach einem einmütigen »Ja!« starteten die beiden Betreuer die Fahrzeuge und es ging los. Zuerst hinunter in die Altstadt, von dort aus folgte der Reiseweg dem Flüsschen, das zwar nicht immer für die Kinder sichtbar war, aber mehrfach von der Straße gekreuzt wurde. Sie durchquerten einen kleinen Vorort und näherten sich schon bald Mansfeld, dem Ort, welcher der Region ihren Namen gegeben hatte. Die Kinder verrenkten sich fast die Hälse, als sie oben auf dem Berg das Schloss sahen. Berit war tief berührt von den staunenden Blicken dieser Kinder, als sie kurz in den Rückspiegel sah.

Kurz darauf bogen die beiden Kleinbusse nach rechts auf eine etwas schmalere Straße ab, auf der sie bald ein Dorf durchquerten. »Frau Schwerzer, hier war ich schon mal!«, rief hinter ihr ein Junge.

 

»Da kommt ein Teich und da war ich mal mit meinem Opa angeln!« Der Junge strahlte übers ganze Gesicht. Zum einen war er stolz, etwas zu wissen, und zum anderen schien er sich gern an den Angelausflug mit seinem Opa zu erinnern.

»Oh, das ist ja prima, Kevin, dann kannst du ja nachher für uns der Wanderführer sein. Dann können wir uns nicht verlaufen«, schlug Berit vor.

»So, jetzt sind wir gleich da.« Der kleine Kindertransport bog nach links in einen Waldweg ab und hielt kurz darauf vor der Jugendherberge an.

»Alles aussteigen, Zug endet hier!«, ertönte die Stimme von Thomas herüber. Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Sie schnappten sich ihre Taschen und sausten auch schon los in Richtung des großen Hauses, welches dort auf der Waldlichtung stand. Doch dann warteten alle ganz brav ab, bis auch Berit und Thomas ihr Gepäck genommen und die Autos abgeschlossen hatten, ehe sie in die Eingangshalle drängten.

Schnell waren die Formalitäten erledigt und alle nahmen ihre Zimmer in Beschlag. Die beiden großen Räume mit je drei Doppelstockbetten und einem Einzelbett waren wie gemacht für die Gruppe. Während sich Emily, ihre beiden Schwestern und noch drei Mädchen ein Zimmer mit Berit teilten, nahmen Kevin und die anderen Jungs das gegenüberliegende Zimmer gemeinsam mit Thomas in Beschlag. Der Blick aus dem Fenster offenbarte eine sehr weitläufige Umgebung inmitten des Waldes mit Fußballplatz, Volleyballfeld, Tischtennisplatten und anderen Spielgeräten. Es war zu verstehen, dass die Kinder nach draußen drängten.

»Recht habt ihr!«, nickte Berit verstehend.

»Schließlich haben wir jetzt genug im Auto gesessen. Also raus mit euch an die frische Luft!« Natürlich wusste Berit, dass die Fahrt nur eine halbe Stunde gedauert hatte, und da hatten sie sich noch Zeit gelassen, aber für einen Teil der Kinder war es wirklich schon eine richtige Reise gewesen.

Eine halbe Stunde später waren auch die beiden Betreuer nach draußen gegangen. Fast alle Kinder tobten auf den großen Spielplatz durch die Gegend. Nur Emily saß mit einem Buch am Waldrand auf einer Bank. Von Zeit zu Zeit sah sie auf und beobachtete ihre Schwestern. Berit setzte sich neben Emily.

»Sehen Sie nur, Frau Schwerzer, wie glücklich die beiden sind.« Emily deutete auf ihre Schwestern und lächelte.

»Und du, bist du auch glücklich?«, wollte Berit von ihr wissen.

»Ja, heute geht es mir gut, weil es Vicky und Lucy auch gut geht. Und meine Mutti kann sich auch mal erholen nach der Arbeit, wenn nur Tobi da ist.« Berit legte den Arm um Emilys schmale Schultern.

»Aber du bist doch deiner Mutti schon so eine große Hilfe. Ich glaube, sie ist sehr stolz auf dich. Also genieße diese Tage ruhig und tobe dich mit den anderen aus, du kannst es auch brauchen.«

Berit erhob sich und ging zu Thomas. Doch als sie das nächste Mal zur Bank sah, lag das Buch dort einsam und verlassen und Emily sauste mit ihren Schwestern gemeinsam dem Volleyball hinterher.

Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen.

»So, lasst uns mal die Gegend erkunden«, schlug Thomas nach dem Mittagessen vor.

»Ja, und vielleicht finden wir den Teich, wo Kevin mit seinem Opa angeln war«, fügte Berit hinzu.

»Na, in welche Richtung müssten wir jetzt laufen?«

»Dort, den Berg runter und dann am Bach lang links!« Kevin schien wirklich einen guten Orientierungssinn zu haben. Und so machten sich die Kinder mit Thomas und Berit auf den Weg. Es war ein malerischer Wanderweg am Bach entlang. Die Kinder freuten sich an den bunten Blumen, den Vögeln in den Bäumen, den Schmetterlingen in der Luft und sogar eine kleine Eidechse kreuzte ihren Weg. Schon bald waren sie am Teich angekommen. Und wieder erwies sich Kevin als wahrer Wanderführer.

»Wenn wir dort vorne weiter gehen, kommen wir in das Dorf, wo wir vorhin durchgefahren sind.«

»Na gut, dann also dort vorne weiter«, akzeptierte Berit die Route. Erwartungsvoll stürmten die Kinder auf die Häuser zu.

»Mist, hier gibt es nicht mal mehr einen Laden!« Enttäuscht hatte einer der Jungs das Schild entdeckt, das noch immer davon kündete, dass es vor

Jahren hier einen KONSUM geben hatte. Doch der Eingang war mit Brettern vernagelt. Er machte ein Gesicht, als wolle er gleich verhungern.

»Also Leute, ich glaube, wir halten es alle gerade noch bis zur Jugendherberge aus«, nahm Thomas dem aufkommenden Murren den Wind aus den Segeln. »Dort gibt es dann bald Abendbrot, na, sind das Aussichten?«

Den Weg zurück nahmen sie über die wenig befahrene schmale Landstraße und kamen pünktlich zum Abendessen in der Herberge an.

»Dürfen wir dann noch mal nach draußen?« Thomas staunte über die Energie, welche die Kinder entwickelten. Er nickte. »Ich denke schon, wenn ihr noch nicht schachmatt seid.«

Berit trat hinzu. »Ihr könnt noch mal raus. Ihr könnt euch auch im Aufenthaltsraum vor den Fernseher setzten. Aber um 10 ist Nachtruhe. Dann liegen alle sauber und mit geputzten Zähnen in den Betten! Die Duschen sind auf dem Gang, rechts die Jungs, links die Mädchen.«

Sie sah zu Thomas. »Wenn der Rest so erfolgreich verläuft wie der erste Tag heute, dann können wir zufrieden sein.«

Im Zimmer nahm sie ihr Handy aus der Tasche. Doch das signalisierte ihr nur eins: Kein Netz verfügbar. Dann sollte es wohl so sein, dass auch sie abschaltete.

Leises Kichern drang an Berits Ohr, als sie am Morgen die Augen aufschlug.

»Jetzt ist sie wach!« Die kleine Lucy hatte Berit wohl schon eine Weile beobachtet.

»Oh, wie spät ist es denn?« Berit streckte sich wohlig unter ihrer Decke. Sie hatte geschlafen wie ein Stein und fühlte sich erholt wie schon lange nicht mehr.

»Es ist gleich halb 8! Können wir aufstehen? Die Jungs sind auch schon draußen.«

Berit amüsierte sich über die Ungeduld der Kinder. »Na, dann los! Waschen, anziehen, frühstücken!«

Es war ein schönes Bild, als alle wenig später gemeinsam am Frühstückstisch saßen. Auch Berit aß mit dem gleichen Appetit, wie ihn die Kinder an den Tag legten. Leider war so ein Frühstück für viele nicht selbstverständlich und auch sie musste sich selbstkritisch eingestehen, dass sie viel zu oft morgens ohne richtiges Frühstück aus dem Haus ging. Dafür zeigte sich das Wetter heute nicht von der sonnigen Seite. »Och, das regnet ja«, ließ sich die enttäuschte Stimme von Kevin vernehmen.

