Am Äquator

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ERHÖHTE TEMPERATUR

Das Bild kannte er seit seiner Studienzeit. Es war am Ende des Ersten Weltkriegs als Leihgabe ins Kunsthaus gekommen und wurde von seinem Semester mit Verachtung gestraft, die Sechzigerjahre in Z. hatten nichts übrig für das Erbe der Schweizer Kunst: Was kann von Erben, die Rütschi heissen, schon kommen. Obschon er nicht zu den Scharfmachern zählte, ging auch ihn dieses Gemälde nichts an, Hodler war eine vaterländische Pflichtübung, die man im kunsthistorischen Seminar geflissentlich überging. Nur die Braven, die Angepassten beeilten sich, die Figur und ihre schattenhafte Entourage zu skizzieren, als Gedächtnisstütze sollte das dienen, da es noch keine Digitalfotografie gab, die klick machte und das Sujet erhaschte wie im Schmetterlingsnetz. Das Bild war zu grandios komponiert: im Vordergrund der Mädchenakt, die Lichtgestalt, umgeben von den rückwärts rückenden Vermummten. Aber das Wesen, das sich als Die Wahrheit ausgab, war zu ätherisch, um einen Erstsemestrigen mit Flaum am Kinn zu fesseln, denn der war mehr an handfesten Titten interessiert.

Er erinnert sich: – Ein Höhepunkt des Symbolismus! – Der Oberassistent hüstelte im Abglanz des Gemäldes, das er im Massstab 1 : 2 vergeblich zu projizieren versuchte, es fuhr ihm hörbar in den Rachen. Damit machte er sich vollends zu jener Witzfigur, die lustlose Studenten brauchen, um sich über die Runden zu bringen. Lustlose Studenten sind grausam und wissen es nicht. Ihre Grausamkeit ist ja nichts anderes als eine Spielart unter geschlechtsreifen Rangen, und die hätte man besser im Urwald ausgesetzt, um das Menschenbild zu studieren. Stattdessen hatte man im Kunsthaus anzutreten, dem Hort des Edlen, Guten und so weiter.

Dieser da, der Lotterpuppe, wie sie der Studienfreund nannte, der bald darauf zum Bankfach überlief, stachen die Rippen aus dem Brustkorb, und auf dem Schambein, das nur knapp mit Haut überzogen war, befand sich kein einziges Härchen. Geschlechts- und geheimnislos war die und alles andere als eine erotische Attraktion für einen Jüngling, der abends mit der Lambretta ins Kino knattert und sich ein Busenwunder auf den Rücksitz wünscht. Nouvelle Vague mit der BB war angesagt, von der scharfe Fotos kursierten, die man in der Innenseite der Mappe kleben hatte, sozusagen als Notproviant.


Nun ist er intim mit ihr, nun liegt er über ihr, gewissermassen in der Missionarsstellung, um sie zu restaurieren, Hodlers Wahrheit. Eine von oben delegierte Zumutung. Er fährt sich durchs Haar, knappe sechs Zentimeter Abstand verlaufen zwischen seinem Hosenbund und ihrem Genital, das er nicht Muschi nennen mag. Ein deutscher Mitstudent hatte das Wort seinerzeit eingeführt, Muschis waren Freundinnen, die fortwährend an einem herumzupften und quengelten, bis sie mit ihrem Goldjungen von der gleichnamigen Küste in Paris gewesen waren. Dann bettelten sie, bis er sie nach Rom mitnahm, worauf London, Prag und Amsterdam an die Reihe kamen. Heute gibt es die Muschitour wahrscheinlich nicht mehr, sie würde zu weit führen müssen, bestimmt bis nach Dubai, Shanghai, Hongkong und Tokio, das aber bald weg vom Pflichtprogramm wäre; nicht etwa wegen Fukushima und der Strahlungsgefahr, oh nein, Atomkraftwerke sind kein Thema für Muschis, sondern der illegale Walfang, der sie nicht ergötzt, denn Muschis haben ein Herz für aussterbende Tiere. Er selber blieb einigermassen sauber, ausgenommen, nun ja. Sein Kumpel ist ihm Lehrbeispiel genug gewesen, der hat jene Vollbusige, Mütterliche, die ihn entjungferte, dann heiraten müssen. Sie war elf Jahre älter als der werdende Vater, und die gemeinsame Zukunft kann man sich denken.

