Am Äquator

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Später denkt er, dass es ein Leichtes wäre. Hätte er nur das geringste Bedürfnis, nichts leichter als Kunstschändung. Er ist Herr über jedwede Manipulation. Es gibt laut Statistik mehr Kunstfetischisten, als man annimmt.

Sein Einzelgang, seine Verwundbarkeit, woher. Weil er als Hetero schon bald der Aussenseiter ist? Er hasst die parfümierte Männererotik, die jetzt im Vestibül hängt, da hat irgendein schwuler Tycoon eine Schenkung gemacht, und jetzt trabt er täglich an diesen Herrenmodellen vorbei, sie wären was für Caravaggio gewesen, das halbe Museumsgewerbe ist neuerdings der Männerliebe zugetan. Dabei ist er keineswegs homophob, er hat doch keine Vorurteile, die Teamarbeit klappt bestens, ja, vielleicht ist sie sogar entspannter, weil er ein Hetero ist und daheim eine Frau hat, die nicht auf ihn wartet. Nicht mehr.

Dieser Aufruhr in ihm. Er macht doch bloss seinen Job im Museum, dort, wo man dem Schönen und Wahren den Teppich bereitet. Ihm zu Füssen liegt, damit andere einem zu Füssen liegen, hinterher wird gemauschelt und kassiert. Alles Schöne und Wahre behaupten, das ist das Museumsbusiness, so wie eine einzelne Grille in seinem Garten den Sommer behauptet, der vollständig ins Wasser fällt.

Hundert Jahre Wahrheit, in zwei Fassungen, und in ein paar Wochen wird er mit der transparenten Schablone Mass nehmen am Zwillingsgemälde, das in der Sammlung hängt. Dann wird die erste Fassung, seine Wahrheit hinaus treten, vor die Experten und Repräsentanten des Sponsors. Zur Anbetung freigegeben, oder insgeheim zum Abschuss. Missbrauch wird stattfinden, wenn der Vielfrass der Kunstmeute sie verschlingt. Demnächst im Rampenlicht der Medien, von Fotoblitzen erlegt, besudelt von jenen Gierigen, die ihre Brieftasche mit Kunstverstand verwechseln.

Nachts träumt er, dass er auf Hodlers Gemälde durch die Wogen der Kunstgeschichte treibt, zurück bis in die Renaissance und weiter hinab. Wer will die Wahrheit, ruft er den sinkenden Flotten zu, doch die Menschen um ihn herum ertrinken, dann ist ihm, als kentere er selber im zum Leben erwachten tausendfach vergrösserten Purgatorium des Altarbildes von Hieronymus Bosch, das im Prado hängt. Am Morgen ist er schweissgebadet.


Er wird sie nie erreichen, die Wahrheit der Frauen. Diese Lektion eines Malers, der ein Frauenkenner war, ist deutlich. Der Maler hat sein Modell den Schattengestalten, welche Verfolgung und Tod weissagen, entzogen, indem er sie in einen unsichtbaren Mantel hüllte. Die rohe Leinwand, an der HK tagelang herumgeschabt hat, teilte ihm erst spät ihre eigentliche Funktion mit. Zwar scheint das bereits die wild entschlossene Miene des Mädchens zu tun, sie bringt eine stumme Beschwörung zum Ausdruck. Aber HK hat erst vor ein paar Tagen begriffen, dass es nicht der Gesichtsausdruck ist, der die Figur so stark macht. Dass es nicht ihre Abwehrgesten sind, welche die Gefahr bannen sollen, sondern die Leere, die sie umgibt. Die Hülle aus Nichts bestätigt ihre Unangreifbarkeit, der Maler hat das gewusst, und er, HK hat eine lange Leitung gehabt.

Es ist also nicht nötig gewesen, zu tun, was er ursprünglich vorgehabt hat, was ihn vermutlich den Job gekostet hätte. Die Wahrheit mit ein paar technischen Kniffen zu manipulieren, damit sie nicht nackt einem ignoranten Publikum ausgeliefert wird.

Die Gesamtausdünstung von Experten, Sponsoren, Kritikern, Investoren, Sammlern und ihren Groupiesist eine gewaltige Beeinträchtigung der Exponate, davon wissen die allesamt nichts. Deswegen hält er sich vom üblichen Kunstbetrieb fern. Niemand wird ihm abnehmen, dass ein jahrzehntelang praktiziertes unbedarftes Geschwätz auf das Kunstwerk eine schädliche Wirkung hat. Der Arter mit seinen Einbildungen, der Arter spinnt.