»Nun seid mal nicht so empfindlich!«, redete Thomas den Kindern gut zu. »Ihr holt alle eure Jacken und zieht feste Schuhe an für den Fall, dass es noch mehr regnet, wenn wir aussteigen wollen.

Aber ich kann euch versprechen, in den Autos regnet es nicht!«

Ein Jubel ertönte und die vielstimmige Frage: »Wo fahren wir denn hin?«

»Lasst euch überraschen!« Berit kannte von ihren beiden Kindern die mürrischen Gesichter, wenn es im Urlaub an einem Regentag hieß: Wir gehen ins Museum. Also wollte sie nicht mit der Tür ins Haus fallen und hoffte auf die Spannung.

Wenig später setzten sich die beiden Kleinbusse in Bewegung. Auf der schmalen Landstraße ging es zurück bis zur Bundesstraße. Von dort bogen sie nach rechts ab. Wieder war es Kevin, der schon bald wusste, in welche Richtung sie fuhren. Es schien vor allem sein Opa zu sein, dem er sein Wissen verdankte. Er begann mit den anderen Kindern ein kleines Ratespiel.

»Da war früher ein großer Schacht. Da werden Fahrräder gebaut.«

Aber er erhielt keine Antwort. Erst als Kevin verkündete: »Das ist doch unsere Kreisstadt!«, da wussten alle bescheid. »Sangerhausen, wir fahren nach Sangerhausen!«

Bei der kurzweiligen Fahrt waren sie schnell angekommen. Berit und Thomas fanden einen Parkplatz in der Nähe vom Bahnhof und ließen die Kinder aussteigen. Der Regen hatte nachgelassen, er störte aber sowieso längst keinen mehr.

»Dort drüben ist das Spengler-Museum.« Berit deutete über den Platz zu einem großen Gebäude. Sie beobachtete die Kinder, doch bei keinem sah sie Unwillen. Im Gegenteil, es fielen Sätze wie: »Gehen wir da jetzt hin?« oder »Das möchte ich mir mal ansehen.« bis hin zu »Cool!« Alle waren voller Vorfreude und konnte kaum erwarten, dass Berit endlich die Eintrittskarten gekauft hatte.

Mit staunenden Augen sahen sich die Kinder die Ausstellung an, einerseits war es ein Heimatmuseum, andererseits ein Naturkundemuseum. Wunderbar gestaltete naturnahe Modelle erklärten den Kindern die Flora und Fauna ihrer Heimat. Auch die Entwicklung der Besiedelung der Gegend im Mittelalter und die Stadtgeschichte war hier dargestellt, und das alles kein bisschen langweilig. Ständig gab es etwas Neues zu entdecken.

Doch das Größte in wahrsten Sinne des Wortes war das echte, lebensgroße Skelett eines Mammuts, welches vor der Eiszeit einmal hier ganz in der Nähe gelebt hatte und vor fast 80 Jahren von dem Naturforscher Gustav Spengler in einer nahen Kiesgrube gefunden und ausgegraben worden war. Nun stand es hier und die Kinder kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

Berit und Thomas hatten sich an der Wand auf einer Bank nieder gelassen und ließen die Kinder gewähren. Es war diese ungebremste, natürliche Neugier, die manchem Kind schon längst abhanden gekommen war, weil es jedes Jahr eine andere Flugreise unternehmen konnte, die bei diesen Kindern noch in ihrer ursprünglichen Form vorhanden war und die ihnen Freude machte. Ja, es hatte sich gelohnt, diese Reise zu organisieren, gelohnt für diese Kinder!

Und der schöne Tag war noch nicht vorbei. Vom Mittagstisch in der Jugendherberge hatten sie sich abgemeldet. Als die Gruppe nach zwei Stunden wieder vor dem Museum stand, wagte sich die Sonne sogar durch die Wolken. Aus den Autos wurden zwei Picknickkörbe geholt, die ihnen die freundlichen Herbergseltern bereit gestellt hatten. Mit gesundem Hunger ließen sich alle die eingepackten Brote, das Obst und Fruchtsäfte schmecken.