Die da ist eine andere, er lernt sie kennen, jeden Tag neu, seit Wochen und Tagen, versucht er sie zu entziffern. Ihre Vulva hat der Maler in zwei dürftigen Strichen angedeutet, und das Beckenskelett sorgfältig gerundet, der Zugang wäre also ideal für einen zartbesaiteten Bräutigam. Von einem Triumphbogen zwischen den Beinen kann allerdings kaum die Rede sein, Gott, was hat er bloss für Assoziationen, was für ein schäbiges Altherrenlatein. Der Künstler Hodler ist zwar kein Kostverächter gewesen, aber bestimmt kein Pädophiler. Das Modell kann höchstens siebzehn Jahre alt sein, doch in seiner Darstellung kommt sie wie aus alter Zeit herüber, eine Lolita, die früh altern wird.

Er ächzt. Nicht gerade bequem, diese Lage, aber anders als bäuchlings ist Hodlers Wahrheit nicht beizukommen, er liegt auf einer Filzmatte und hantiert von oben, von der verschiebbaren Brücke her, die auf den grossen Holzwagen montiert worden ist. So liegt die Leinwand unter ihm, und er arbeitet sich Millimeter um Millimeter zum Bildzentrum vor, verkörpert von diesem seltsamen Girl.

Je näher er ihr kommt, desto mehr schwindet sie, löst sich in Glanzflecken und Schadstellen auf. Abschnittweise, als Ganzheit nicht überblickbar, wird die Arbeit zu einem rein technischen Vorgang, der Bildinhalt und Bedeutung aufsaugt. Bis gestern haben ihn die Figur und ihre tatsächlich bedrohliche Situation auch nicht wirklich interessiert. Aber heute, an diesem Tag, weiss der Teufel.

Es ist, als spüre er eine Regung von ihr, wenn er zunächst mit dem Kunsthaarpinsel, der ist verlässlicher als der Marderpinsel, zum Venushügel vordringt, um dort mit dem befeuchteten Wattebäuschchen die Lasur aus Schmutz abzutupfen, der Reinigungsvorgang kommt ihm plötzlich rituell vor, als appliziere er eine sexuelle Initiation, wie frevelhaft, wo doch zwinglianische Rituale immer über der Gürtellinie stattfinden, er darf also bloss ein wenig um die Leibesöffnung herum tamponieren, die Zeremonien des Züribergs, wo er aufwuchs, sind eine religiöse Trockenübung. Er ist ihr Kustos, Hüter ihrer Reinheit, ach was, das klingt fast schon katholisch, also zu theatralisch. Die Situation verhält sich doch so, dass ihr nichts geschehen darf, nicht das Geringste darf ihr geschehen. Zu Hodlers Zeiten, da ein Modell dem Künstler schutzlos ausgeliefert war, ist ihr wahrscheinlich schon zu viel passiert.

Die Anstrengung knackt in den Knochen, wenn er sich nach eineinhalb Stunde erhebt, um sich von seiner fragwürdigen Position kurzfristig zu erholen. Ein Endfünfziger, der sich über eine Minderjährige hermacht. Kompromittierend ist das, weil es sich um eine gemalte Minderjährige handelt. Lebendig sind sie ja keineswegs wehrlos, im Gegenteil, die kämpfen jetzt mit harten Bandagen, da bist du als Mann vor keinem Schlagring, vor keiner Fingerkralle im Gothic Style sicher.

Er schiebt nun das Holzgestell, das als Brücke dient, so zurecht, dass er an der Beinpartie arbeiten kann, was für prächtige Waden sie hat. Ihre Wölbung hat der Maler mit dem Pinsel liniert, dann rötlich schraffiert, wieder laviert, damit die typisch Hodler’sche Plastizität entsteht. Hodlersche Beine sind immer gewappnet, straff und energisch. Während der Meister die Füsse und manches am Torso im Ungefähren belässt. Was dem Restaurator besser gefällt als das martialische Pathos, das Hodler später entwickelt, sodass in jeder muskulösen Wade eine kommende Schlacht steckt, auch die Frauenwade ist dann ein Marignano am Vortag, wenn der Sieg noch gewiss ist. Das bleiche Mädchen erhebt die Hände, für heute genug, scheint es zu sagen, für ihre gute Durchblutung wird er morgen sorgen.


Eigentlich braucht der Unterleib keine Retusche, beschliesst er am nächsten Tag. Seine Standfestigkeit erträgt das wankende Gelände, ein Hochmoor, aus dem sich der mit brackigem Grün bedeckte Felsen abzeichnet, da sind ein paar schüchterne Blümchen, sie verheissen keinen Frühling.