Er rekapituliert: Wie und wodurch ist ihm eigentlich die Erleuchtung gekommen, dass die Lücken auf Hodlers Gemälde keineswegs von einer Schludrigkeit herrühren? Dass der Meister das Mädchen mit Absicht auf die ungrundierte Leinwand setzt, damit sie aus der Leere ersteht. Diese Zen-Weisheit führen nicht nur Buddhisten im Programm ihrer gutgehenden Pfade, Entbehrung und Fasten sind auch eine abendländische Praxis der Mystiker, die schon in den frühchristlichen Klöstern waltet.

Der Meister hat den androgynen Leib mit einem fast megärenhaften Gesichtsausdruck verlinkt. Ihr wissendes Antlitz, ihre entschlossene Mimik sollen die Entblössung des Körpers vor falschem Zugriff der Zungen bewahren, vor den gelehrten Vielwisserzungen. Das war sein vordergründiger Eindruck. Nicht falsch, das nicht, aber die Quelle dieses Bildes liegt woanders. Hodlers Wandlung vom Verführer zum Beschützer seiner Modelle hat er im Verlauf seiner langjährigen Nahinspektion am Werk studieren und ergründen können. Der Restaurator hat sich diese Haltung angeeignet, er ist der Bodyguard der Bilder, nicht ihr Staatsanwalt.

Auf einmal war ihm klar, was er doch längst wusste. Als er im Tram sass und eine Übernächtigte einstieg. Sie war struppig und halbnackt, klapperte mit ihren rotangelaufenen Fingern. Sie würde, fürchtete er, von den bekifften Youngsters im Tram fertiggemacht werden. Doch die Jungen rückten wortlos beiseite und machten ihr Platz. Voilà.

Es heisst, Hodler habe mit seinem Motiv womöglich die Dreyfus-Affäre verarbeiten müssen, und zu allem Unfug wollen jetzt Experten im Modell Hodlers Frau Berthe gesehen haben. Möglich, dass Berthe die Figur inspiriert hat, sie sei ja cheibe mager gewesen. Nun ist Malerei auch Metamorphose, genau das beweist dieses Gemälde.

Darauf sieht man ein Mädchen stehen, und das ist von einer Ehefrau weiter entfernt als eine trächtige Kuh von einer Haselmaus. Der Maler, und notabene auch er, der Restaurator, will in ihr eine Unschuld erblicken, oder eine Wilde, was vom ontologischen Standpunkt her auf dasselbe hinausläuft.

Sie mag – für die Buchführung – eine Allegorie auf das Unrecht sein, die Blossstellung der Wahrheit mit dem Rücken zum anrückenden Femegericht. Wer aber mit ihr sechs Monate verbracht hat, in intimer Nähe gelebt, muss diese Auffassung verwerfen.

Sie ist zu weit hergeholt, zu abstrakt. Es geht hier direkt um das Leben des Mädchens, und nicht um einen jüdischen Oberst, der fälschlicherweise verurteilt und auf eine Insel verbannt worden ist. Es geht darum, dass die Wahrheit dieses Gemäldes letztlich in seinen Leerstellen besteht.

Es ist Zeit, sich von ihr zu verabschieden. Auf diesen Beschluss hin hat er sämtliche Pinsel gereinigt, die gebrauchten und die unbenutzten, und sämtliche Utensilien im Schrank versorgt und diesen Schrank abgeschlossen, der mehr enthält, als andere wissen. Er stand noch ein paar Minuten davor, dann ist er endlich gegangen, und halt, doch noch einmal zurückgekommen, für den prüfenden Kontrollblick, das Auge als Überflieger einer Bildtrunkenheit, die ihn befallen hat wie ein Siechtum.

Als er an diesem Abend nach Hause kommt, es ist wieder nach Mitternacht, steht seine Frau in einem flauschigen Seidendress vor dem Badezimmerspiegel und schminkt sich ab. Der Flausch ist ihm neu, und er sieht, dass sie darunter nichts trägt. Dazu fallen Worte, die ihn noch mehr überraschen als der ungewöhnliche Aufzug.

– Sag endlich, dass du eine Geliebte hast. Du kannst ruhig ehrlich sein. –

– Du bist schön –, sagte er und nahm sie behutsam in die Arme. Sie war perplex.