»Dann auf zur nächsten Etappe!« Thomas und Berit hatten die Autos wieder verschlossen. »Jetzt machen wir einen Spaziergang durch die Stadt, bis zum Rosarium

»Oh ja«, ließ sich Kevin vernehmen, »da können wir ja mal versuchen, die Kirche zu finden, die auf dem Stadtmodell war.«

»Na, du kleiner Pfiffikus wirst sie schon finden und bestimmt noch viel mehr!«, war sich Berit sicher.

Im Rosarium waren es vor allem die Mädchen, die wie große Schmetterlinge von einer Blüte zur nächsten hüpften und immer war die nächste noch schöner als die vorige.

Der Rosengarten, den es schon über 100 Jahre in der Stadt gab, hatte im Laufe der Jahre einige Veränderungen erfahren. Inzwischen hieß er sogar Europa-Rosarium. Es hatte sich große Verdienste um die Erhaltung und Züchtung der Königin der Blumen erworben. Doch das war den Kindern egal. Die genossen nur den herrlichen Nachmittag und tobten schon längst auf dem Spielplatz. Nur Emily saß auf einer Bank und beobachtete das Treiben so nachdenklich wie am vorigen Tag.

»Na, siehst du deinen Schwestern beim Spielen zu?« Berit hatte sich neben sie gesetzt.

»Ja, das auch.«, entgegnete Emily. »Aber ich denke gerade an meine Mutti. Uns geht es hier so super. Hoffentlich geht es ihr auch gut.«

Berit nahm Emilys Hand. »Bestimmt geht es ihr gut. Du musst dir keine Sorgen machen.«

Ein bisschen hatte Berit diese Worte auch zu sich selbst gesagt. Hatte sie auch gerade nicht an ihre Mutter gedacht, mit den Worten des Mädchens kam auch bei ihr die Nachdenklichkeit zurück. Sie sah auf ihr Handy. Empfang hatte sie. Aber niemand hatte sie erreichen wollen. Dann musste doch alles in Ordnung sein.

An diesem Abend wollten die Kinder nach dem Abendessen nicht noch einmal nach draußen gehen. Sie setzten sich im Aufenthaltsraum gemeinsam hin. Einige spielten Karten, der Fernseher lief und zwischendurch wurde immer wieder über den vergangenen Tag geredet, wie schön es war, was sie alles gesehen hatten. Todmüde fielen sie alle später in die Betten und es bedurfte keiner Ermahnung, dass um 10 Nachtruhe sei. Da schlief die ganze Bande längst.

Am nächsten Morgen erwachte Berit, während noch vollkommene Ruhe im Zimmer herrschte. Sie lag in ihrem Bett und lauschte in die Stille. Es war schade, dass die Fahrt heute schon vorüber war. Diese Reise war für alle Beteiligten ein Gewinn, das spürte sie an sich selbst. Und auch Thomas hatte es garantiert nicht bereut, dafür Urlaub geopfert zu haben. Leise stand sie auf und ging zum Duschraum. Als sie zurück kam, blinzelten auch die Mädchen ins Licht. Sie sah auf die Uhr.

»Ich glaube, das Frühstück ruft!«, verkündete sie betont munter in die Runde. Doch sie sah es den Kindern an, der Gedanke an das Ende der Fahrt und die baldige Heimreise machte sie traurig.

 

»Nun guckt mal nicht ganz so trübe«, versuchte dann auch Thomas, die Stimmung zu verbessern,

»wir haben ja noch eine kleine Überraschung für euch!« Erwartungsfrohe Gesichter sahen ihn an.

»Ihr habt doch auf der Fahrt hierher oben auf dem Berg das Schloss gesehen?« Die Kinder nickten.

»Und dort werden wir noch einen Halt einlegen. Es reicht, wenn wir am Nachmittag wieder zurück in der Stadt sind.«

»Aber zuerst müssen wir die Sachen packen und die Betten abziehen und Ordnung in den Zimmern schaffen. Und passt gut auf, dass ihr nichts vergesst!«, ermahnte Berit die Kinder.