Der Beauftragte des Fachkollegiums nennt das berühmte Bild aus dem Jahre 1902, von welchem Hodler zwei Fassungen herstellte, die Apotheose vor dem Untergang. Er selber hält den Vorgesetzten für einen Schwärmer, dabei begriffsversessen, als ob man diesem Maler mit Theorie beikommen könnte. Das ist ein Naturbursche gewesen, ein Pinselberserker, der Augen zu sehen hatte und Hände zu formen.

Der Restaurator sieht hier ein Mädchen, das Hodler auf die Füsse stellt, nur im Stand kann es sich wehren, und der Meister stellt diese Wahrheit nicht auf die Frühlingswiese, wie gesagt, sondern auf eine diffus lavierte Leerstelle. Das ist eine Information.

Der Restaurator legt die Handfläche über das linke Auge und schickt das rechte wie einen fotografischen Sucher über die Leinwand, in Slow Motion schwindet jede theoretische Überhöhung, so kommt, dass der Symbolismus, der diese Epoche (der Secession, an der Hodler teilnimmt) verbrämte, hier nichts mehr zu suchen hat. Hier tut sich eine Brache auf, sie gähnt ihn an, sie irritiert, da ausgerechnet im Umfeld des Mädchens, warum. Enthält sie vielleicht den archimedischen Punkt, an dem der späte Hodler entspringt, über das Nichts springt, den Abgrund, der ihm der Alltag zuweilen sein mag, hinauf zu den Alpen und ihrer kantigen, hochgradigen Präsenz. Ihre Majestät, die Hodler’schen Alpen, da gibts dann nix mehr zu deuteln, da sind dann alle vereint auf dem Gipfel der interpretatorischen Eindeutigkeit.

Die Wahrnehmung steckt im Auge, nicht im Hirn, nur bring das mal einem Experten bei. Die Wahrnehmung des Restaurators hat kein Urteil, je länger er an einem Gemälde arbeitet, umso weniger. Für den Restaurator hat ein Meisterwerk sakrosankt zu sein. Der sieht eine Fläche voll Können vor sich, ein Können, das auch ein Wissen ist und furios über die Fläche fegt, da und dort von Diagonalen gebrochen, welche mit Rötel liniert sind; sieht aus wie Ölkreide, ist aber Hodlers virtuoser Pinselstrich, der wechselt zu Magenta, schlägt weiter rechts ein als violetter Blitz in die Gewandung der schwarzen Schattengestalten. Als wollte er die weghaben, bestimmt wollte er ihre Absichten durchkreuzen, damit sie dem Mädchen nichts antun. Damit sie sich nicht plötzlich wenden, um ihr das Grinsen des Totentanzes einzupeitschen.

 

Der Restaurator bemerkt, dass er auf der Holzbrücke überm Sinnieren in die Knie gegangen ist. Er seufzt, ist ja nicht gerade die für ihn typische Position. Weiter, er muss weitermachen. Eigentlich würde er das ganze Bild so belassen. Der Schmutz, der sich auf dem Bild niederliess, hat wie ein schützender Firnis gewirkt. Hat Schatten gebildet auf der gelblichen Hauttönung des Mädchenaktes, der ihm jetzt kräftiger erscheint als früher. Er hielt sie für magersüchtig, damals, aus Distanz. Anorektisch ist die, hat er gemurmelt, als sie wie auf dem Leichenwagen ankam. Als das monumentale Gemälde, geschoben von vier Spediteuren, dirigiert vom verantwortlichen Museumskurator, in der Werkstatt anrollte und für ihn vertäut wurde. Festumzug für eine Nackte und vier bis fünf Racheengel, hat er bei sich gedacht, weil er das Bild nicht mochte, es erinnerte ihn zu sehr an die Uni und alle verpatzten Jahre, die folgten, das ist ihm nicht geheuer, doch ja, wer weiss, vielleicht ist die Arbeit an der Jugend eine Verjüngungskur? – Die hat Power, die kann sich wehren –, rief die Assistentin begeistert.


Er legt den Pinsel nieder und rappelt sich auf. Erst halb zwölf Uhr. Was ist bloss mit ihm los. Er streckt sich und klettert vom Holzwagen hinab. – Ich bin dann mal weg–, sagt er etwas zu laut, zu burschikos. Und die beiden Frauen, die an den Staffeleien zugange sind, die Assistentin und die Praktikantin, schauen verwundert auf. – Ist es schon Mittagszeit? – Er antwortet nicht, er macht sich davon. Diese Unruhe in ihm. Er trollt sich in den Park, der dem Kunsthaus gegenüberliegt, er geht den Kiesweg hinauf und hinab. Das Gelände ist jetzt schon voller Baubaracken, da bald die Kunsthauserweiterung beginnt. Ob der Baulärm bis zu ihnen, an die Rückseite des Altbaus dringt? Es ist ihm, als ob seine Sinne unter einem Brennglas gleissen, als ob darin tausend Sonnen bersten und gegen ihn ausholen. Dabei liegt der Park im Schatten. Er setzt sich auf eine mit Kisten vollgestapelte Bank, sie lassen eben noch ein Eck frei für ihn.