– Was ist nun? Deine Zärtlichkeit muss ja von irgendwoher stammen, sie ist mir vollständig neu. –

Sie schien erfreut und tat zum ersten Mal etwas, was in einem Schlafzimmer der Arter-Dynastie wohl noch nie vorgekommen war. Sie liess den Dress vor seinen Augen fallen. Machte keine Miene, ihn aufzuheben, sondern schlüpfte in die Daunen. Das wirkte sehr geschickt, sodass er ebenfalls auf den Gedanken kam. Den er nicht aussprach. Er spürte, dass auch in ihrem Leben etwas vorgefallen und nun zu einem Ende gekommen war.

Gleichzeitig war ihm klar, dass ihre Frage rein rhetorisch gemeint war. Sie war schon seit Jahren dermassen enttäuscht von ihm, dass sie überzeugt war von seiner Unfähigkeit, eine Geliebte zu halten, und das reizte ihn umso mehr.

– Ja –, sagte er. – Du liegst richtig, ich habe jemanden gehabt. Und Schluss gemacht, definitiv. –

Als er sie umschlang, versteifte sie sich merklich, sie schien dabei nicht sonderlich brüskiert.

– Du willst mir bloss imponieren, nicht wahr? –

– Nein –, sagte er mit einer Bestimmtheit, die sie zu frösteln schien.

– Wie heisst sie? –

– Das hätte ich gerne gewusst. Aber lassen wirs. Es ist endgültig vorbei. –

Seine Frau löschte das Licht und drehte sich um.

Binnen zwei Wochen wird die Wahrheit feierlich enthüllt vor einem geladenen Publikum stehen. Er wird nicht dabei sein. Er wird im Louvre sein. Oder im Quai d’Orsay Courbets Origine du monde anschauen, ganz privat. Stille Andacht, keine Inspektion, er kennt jenes Bild aus dem Effeff. Er ist berufshalber ein Voyeur und hat kurz etwas mit dem Hodlermädchen gehabt. Ob das die Wahrheit war? So viele Gefühle aufs Mal hat er noch nie gehabt.

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Sie dachte, das ist es also, was Goethe zu Eckermann sagte. Und was der Kleist wahr gemacht hat. Vielleicht wegen Goethe, der ihn abgelehnt hat. Der verzweifelte Kleist, der seinen Freitod als festlichen Paarlauf am Wannsee inszenierte: Die unerhörte Begebenheit, exemplarisch.

In Tat und Wahrheit schleicht sich das Phänomen in unsern Alltag, es ist schon da, wenn es erkannt wird. Als Schlaglicht auf etwas Vorhandenes, das in der Stille sein Wesen treibt.

 

In solchen Tiefsinn war sie geraten, weil Sven in ihre Einladung geplatzt war, ihr älterer Bruder war per Anhalter aus Berlin hergereist.

Man weiss, wie gnadenlos das Urteil grosser Brüder sein kann. Kleine Schwestern sind Wachs in ihrer Weltanschauung. Doch diesmal wars wohl bloss Arglosigkeit. Sie segelte wie ein Herbstblatt durchs offene Fenster und landete auf dem Teppich. – Seit wann sind wir den schwanger, Schwesterchen –, fragte er. Sie hatte eben den Hauptgang servieren wollen, ein enormer Aufwand: Saftplätzchen nach Grossmutterart, Gemüse und Ofenkartoffeln. Die Teller wurden ihr unaufgefordert entgegengestreckt, und plötzlich kam es ihr vor, als stiessen sie zu, die Kommunarden der losen Umgangsformen.

Sie pflanzte die grosse Anrichteplatte auf das angerostete Rechaud und wandte sich ab. Da war sie, diese unerhörte Begebenheit, als sprechende Wölbung unter dem Trägerkleid, sein Empirestil hatte sie verraten. Ein Rauschen in beiden Ohren, sie muss puterrot angelaufen sein, als sie aus dem vor Werweissen vibrierenden Wohnzimmer ins Bad gestürzt ist. Hatte alles andere an brüderlicher Ungeniertheit erwartet, einen ätzenden Satz wie: Dieser grässliche Lumpen steht dir nicht. Oder: Seit wann trägst du Tantenkleider? Minuten verrannen, sie sass wie versteinert auf dem Wannenrand. Schliesslich erhob sie sich, um dem erbarmungslosen Spiegel etwas entgegenzusetzen, er war drastisch ehrlich, und kein Schmeichler wie seine Brüder von der Couture. Im harten Schlag der Neonröhre wirkte ihr Vorbau wie eine Sprungrampe für Skispringer, nein, ich übertreibe nicht. Ich bin ja die Chronistin jener Person, die ich von aussen ermittle, dafür setze ich sie eine Erzählung lang in die dritte Person. Nicht weil damit eine objektivere Einschätzung von Situation und Handlung zu erwarten wäre, sondern weil das Ich jener Tage sich verabschiedet hat. Es war namenlos und darum zu allem fähig gewesen, was das Reich der Phantasie ihm offeriert hatte, es lebte in der Möglichkeitsform. Und nun ging es um das Auskosten einer Situation, die vorhin als die ultimative weibliche Zukunft in Gang gesetzt worden war: ihre Zukunft.