Es war keine weite Fahrt, bis das Schloss Mansfeld erreicht war. Hoch oben über der kleinen, weit über 1000-jährigen Stadt thronte das Schloss und die Reste der alten Burg. Berit und Thomas parkten die Autos an der Straße und gemeinsam liefen sie den kurzen Fußweg zum Schloss. Dort wurden sie bereits von einem jungen Mann vom Förderverein erwartete. Er begrüßte die Kinder und führte sie danach über das Gelände. Dabei erzählte er ihnen von der wechselvollen Geschichte der alten Burg und Schlossanlage. Mit staunenden Augen lauschten alle der so lebendig zu erlebenden Geschichte. Und so mancher Junge stellte sich wohl ein Leben als Ritter vor.

»Kommt im Sommer noch mal her mit euren Eltern, wenn hier Ritterfest ist, dann sehen wir uns wieder!«, verabschiedete er sich von den Kindern.

Doch Berit ahnte, dass sich dieser Wunsch wohl für kaum eins der Kinder erfüllen würde.

Am frühen Nachmittag trafen Berit, Thomas und die Kinder wieder am Kinderhaus ein. Mit lautem

»Hallo!« wurden sie von den anderen begrüßt. Es bedurfte keiner Aufforderung, dass sie erzählen sollten, wie es war und was sie erlebt hatten, in munterem Durcheinander plapperten die Heimkehrer wild drauf los. Jetzt kamen sie sich vor wie kleine Helden. Und irgendwie waren sie das ja auch, kleine Helden des Alltags.

Berit nahm nun zum ersten Mal seit drei Tagen wieder ihr Handy zur Hand. »Ich bin wieder da«, verkündete sie, als sich Daniel gemeldet hatte.

»Kannst du mich abholen?«

»Oh, das passt im Moment gar nicht.« Daniel bedauerte, dass er gerade wieder einmal allein im Laden stand. »Aber Jana müsste bei deiner Mutti sein, ruf sie doch mal an.«

Berit sah betrübt auf das Display. Daniel hatte schon wieder aufgelegt, ehe sie noch etwas erwidern konnte. Sie holte tief Luft. Na dann eben nicht!, sagte sie zu sich selbst und machte sich mit der Tasche auf den Weg. Da es ständig bergab ging, war der Fußweg erträglich.

Schon von der Hauptstraße aus sah sie Janas Auto vor dem Haus stehen. Irgendetwas stimmte nicht, dieses Gefühl hatte sie schon während des Telefo-

nats mit Daniel nicht losgelassen. Eigentlich hätte Jana doch noch bei der Arbeit sein müssen. Voller Unruhe drückte Berit auf den Klingelknopf.

»Oh Berit, da bist du ja wieder!« Jana hatte ihr die Tür geöffnet. »Und gut erholt siehst du aus. War es schön?« Eine Antwort wartete sie aber gar nicht ab, sondern schob Berit gleich ins Wohnzimmer, wo die Mutter auf dem Sofa lag.

»Mama!« Erschrocken beugte sich Berit zu ihr herunter.

»Was ist mit ihr?« Sie sah fragend zu ihrer Schwester.

»Der Kreislauf hat schlapp gemacht. Zum Glück war Julia hier und hat mich angerufen. Die Ärztin hat ihr eine Spritze gegeben, es sollte bald wieder gehen. Aber die Ursache sitzt tiefer, das wissen wir doch alle.«

»Wenn nur schon die Beerdigung vorüber wäre!« Berit stöhnte innerlich auf. »Vielleicht kommt sie danach zur Ruhe.«

»Lassen wir sie schlafen.« Jana zog Berit in die Küche. »Wegen der Beerdigung wollte ich sowieso noch mit dir sprechen. Daniel meinte, eine Gaststätte wäre gut. Da habe ich einen Raum im Stadtcafé bestellt, ich hoffe, das war in deinem Sinne.« Dankbar sah Berit ihre Schwester an. »Aber natürlich war es das; danke, dass du es erledigt hast!«

»Komm, solange die Mama noch schläft, fahre ich dich gleich noch heim. Dann musst du nicht mit der Tasche den Berg hoch laufen, das zieht sich ja immer so. Und mit dem Auto bin ich spätestens in 10 Minuten wieder hier.« Jana sah noch einmal um die Ecke zu ihrer schlafenden Mutter, dann bugsierte sie ihre Schwester samt Tasche nach draußen ins Auto.