Wahrscheinlich rührt der Schwächeanfall von seiner Hast am Morgen, da er sich nie richtig zum Frühstück hinsetzt. Er nimmt morgens einen Cappuccino an der Cafeteria, dazu eine Brioche, die schmeckt, als sei das Gebäck vorgestern in Zellophan von einer Autobahnraststätte importiert worden. Egal, es geht lediglich darum, den Blutzuckerspiegel zu stabilisieren. Zurück in die Werkstatt, in das gedämpfte Licht, dann ein Blick auf die Staffeleien im Hintergrund, die Kleinmeister des achtzehnten Jahrhunderts sind stets problemlos gewesen, das Brot vieler Jahre, die er hinter sich hat. Er steigt erneut auf die Holzbrücke, prüft die unter ihm lagernde, vom Holzrahmen gelöste Unergründlichkeit. Mehr Abstand zur Figur hat er gewollt, sie neu sehen, was also sieht er jetzt? Eine Fremde ist eingezogen auf dem einst monumentalen Gemälde, das sich nun wie Marschland mit Untiefen ausbreitet. Erst hat er eine Theaterkulisse vor sich gesehen und diese Sicht wieder verworfen.

Hodler hat die Leinwand nicht grundiert. Ein Vollblutmaler schert sich wenig um die technischen Aspekte, ausserdem hat man zu seiner Zeit noch wenig von der Zukunft von Öl auf Leinwand gewusst. Dass sie brüchig wird und krakeliert, sogar verpudern kann, heikle Partien, die er mit hauchdünnem Japanpapier ausbessern wird. Dass die Leinwand sich zu Schüsseln aufwirft, die man mit Störleim bearbeiten muss, mit einer hauchdünnen Folie anpressen, um sie flachzulegen, Teufel auch, die Anzüglichkeit ist nicht mehr wegzukriegen, ist das die Rache des Bildes an seinem ehemaligen Desinteresse? Die Burschenschaft, in der er war, hat vor nichts zurückgeschreckt, was ausserhalb der Vorlesungen Programm war, das waren quickmuntere Animierdamen, keine dürren Frauenakte. Er war auf der Hut gewesen, zu feige, denkt er jetzt. Er war der Statist in der Bande. Sein Leben lang ist er Statist.

Er tunkt den Pinsel in den Klebstoff, der aus der Schwimmblase des Störs gewonnen wird. Hodler hat alles aus der Natur geschöpft, die Natur heilige die menschliche Figur. Hat er in seinen Vorträgen vertreten, er war ja in späten Jahren noch Akademielehrer gewesen, was man sich schwer vorstellen kann, dieser Vollblutkünstler hinter dem Katheder. Ja, die Kunst fordert ihren Tribut.


Was will das Bild von ihm? Wer oder was ist die Wahrheit, an die Hodler gedacht hat? Der Stör ist vermutlich das letzte Opfer jener Erhabenheit eines Meisters, die er als Restaurator sicherzustellen hat. Mitte des letzten Jahrhunderts verschwindet sie, und mit ihr die Aura der Kunst. Dann tritt der Starkünstler auf die Bühne und ersetzt die Erhabenheit durch Selbstdarstellung, durch schrankenlosen Exhibitionismus. Ein Geschwurbel, Mann, dieser Jeff Koons, sagt der ahnungslose Neue, er ist Kurator für die Altäre des Mittelalters, was ihm wohl kaum in die Wiege gelegt worden ist, so wie der daherkommt, wie er redet. Woher das alles stammt, möchte er wissen. Auf Wikipedia betrachten sie zusammen Duchamps Pissoir und den Akt, eine Treppe herabsteigend. Dann zeigt er dem Novizen einen Youtube-Film über die ehemalige Wahrhol-Factory. Das Fazit ist kurz. – Mit Marcel und Andy fängt die Homestory der Kunstgeschichte an –, kommentiert der Neuling. Der Restaurator sagt nichts.