Zu jener Zeit war Schwangerschaft ein feministisches Risiko und in jedem Fall ein Politikum. Nach wie vor verkehrten in linken Kreisen hartgesottene Ideologen, die jeden Rülpser des Zufalls als Voraussetzung gesellschaftlichen Handelns analysiert haben wollten. Ihr war das schnuppe, sie nannte sich einen Freigeist und blickte gefasst der unausweichlichen Diskussion in der nicht mehr so guten Stube entgegen.

Dichter Qualm hing über der Runde, Wuschelhäupter fuhren auseinander. Alle fixierten jene dritte Person singular, die nun unanfechtbar im Raum stand. – Du wirst uns nicht mit einer Hausgeburt strafen, was? Wann und wo ist der Termin? – Herbert war strikte mit Formalitäten. Er hatte zum eisernen Bestand der maoistischen KPS/ML gezählt, und in der KPS/ML war Heiraten obligatorisch gewesen. Er war längst geschieden, aber gezeichnet von vergangenen Verhaltensmustern. Diesmal kam er nicht weit damit, denn seine blutjunge Freundin, die er als Errungenschaft in die Tischrunde eingebracht hatte, wurde vorwitzig: – Darf ich die Patentante sein? – Jemand frohlockte, und jemand bot ihr grossherzig das ehemalige Kinderbettchen an. Statt Ideologie wurden praktische Ratschläge herumgereicht. – Sag bloss nicht, du heiratest in Weiss –, sagte jetzt Ingrid, die meistens schwieg, als beharrlicher Teil einer ausgeleierten Partnerschaft, die zu keinem Finale fand.

Sie staunte, diese unerschrockene Person, die ich einst war, ihre mutmassliche Schwangerschaft warf wider Erwarten keine Schatten der Repression voraus, es drohte ihr keine sexistische Versklavung. Mutterschaft war also nicht mehr die eingeborene Feindin jeder Intellektuellenlaufbahn, stellte sie mit Genugtuung fest und sah sich besorgt nach dem wichtigsten Menschen um.

Er sass neben Herbert, in sich versunken. Während die plötzlich beste aller Nachrichten sämtliche Zungen löste, blieb er stumm und sandte ihr einen finsteren Blick zu, es war ein Signal der Ohnmacht. Ron schien wie alle andern die Botschaft zu glauben, und sie, besser gesagt ihr Bauch, traf eine Entscheidung. – Will mir denn niemand gratulieren? Die Ausstattung lasst mal meine Sorge sein –, sagte sie und tat souverän. Sie blickte beschwörend nach dem unteren Tischende, und sah, dass von dort jetzt grünes Licht kam: – Wir wollten die Neuigkeit vorläufig für uns behalten, aber unter euch Plappermäulern ist das ein Ding der Unmöglichkeit. – Er spielt also mit, um mich zu schützen, dachte sie, während sie sich sagen hörte – Ich bitte um Themenwechsel, ich serviere jetzt nämlich das Dessert, meine hausgemachte Himbeerglacé. – Als der Tafel ein einhelliges Bravo entstieg, nahm sie an, das bedrohliche Omen hätte sich verflüchtigt.

Endlich im Bett, der Abwasch hatte gedauert, sah sie sich getäuscht. Ron rieb seine Wange an ihrem Hals und fing an, behutsam ihr Abdomen, wie er das nannte, zu massieren, dann tastete er vorsichtig nach unten, wo der heilige Gral sass; für ihn, den dipl. Chemiker, bestand er vermutlich aus einem zarten Kristallstäbchen der Doppelhelix, die unser Erbgut definiert, und bei unsachgemässer Behandlung würde es sich sofort verflüssigen. Er legte ein Ohr auf ihren Nabel und horchte:

– Ich glaub, ich werde verrückt. Svens Vermutung ist also richtig, mein Schatz. –

Was für ein verlockender Umgangston! Die derart Geweihte schoss in die Sitzlage und schaute ihm prüfend ins Gesicht: – Willst du sagen, dass du dich freust? –

Als Antwort legten sich zwei kräftige Arme um ihre Mitte, wie eine dralle Maid aus dem deutschen Schlager kam sie sich jetzt vor.