Berit war froh, dass Jana sie mit dem Auto heim fuhr. Sie fühlte sich schlapp, das gute Gefühl der Erholung hatte leider nicht angehalten. Sie machte sich Sorgen. Was, wenn es der Mutter nicht besser ging? Wie würde es weiter gehen?

Zuhause angekommen stellte Berit nur die Tasche in der Diele ab und sank erschöpft auf das Sofa. Da fiel ihr Blick auf eine CD-Hülle auf dem Tisch. Ein Klebezettel verkündete ihr die Botschaft: »Für Sie, Frau Schwerzer! Einlegen und entspannen! Sebastian« Sie lächelte. Einen Moment hielt sie die unscheinbare Silberscheibe in der Hand, dann ging sie zur Stereo-Anlage und schob sie hinein. Warme, dunkle Töne breiteten sich sofort im Zimmer aus. Berit fühlte sich umfangen von einer wohltuenden Entspannung, auch wenn sie merkte, wie ihr wieder die Tränen über die Wangen liefen. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Musik entführen.

So merkte Berit gar nicht, dass Julia zur Tür herein gekommen war. Das Mädchen hatte seine Mutter einige Zeit still beobachtet, aber nun machte sie sich bemerkbar.

»Ich sehe, Basti hat deinen Geschmack getroffen!« Sie lächelte. »Er hat schon aufgepasst, was dir letztens gefallen hat und die entsprechenden Titel zusammen gestellt. Er hat ja so ein gutes Einfühlungsvermögen! Und stell dir vor, sogar Oma ist gleich mit ihm zurecht gekommen. Aber das ist ja auch kein Wunder, im Pflegeheim stehen die ganzen alten Leutchen auch voll auf ihn!«

»Na du, nicht, dass er mich jetzt für eine alte Frau hält, weil ich auch schon Oma bin!« Julia und Berit lachten. Und das Lachen tat gut. Nun hatte sie ihr inneres Gleichgewicht wieder gefunden, allen Sorgen und Problemen zum Trotz.

Berit hatte vermutet, zuhause einen leeren Kühlschrank, dafür aber eine Menge Hausarbeit vorzufinden. Doch weit gefehlt.

»Hey, wer war denn hier schon einkaufen?«, rief sie erfreut aus.

Julia zwinkerte ihr spitzbübisch zu. »Papa war es ein bisschen, er hat den Zettel geschrieben. Und ich war es ein bisschen, ich habe die Liste abgearbeitet. Und weißt du was, Mama?« Sie machte eine bedächtige Pause. »Dann durfte doch Basti das Auto

nehmen! Und so haben wir alle beim Einkaufen geholfen.« Dem Mädchen war die Freude über die gelungene Überraschung anzusehen.

Dankbar sah Berit ihre Tochter an. Da war etwas, was ihr erst jetzt auffiel. Julia wirkte erwachsener als noch vor ein paar Wochen. Sie war nicht mehr der zickige Teenie in der Pubertät, sondern hatte sich zur jungen Frau gemausert. Sie hatte während Berits Abwesenheit Verantwortung übernommen, hatte nach der Oma gesehen und Berit einiges an Hausarbeit abgenommen. Draußen auf der Terrasse flatterte eine Ladung Wäsche im Wind.

Als wenig später Daniel aus dem Geschäft kam, gab es aber nur noch ein Thema, der Gesundheitszustand von Berits Mutter und die bevorstehende Beerdigung.

So, wie der Freitag endete, begann das Wochenende. Zwar hatte Jana mal wieder die Nacht bei ihrer Mutter verbracht, doch auch Berit machte sich sofort nach dem Frühstück auf den Weg. Erleichtert sah sie die Mutter gemeinsam mit Jana in der Küche sitzen.

»Na ihr beiden, habt ihr einen Kochclub gegründet?« Sie hoffte, dass der Satz so munter geklungen hatte, wie er sollte. Nur keinen neuen Trübsinn aufkommen lassen!

»Du kannst dich gerne mit betätigen«, erwiderte ihre Schwester. »Wir schnippeln gerade das Gemüse für die Suppe.« Auf dem Herd köchelte schon ein großer Topf mit Hühnerkeulen vor sich hin. Das würde eine gute Brühe geben.

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