Hodler hat alles andere als eine Homestory durchgemacht, auf einem lodernden Grat ist er gegangen, alles in ihm war gestaltende Energie. Eine Sippe voller Todesfälle, ein Leben voller Tode hat er verarbeiten müssen, daraus unerhörte Kraft der Formgebung geschöpft, was manchmal übermenschlich anmutet. Hodler, obschon kunsthistorisch gesehen ein Moderner, Hodler ist alte Schule, was die künstlerische Integrität anbelangt. Und dabei die Ausdauer in der Wucht, als hätte er mit den Fäusten gemalt. Dabei die darstellerische Kompromisslosigkeit in der Nähe zum Liebsten, was er hat. Umpflügen das Klischee seiner Epoche und ohne Tränen bis ins Sterben hinein. Das ist grosse Klasse, und die möchte er, Hanskonrad Arter, genannt HK, sichtbar machen. Die Aura muss bleiben, wie schafft er das. Eine andere, eine neue Wahrheit hervorkratzen, was für eine? Probeweise presst er mit Folie den sparsam getupften Leim auf die defekte Stelle. Eine Wüste, das Bild, technisch gesehen.

Eine schlaflose Nacht. Das Ticken des Weckers hat ihn ins Bad getrieben, präzis um drei Uhr siebzehn hat er zwei Pillen eingeworfen, der Ausdruck stammt aus der Zeit, da der Joint und LSD angesagt waren. (Er ist nicht von gestern, wie die Museumskollegen annehmen.) Er geht auf Zehenspitzen, um die Frau nicht zu wecken. Das Päckchen steckt noch im Badzimmerschrank, wahrscheinlich längst abgelaufen, die Filmtabletten kaum gebraucht, doch der Tranquilizer, den ihm die Therapeutin einst zugesteckt hat, wirkt sofort.

In der Frühe hat er keinen Hangover, was ihn überrascht. Ein frischer Morgen, ohne Kopfschmerzen, wider Erwarten. Das Kunsthaus liegt wie neu vor ihm. Und zum ersten Mal wirft er einen Blick auf das restaurierte Höllentor von Rodin. Nicht dieses Thema jetzt, er geht stracks durch das Foyer, wo noch niemand ist ausser der Cafétière, die mit dem Lappen hantiert. Er nickt ihr zu. Sie scheint überrascht zu sein von seiner unerwarteten Freundlichkeit, die sie erwidert. Rasch nach hinten, die Treppe hoch, durch die neu eingerichtete Sammlung, zu viel Cy Twombly, findet er, arrangiert wie auf einem Altar, der ebenso gut von Beuys sein könnte, Beuys war in diesem Haus zu lange der Fürst. Der Restaurator mischt sich nicht ein, obschon, als der Neue kam, seine Meinung gefragt war. Er gilt als rettungslos rückständig. Das ist ihm recht, mit Vorurteilen kann er besser operieren, sie sind ein Schonbezirk für ihn, anders, als der gefühlige Dunstkreis falscher Sympathien es wäre. Er liebt bestimmte Maler, das heisst ihre Gemälde, sie stammen aus allen Epochen der Kunstgeschichte, von der Frührenaissance bis zu den Zeitgenossen. Rauschenberg, de Kooning, Rothko, bitte mehr davon. Das Getue um die aktuellen Diven berührt ihn nicht. Es gibt viel mehr Künstler als Kunst. Viel zu viele, die Kunst bloss mimen, bestenfalls repräsentieren, das ist die nackte Bilanz aus den letzten zwanzig Jahren Kunstbetrieb, auch in diesem Haus.

Die Kleine da. Er werde leichtes Spiel mit ihr haben, hat er zunächst gedacht. Er hat sie unterschätzt. Allmählich beginnt sie sich zu rächen. Zahlt es ihm heim, wird zu einer kleinen Jeanne d’Arc der Revanche für seinen studentischen Hochmut, der sie einst ignorierte. Und für etwas anderes, was er verdrängt hat.


Sein Elan in der Früh war trügerisch. Als er wieder auf der Filzmatte liegt, sieht er keinen Anhaltspunkt, eine Einöde sieht er vor sich. Ein gekleckertes gestrichenes Nichts. Bäuchlings ist man wehrlos. Mechanisch erhebt er sich wieder, um im Caldor das Wasser zu wärmen, das man für die Lösung der Schmutzschicht braucht. Blöd.