– Du hättest mir etwas sagen können. –

Sie kuschelte sich an ihn; er führte ihre Hand zu seiner Erektion, während er flüsterte: – Wir haben gerade noch Zeit, bevor mich dein Hormonhaushalt ausstossen wird. Sie zeigte sich verblüfft. –

– Du bist offenbar informierter als ich. –

Eigentlich war das nicht erstaunlich, denn Ron arbeitete als Leiter eines medizinischen Labors in einer Tagesklinik. Das war nicht vorgesehen gewesen, ihre Jugendliebe hatte promoviert und wollte eigentlich in die Forschung gehen, dann aber hatte die Jugendrevolte auch die Pforte der ETH erreicht: Es begann die grosse Ära der Karriereverweigerer.

Am übernächsten Morgen fand sie zwanzig Seiten Schwangerschaft nach 35 vor. Darauf steckte ein gelbes Post-it. – Ich freue mich. R. – Er hatte ein Herz um sein Initial gekritzelt, was sie für ein Alarmzeichen hielt. Wie ausgehungert musste er sein. Sinnlich, menschlich bedürftig, sie war ahnungslos gewesen und beschloss, den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Der Alltag nahm seinen Fortgang, und sie, deren Namen der Sache nicht förderlich ist, war auf der Hut. Ihr Name sei einerlei, meinte sie, und fügte etwas wichtigtuerisch hinzu, ein Name sei bloss ein Pars pro toto in einer Epoche der Gesellschaftsrelevanz. Das reicht uns nicht, dachte die Chronistin, und liess an seiner Statt ein solides, in der Praxis des Frauseins geschultes Pronomen agieren. Die dritte Person singular.

Diese sah sich auf einmal verwöhnt und umsorgt von ihrem guten Kumpel, der über Nacht zum Gentleman avanciert war. Ausserdem sprach der Kenner aus ihm, er habe vor, sie planmässig für die kommende Phase zu instruieren.

Nun gut, das klingt professionell, doch wird seine notorische Brutpflege etwas unheimlich für die Partnerin, die sich bald vorkommt wie eine unnütze Henne, die nicht legen kann. Die beiden sind in jenem verschwenderischen Alter, da man das Eigentliche noch vor sich sieht, Jugend stellt noch keinen vergänglichen Wert dar, ja, sie ist überhaupt nichts Besonderes, da man sie für unaufhörlich hält.

Sie hat den vermeintlichen Erzeuger mit achtzehn Jahren kennengelernt. Er war «mon homme», wie die erotisch fortschrittlichen Französinnen sagen. Kennen und lieben, na ja. Soll man nun das ominöse Verb nachschieben, wo doch die Liebe eine hochfliegende Majestät war, respektheischend, von Frauenromanen gesättigt, deren himmlischer Anspruch in keiner Weise den Umgangston der modernen Partnerschaft traf? Sie wagte nicht, das erhabene Wort in den Mund zu nehmen, die daraus resultierende, schlüssige Tat jedoch schon. Notiert die von der Anzüglichkeit leicht irritierte Chronistin, weil sie weiss: Auf die Nächte mit Ron war Verlass, ein guter Liebhaber war er von jeher gewesen, schon die Entjungferung vor sechzehn Jahren, wenn wir so weit ins Detail gehen wollen, erfolgte mit äusserster Sorgfalt in der Deésse seines Vaters, auf dem Liegesitz der französischen Göttin unter den Automarken, die im Film noir Furore gemacht hat. Nächte intakt, aber was ist mit den Tagen, Bürotagen, die ihr nun endlos erscheinen? Das Wort Langeweile erhebt sich bereits im Hinterhalt und wartet auf Einsatz.