Blöd hat die Mutter die schadhaften Stellen auf seiner ersten teuren Sommerhose genannt. In gestärktem Leinen hat er sich zum ersten Mal kavaliersmässig gefühlt. Erstklass-Schneiderei einer alteingesessenen Zürcher Firma, sodass er das heikle Stück ausgebessert haben wollte, als es riss. Junge, du solltest mehr Sorge tragen, wo treibt ihr euch bloss herum: Die Weissnäherin, die monatlich kam, seufzte oft. Er hat sich von dieser Hose nicht trennen wollen, bis sie über Nacht zum Putzlappen geworden war. Die Mutter hat das bewerkstelligt, wie sie so manches bewerkstelligt hat im Sinne einer Kurskorrektur, die nicht dorthin führte, wo sie den Sohn haben wollte. Sondern dorthin, wo er schon war, wo reiche Nichtstuer sich im Flow suhlen, nur nachts sind sie lebendig. Damals ist das nicht anders gewesen. Damals war das Seefeld der Rotlichtdiskrikt, und die harmlosen studentischen Ausschweifungen landeten im Café Terrasse am Bellevue.

Hodlers Wahrheit hat Blödstellen. Das darf man nicht aussprechen, im Auge der Kunstgeschichte. Dass selbst ein Meister da und dort einfach pfuschte, weil er sein Geschäft satthatte. Oder weil ihm nichts einfiel. Dass Meister Hodler sich um etliche Stellen herumgedrückt hat, kann nur der Restaurator erkennen, es ist die stumme Bilanz von drei Monaten Arbeit am Bild. Sie wird nicht über seine Lippen kommen. Er mag keine peinlichen Dispute mit dem Fachkollegium lostreten.

Die Tage vergehen beim Schaben und Tupfen. Seit Tagen schabt und tupft er, kommt nicht rasch genug voran, um das Mädchen neu zu imprägnieren. Mit der zunehmenden Empfindung nehmen auch die Empfindlichkeiten zu, er entwickelt Idiosynkrasien, er schnüffelt Lösungsmittel und erträgt den Geruch der Menschen nicht mehr. Die Assistentin meidet ihn, seit er ausfällig geworden ist. Natürlich hat er sich entschuldigt. Er ist nervös, ungehalten beim Schach, da hilft, dass er den Schachpartner gewinnen lässt. Belanglos. Fesseln tut ihn derzeit nur diese Figur, die sich von den Schattengestalten abwendet, sich die Haare rauft, wenn niemand hinsieht. Weil sie sich fürchtet. Simple Erkenntnis.


Ein Fauxpas, ein Ausrutscher, das von gestern. Weil er gedacht hat, seine Eigeninitiative, dabei eine rein kör perliche Massnahme, würde seine Unrast beseitigen? Er hat sich hinreissen lassen, ist am Sihlquai gewesen, hat eine Polin ins Auto geschaufelt. Als sie ihn mit ihren schwarzgetupften Klauen umfing, hat ihn Panik befallen. Hier ist das Geld, so viel kriegen Sie in einer Woche nicht, sie war sprachlos, und er ist getürmt, mit offenem Hosenbund und nacktem Fuss auf dem Gaspedal. Im Rückspiegel sah er sie auf dem Trottoir stehen, die Handtasche schliessen, die Strumpfnaht prüfen: kein verlorenes Mädchen wie das von Hodler. Eine Professionelle going West. Es gibt sie zu Dutzenden, diese kaum flüggen, abgebrühten Hasardeurinnen aus Russland und vom Balkan, die längst nicht so bemitleidenswert sind, wie die hiesigen Frauenorganisationen tun. Denkt er.

 

Er hat Gewissensbisse gehabt, als er um Mitternacht ins Schlafzimmer trat. Seine Frau hat im Schlaf gewimmert und sich hin und her geworfen. Morgens stand er um sechs auf, um ihr im Bad nicht begegnen zu müssen. Er hätte ihr – post non coitum – nicht nackt entgegentreten können, so ist er nun mal, er leidet nicht sonderlich unter seiner Schamhaftigkeit: Deine Zürichbergsymptome, nannte es der Studienfreund. Der Zwinglianismus als metallkalter Keuschheitsgürtel für Männer. Er fühlt wenig bis nichts beim Geschlechtsverkehr, obwohl er normal funktioniert. Er hat aufgegeben, sich deshalb therapieren zu lassen. Läppisch, jene Sitzungen, in denen er einer Frau gegenübersass, die sich kaum von seiner eigenen unterschied. Eine Confession sentimentale zu dritt. Unerträglich.

Wer war das Mädchen? Er steckt den Pinsel zurück in das Glas, das mit Terpentin gefüllt ist, obschon Terpentin heutzutage verboten ist, die Dämpfe seien invasiv und könnten rauschartige Zustände bewirken. Hat der Mann behauptet, der die Werkstatt beliefert. – Was im Rausch entstand, bedarf des Rausches, bei der Nachbildung. Das ist simple Logik, Herr Kantonsapotheker –, sagte er mit Nachdruck auf den ersten zwei Silben. – Wir arbeiten hier im Auftrag der Stadt. –

– Ich bin bloss der Lieferant, ich habe meine Anweisungen. Und so weit mir bekannt ist, arbeiten Sie hier im Auftrag eines Fachkollegiums, das von Meryll Lynch gesponsert wird. Ausgerechnet die mit dem Dreck am Stecken. –

Woher der das weiss? Das geht diesen Kerl einen feuchten D an. Laut sagt er: – Hören Sie, es geht um Authentizität, und das heisst, die gleichen Instrumente, die gleichen Mittel, mit denen der Künstler gearbeitet hat. Von allein haben die alten Meisterwerke doch nicht diese Leuchtkraft gewonnen. Mit der Synthetik verpatzen Sie jede Aura, Herr Kantonsapotheker. –

– Wie Sie wollen, dann halt mit Terpentin. Sie tragen die Verantwortung, Herr Arter. –

– Jetzt schau einer an –, röhrte der Kollege von den Nabis im ersten Stock, – der Arter Hanskonrad wünscht sich den Rausch. Der kluge Kostverächter von annodazumal, er will einen Rausch. – Schwindel befällt ihn, wenn er an das Gespräch denkt. Noch jetzt ist da ein Stechen und nimmt ihm den Atem. Sind das Anzeichen einer Attacke? Die Zeitungsbeilagen sind voll von Warnungen, die er nicht mehr sofort als Werbemüll entsorgt. Nicht mehr, zwei Wörter werden wichtiger, wenn man älter wird.

Es ist Zeit, dass er den ganzen Vorgang rekapituliert. Bei Tageslicht und ohne Alkohol bei Tische. Das Mädchen hat ihn bestrickt. Man müsste von Verführung sprechen.

Obschon sich sein Glied niemals gereckt hat, im Anblick ihrer Nacktheit, es ist etwas anderes, was ihn an ihr erregt. Etwas Messianisches, was nicht zu ihm passt, nicht zu einem Arter der sechsunddreissigsten Generation. Vergegenwärtigen wir uns: Er ist nicht zu ihrer Reinwaschung berufen, er ist beauftragt mit ihrer Instandstellung, nichts weiter.


Das Ärgernis besteht in der unbekannten Herkunft des Modells. Die heroischen Hodlerweiber sind namentlich bekannt, sie tragen vom Schicksal gezeichnete, hagere Züge, hohe Stirn, Adlernase, klassisches Profil, tuberkulös unterhöhlt. Das Mädchen hingegen ist eine Anonyma. Eine Pennerin, entlaufene Bauernmagd, alles ist möglich. Ihr Gesicht ist älter als der Körper. Eine zwiespältige Aussage, derzufolge das Modell auch eine unerlöste Jungfer hätte sein können, die der Künstler kurz vor dem Verblühen entblättert hat.

Oder hat er eine Kriegswaise vor dem Verhungern bewahrt? Allerdings hat es um die vorletzte Jahrhundertwende in Bern wohl keine Kriegswaisen gegeben. Dann halt doch eine Bettlerin, die der Maler von der Strasse auflas, wo sie, der Not gehorchend, zum Freudenmädchen wurde, das nun gelegentlich gratis Indoordienste macht, denn einem anerkannten Meister zu dienen, ist allemal besser als der Strassenstrich. Er kommt je länger, je weniger an sie heran, er umkreist sie wie ein wildes Tier, das unschlüssig geworden ist, weil es den eigenen Hunger nicht kennt.

Seine Verdriesslichkeit, die Ungeniessbarkeit für andere. Jede Passion, auch die negative, ist einem Arter der sechsundreissigsten Generation doch fremd. Bisher, denkt er. Und fühlt Blutandrang im Hals, vom Nacken her fährt ihm diese feile Jungfrau in die Lenden, hockt sich auf seinen Rücken und reitet ihn vom Hals bis ins Gehirn.

Jetzt in die Senkrechte gehen, von den Knien an aufwärts, die Arme hoch, zwei mal stretchen. Plötzlich spürt er seinen Körper. Nicht die Fitness, sondern den Körper. Der macht, was er will.

– Ich glaube, wir müssen das Gebläse einstellen –, sagt er im Gehen zur Praktikantin. Sie ist Dänin. – Das Klima hier drin ist unerträglich. –

Sie guckt ihn an, als sei er der abnehmende Mond.