Sehen wir weiter, was folgt. Als der mutmassliche Vater zu einem infantilen Märchenton überging und sich erkundigte, was denn «unser kommendes Schätzchen an diesem Abend auf seinem Tellerchen wünsche», erwiderte die mutmassliche Mutter aus purem Übermut, das Schätzchen würde gern einen frisch gepflückten Penis essen. – Du liegst richtig, ich meine exakt den deinen. –

Es trat eine Pause ein. Dann hörte sie sich mit Nach druck sagen: – Der ist jetzt reif, der muss jetzt fallen. – Sie glaubte, ein kleines Flackern in seinen Augen zu entdecken, doch dann zwinkerten sie, und er sagte pfadfinderhaft – Kastrieren ist auch ein Handwerk. Machen wir die Probe aufs Exempel. –

– Gleich jetzt, ergänzte sie mutwillig. –

Es war etwas wie Kampfgeist über die beiden gekommen. Als er im T- Shirt, im übrigen blutt – die deutsche Sprache entbehrt des treffenden Pendants –, vor dem hellblau lackierten Brockenhausbuffet stand und wie zur Krönung seines Mutes das Fleischmesser schwang, ging etwas Seltsames mit der Frau vor. Sie hätte ihn schwerlich benennen können, diesen verlockenden Sog nach einem Schnitt in lebendiges Fleisch, der mit pathologischem Sadismus wohl nur eine geringe Verwandtschaft aufweist. Hineinschneiden in das atmende, das vertraute Körperteil, das organisch mit ihr verbunden war. Mit einem Mal verstand sie, dass es ein elementares Bedürfnis gab, einem rohen Haufen ausgeweideter Tiere messerscharfe Schnitte beizubringen, in einem Machtrausch einem Verwundeten den Kopf zu spalten, worauf die noch zuckenden Gliedmassen vom Rumpf zu trennen sind, logisch, in der Abfolge einsichtig sah sie das Handwerk des Tötens vor sich. Da wuchs also ein kleines Monster in ihr heran, vor dem sie ihn und vor allem sich selbst schützen wollte, folglich nahm sie dem blutten Mann das Messer aus der Hand und ergriff stattdessen seinen Penis. Den streichelte sie wie eine verschreckte Haselmaus, erleichtert, dass er nicht aus der Vorhaut fuhr. Dann führte sie den angehörigen Körper ins Schlafzimmer, und sagte – Los, Licht aus, Augen zu, und zwar sofort. –

Sie lag wach und hörte die Stunden schlagen, zwei, drei, vier, fünf, im Morgengrauen schlich sie ins Bad und blickte dem Ungeheuer im Spiegel entgegen. Das geht also in dir vor, nickte sie, dieses Gelüst, etwas Lebendigem systematisch den Garaus zu machen, in zuckende Leiber Keile zu treiben, blutende Schenkel und Arme abzuhacken. Noch mehr erschrak sie über die Erkenntnis, dass die berufsmässige Schlachterei einen unterdrückten sexuellen Trieb befriedigte, wie man von Kriegshetzern und Nazis vermutet. Irgendjemand musste ja die Drecksarbeit tun, hatte sie bisher gedacht. Drecksarbeit, damit die Gesellschaft ihren kannibalischen Schweinereien auf dem Teller frönen konnte. Auch sie mochte nichts lieber als eine Portion frische Entenleber und dazu eine Semmel in die bestialisch aromatische Sauce tauchen, im Augenblick des Genusses wars ihr egal, dass die Sauce in Billiglohnländern mit Geschmacksverstärkern angereichert worden war, der Dreck der Ausbeutung schmeckte leider zu gut. An Menschenfleisch in der Bratpfanne hatte sie allerdings noch nicht gedacht.

Der folgende Tag verging quälend, sie war zu gar nichts imstande, sass stumpf im Büro und blätterte in den Dossiers. Beschloss um halb drei aufzubrechen, die Kollegin hatte zum Glück frei, da war niemand, dem sie Rechenschaft schuldig war. Kochen, etwas Unverdächtiges kochen, das half ihr meistens. Also kaufte sie unterwegs ein, band sich zu Hause die Schürze um und machte sich ans Werk. Das Rüsten und Rühren linderte ihren Zustand, doch wer will schon um vier Uhr mittags einen Gemüserisotto vertilgen? Sie rief Ron an, sie habe gekocht, er solle sofort nach Hause kommen, und als er kam, wirkte er auf sie wie eine sabbernde Hündin, der sie am liebsten einen Tritt verpasst hätte.

 

Ein Signal, notiert die Chronistin. Sie fügt ein paar der bizarren Szenen hinzu, die sich in der Folge ereig nen, damit wir uns ein Bild machen können von den Zuständen, in welche die Frau geriet.