– Ich eben habe gelüftet, Herr Arter. –

– Nenn mich HK, Dörte, sonst komm ich mir vor wie dein Opa. –

– Ich mag Opa, haben Herz Opas. –

Dänisch klingt sehr direkt.

1902 in den Slums von Bern. Sie könnte sich mit Dällebach Kari verbünden, leider kommt der zu spät. Mit dem Dällebach Kari einen Ganovenverbund eingehen, das hätte klappen können. Als Taschendiebin wäre diese Wahrheit besser als im Freudengewerbe, sie ist nicht lasziv, es muss ihr grausen vor den ungewaschenen Kerlen mit Alkoholfahne und Schaum vor dem Mund. Er wird ihr die Pille untermischen, als Pulver, auf keinen Fall darf sie geschwängert werden. Von den Hochnasen des Kunstbetriebs. Noch besser, dem Mädchen einen Gleitschirm einbauen, mit dem sie sekundenschnell aufsteigt, in die Lüfte. Damit sie wegkann, wenn die Schwarzen kommen. Nur ganz sanft andeuten, von hinter dem Lungenflügel links, einer genügt. Sein Vorgesetzter wird das nicht merken. Der hat bloss ein Gehirn, schon seine Augen sind zu weit vom Stoff entfernt, aus dem die wahre Kunst gemacht ist. Die Ware Kunst. Wegfliegen können, wenn die Schwarzen kommen. Das Mädchen muss leben, auf Teufel komm raus.


Französisch, machen wir’s französisch, hatte sie gefragt. Auf Deutsch. Und er war ziemlich verlegen gewesen, er war knappe zwanzig und hatte eine vage Vorstellung davon, aus dem Kino. Le Cinéma vérité. Kommt ihm die Bardot jetzt in die Quere mit ihrer Vérité, weil er nun täglich der anderen Wahrheit entgegentritt. Er war der Freier einer Dame, die ihr glich, üppig und mit Schmollmund. Das erste Mal in Paris, im Puff. Das war schäbiger als erwartet, keine Folies Bergère. Ziemlich abgefuckt und er noch kaum mannbar. Ihr Allemands mögt es doch französisch, und sie hat sich unumwunden an ihm zu schaffen gemacht, und erst dann hat er begriffen.

Hodler hat mit diesem Mädchen vielleicht französisch gesprochen, er war doch bei Barthélemy Menn in Genf zur Ausbildung gewesen. Französisch mit breitem Berner Akzent. Sinnlos, weiter darüber zu brüten. Gedanken an sie zu verlieren, statt das Besteck an ihr zu wetzen. Er legt sich auf den Rücken, winkelt die Beine an. Hofft, dass ihn die Frauen nicht so liegen sehen.

Arter Hanskonrad, treten Sie vor. In Gedanken schlägt er die Hacken zusammen, zu Diensten, Herr Korpskommandant, das Militär hat er gehasst, ganz gegen die Familienehre, die von einem potentiellen General und drei Obersten gepflegt wurde. Er war kein Vorzeigestudent wie sein älterer Bruder gewesen, der die Karriere einer traditionsreiche Sippe fortsetzte. Während er, er. Wie dem auch sei, er kannte kein forsches Berufsziel. Bis jetzt weiss er nichts von seinen eigentlichen Wünschen.

Sie sind wohl so ein Aussteigertyp, Arter, Entscheiden Sie sich, was Sie im Leben wollen. Hat der Profax gemault, bei dem er hätte abschliessen sollen. Kunstgeschichte, das niederländische Stillleben in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Er hat nicht abgeschlossen. Hat ihn zu wenig interessiert, jenes überfrachtete Jahrhundert, das noch jetzt aus allen Nähten der Museen kracht.

Da wo das Herz ist, klopft nur ein Muskel. Er möchte nicht daran erinnert werden, was damals geschah. Das kommt von weit unten, was in ihm dräut, er weiss nur dies: Kein anderer darf das Mädchen berühren. Eine späte Heimsuchung. Er sinnt über die Lücken nach, es sind viele, die Hodler auf dem Bild hinterlassen hat. Warum hat er sie ins Nichts gesetzt, geradezu eingekreist mit dem Nichts. Leere Leinwand um sie herum. Da er die Figur mit ein paar Pinselhieben hingeschmettert hat, könnte man sie für flüchtig halten, eine Flüchtige, das täuscht, denn sie steht aufrecht. Das heisst, dass sie sich wehrt. Dass Fatale ist, dass sie in seiner, des Restaurators Optik eine Liegende ist, eine stehend Liegende ist sie.