Sie erblickt am hellen Tag eine Pfanne voll dampfenden Mampfs, wird von Panik ergriffen und rennt blindlings aus der Wohnung. Auf und davon, weiter und weiter, bis sie die Küchenschürze, die an ihr baumelt, mitschleift, die Bändel haben sich gelöst, gleich wird sie sich darin verheddern und stürzen. Das bringt sie endlich zum Stehen. Sie schaut sich um, rundherum Hochhäuser, anthrazitschwarze Bürokomplexe, dahinter ein gläserner Stahlriese, der sie zu einer Nichtigkeit schrumpfen lässt, sodass sie mit dem Fuss aufstampft, es klingt hohl nach Beton, gleich wird er seinen Schlund auftun und sie verschlucken. Wenn er das tut, wird sie in einen Zeitkorridor gleiten und kommt am anderen Ende des Erddurchmessers frisch auf die Welt. Das ist verlockend, sie ist drauf und dran, ans andere Ende der Welt zu tauchen. Aber halt, da liegt noch etwas, das muss sie aufheben. Sie greift nach den grünroten Karos am Boden, ein elendes Häufchen Häuslichkeit in der Fremde, das sie mahnt, rundherum ein stählernes Niemandsland. Ein Ort, nie gesehen, eigentlich ist sie fasziniert. Warum nicht hierbleiben, anwurzeln, sich auflösen in unbekannt? Wieder das Aber, das Aber regiert den Alltag, das Aber ist Ron verpflichtet. Sie inspiziert ihr streikendes Knie und bemerkt, dass ihre Füsse in Pantoffeln stecken, ihren geliebten ausgelatschten Tigerfinken. Sie beginnt hysterisch zu lachen und trottet durch ein menschenleeres Gebiet zurück. Es beginnt zu regnen, und als sie triefend zu Hause ankommt, sind drei Stunden vergangen.

In der Frühe, wenn Ron in der Küche hantiert, tätschelt sie im Bett das anschwellende Vorgebirge, lässt die Finger auf ihm tanzen, ihr Bauch ist guter Hoffnung, das weiss jene in der Fotoschachtel vergilbende Generation. Fotos sind spiessig, etwas fürs Altersheim. Guter Hoffnung hingegen ist die irdische Barmherzigkeit, jedenfalls etwas sehr Lauteres, Schönes, so nimmt das banale Wort ausnahmsweise in ihrem erlesenen Wortschatz Platz. Preziös faltet sie die gespreizten Finger über ihrer gewölbten Mitte und begibt sich mental in das Inbild der Verheissung, so ward, so wird aus ihr für ein höheres Momentum Madonna im Rosenhag, oder Maria, die Mutter Jesu, die aus dem Gehäuse in eine liebliche Landschaft hinaustritt.

Die wohlwollenden Blicke, die auf der Frau ruhen, im Bus, im Tram, am Arbeitsplatz, sind eine Genugtuung für jemand, die mit der Waage einen chronischen Kampf ausficht. Doch das reicht nicht, sie müssen bestätigt werden. Man ertappt nun die Frau beim Shopping, wenn sie ihre Schritte in die Abteilung für Säuglinge lenkt. Wie sie Büchsen in den Händen wiegt, die Inhaltsangaben entziffert und das Food einpackt. Einmal kauft sie zwei Gläser naturreines Baby-Mus und verschlingt den Inhalt sitzend auf der WC-Brille der Warenhaustoilette. Ist da jemand schockiert? Der gebenedeite Zustand duldet alles, verzeiht alles, sind wir doch christlich in ihm vereint. Einmal verstaut sie ein getupftes, nun wirklich ungemein süsses Nickistrampelhöschen in ihrer Schultertasche und behält es bei sich. Immer. Manchmal, im Kinodunkel, fährt sie in den Flausch hinein, um ihn zu kosen.

Das Verhalten hat den Zustand besiegelt. Das Umfeld bestätigt ihn, indem es ihn spiegelt: Überquellendes Verständnis alter Frauen und zarte Schonung durch den Mann, ein bisschen Knuddeln und Kosen vor dem Lichterlöschen. Im Übrigen werden die Nächte mit Schlafen verbracht, was ja der Hauptzweck von Nächten sein soll. Was aber ist mit den länger und länger werdenden Tagen?

Lähmend der Sonntag mit seiner notorischen Spaziermanier, er probt im Naherholungsgebiet das Familienglück, doch bemerkt man in seinem Schatten den verstohlenen Ingrimm der aufrecht neben dem Kinderwagen schreitenden Väter, die ihre Hände in den Manteltaschen bergen. Daneben der wortreiche Versorgungstrieb der Mütter, die den Schatten geflissentlich übersehen. Die Väter sind unfreiwillige Väter, was sie niemals zugeben werden, sie aber sieht es ihnen an. Gegen Abend, wenn die Dämmerung elektrische Funken in die bleierne Winterlandschaft schlägt, wenn das künstliche Licht am blauer und blauer werdenden Horizont aufgeht, erwacht jene unbestimmte Wehmut in ihr, die weder Ursache noch Ziel hat. L’ennui nennen sie die Franzosen, es wohnt der Weltschmerz in diesem Wort, er liegt unter der Langeweile begraben und weist über das einzelne Dasein hinaus. Besser als das Nichts, das ihr Grundzustand geworden ist. Und das Nichts ist das Nichts, und jede Anmutung von Heidegger ist pfui.

Der unstete Geist verlangt nach prickelnder Nahrung. Eines Abends, als Ron mit seinen Kolleginnen kegeln ging, sass sie untätig zu Hause herum und horchte auf Anzeichen jenes Tabugefühls: das satanische Gelüst auf den Schnitt ins rohe Fleisch. Es wollte sich nicht einstellen, also stand sie auf, nahm das Nagelscherchen aus dem Manicure-Etui, das irrtümlicherweise beim Nähzeug lag, ritzte sich den rechten Handrücken blutig und verfolgte mitleidlos, wie das Blut auf den Teppich tropfte. Dann lief ihr ein Schauer über den Rücken. Das war alles. Die Frau, die innerlich erstorben war, eilte ins Bad, um sich die blutende Hand unter das fliessende Wasser zu halten. Dann verpasste sie sich schlecht und recht mit Gaze und Heftpflaster einen Verband.

– Hast du dich verletzt, Liebes? –

Ach was, die dumme Pute im Labor hat mich fast zu Tode gestochen, natürlich am falschen Ort. –

Sie erhofft von dieser Flunkerei frische Durchblutung. Arterielles Blut, helles Zinnober. Ein Klopfen oder Ticken. Sie wartet auf Gewissensbisse, doch da ist nichts, gar nichts ausser dieser konturlosen Einöde in ihr, und nicht ein einziger Baum darin, den man wie in der Sahara anfahren und umlegen könnte. Und dann fällt dieser unerträgliche Satz: – Das wird schon wieder, das macht die Schwangerschaft mit dir. – Sie muss an sich halten, sie holt tief unten Luft, um den wichtigsten Menschen nicht zu würgen.

Schon im Gymnasium hatte sie sich der Pantomime verschrieben, die Nachahmung von Lehrpersonen war die Paradenummer und überzeugte Lehrer und Schüler, dass aus ihr einst eine grosse Schauspielerin werden würde, eine Zeitlang erwog sie die künstlerische Laufbahn, um dann umso drastischer Gegensteuer zu geben und das Studium der Rechte zu ergreifen. Alle hatten den Kopf geschüttelt, ausser Ron, dem die Bühne nichts sagte, das Getue all dieser Regiestars, die sich selber inszenieren wollen, meinte er, ihm war eine juristische Instanz an seiner Seite mehr als genehm. Es begann die Propaganda für das WERTVOLLE Leben, denn die bösen Geister der Euthanasie wurden wach, wenn jemand sich für die Erforschung einer möglichen Pränataldiagnos tik einsetzte mit dem Argument, dank ihr würde man Eltern und ihren behinderten Kindern ein beschwerliches Leben ersparen. Offenbar war ein beschwerliches Leben für Eltern und Kind erwünscht. Da kann man dann ein stilles Heldentum pflegen. Die Bemerkung hatte er mutwillig fallengelassen, zu einem Pausenbrötchen. Seither galt Ron bei den Schwestern der Tagesklinik als ein menschenverachtender Technokrat.

Wird es ein Julian oder eine Louise? Das Namensspiel hatten sie schon oft gespielt. An ihrem Geburtstag fand sie auf dem Frühstückstisch eine Schachtel vor, verziert mit dem üblichen Kram von Schleifchen, Sternchen und Blümchen, pflichtschuldig mimte sie Begeisterung und zupfte aus raschelndem Seidenpapier ein Schlüttchen mit dem gestickten Namenszug Louise. In ihren Augen war das ein Schock, den sie nicht zeigen durfte. Um ihre Erschrockenheit zu verbergen, presste sie den Louisenvater heftiger denn je an sich, sein vor Freude rotes Gesicht berührte sie peinlich. Ihr wurde mulmig, sie kam bei 26 Grad in der Küche ins Frösteln, sie zitterte am lichterlohen Morgen, und das war nun wirklich sehr bedenklich.

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