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Liebe Helen, ich bin doch nicht blind. Was du vorhast, hast du schlecht verhehlt.

Warum hast du nie etwas gesagt?

Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen.

Du bist doch einer, also einer … Sie kann sich kaum er­­holen, dann prustet sie los. Also deinen Wittgenstein – ist doch Wittgenstein? Den kannst du dir sparen. Ich bin nämlich froh, dass es endlich heraus ist.

Es ist, als sei eine Zentnerlast von ihr gefallen, sie hat ver­gessen, wie klug und bedacht der Mann an ihrer Seite ist. Und wie gern sie mit ihm zusammen ist. Das ist ein Glücksmoment. Der Moment, der sagt: jetzt. Jetzt und nichts an­deres. Und endlich fühlt Helen den verschütteten Humor in sich aufsteigen.

Ich denke, sagt sie entwaffnend, ein vorhandenes Kuckuckskind lässt sich wohl einfacher adoptieren als ein kommender Gottessohn.

Der Mann gegenüber räuspert sich:

Helen, von Adoption zu reden, ist viel zu früh.

Das ist Uwe, der Alte. Der, der er eben ist.

Ich weiss, lächelt sie über den Tisch. Schenk mir noch ein Glas von deinem Supergigaweissnichtwas Bordeaux ein.

Göttlich, ich kann mich nur wiederholen.

Sie kosten und schweigen. Bis Uwe sagt: Du, ich bin so froh, dass Syrien nun in die Nähe rückt, es liegt jetzt sagen wir mal in der Distanz von Schlieren oder Affoltern am Albis. Dann hält er ein, ist ja im Grunde ein zy­nischer Gedanke, gebe ich zu. Du wirst mir vergeben müssen.

Die Nacht ist sternenklar, als sich die beiden Arm in Arm zum Fenster hinauslehnen. Eine frische Brise fächelt sie an. Von der nahen Turmuhr schlägt es Mitternacht. Als der Klang verhallt ist, schwirrt ein Zitronenfalter herein.

Lass ihn, sagt sie zu Uwe, der findet seinen Weg. Wie der Junge. Und ich hoffe, wir finden ihn auch.

Uwe murmelt – Wittgenstein wäre wieder fällig, aber den magst du ja nicht.

Das hab ich nicht gesagt, ich meinte, ich … Uwe legt ihr zwei Finger auf den mit Lippenstift und einem Rest Dessert versalbten Mund. Dann sagt er trocken, es gibt da einiges nachzuholen, denke ich. Die Fortsetzung ist klassisch, geradezu klassisch. Mit viel Basic Instinct. Und noch mehr Zustrom aus einem verantwortungsvollen Muskel, der Herz genannt wird.

Um sechs Uhr morgens zwitschern die Vögel wie verrückt. Sie wissen, was los ist. Helen erhebt sich schlaftrunken und steigt über den königlich schlummernden Uwe hinweg. Sie greift nach dem Seidenhemd, das auf dem Stuhl übernachtet hat, sie will nach dem Jungen sehen. Das Kel­lerfenster steht offen, und sie erschrickt. Aber die Tasche und der Krimskrams liegen noch da, die Schuhe stehen säuberlich gepaart vor der Holzbeige. Helen atmet auf. Sie muss an sich halten, um nicht in Jubel auszubrechen und dann in Gelächter, denn der Anblick der verhassten Schuhe ist die reine Lieblichkeit. Nun sind sie ein Pfand für ein grösseres Abenteuer geworden, das ihr bevorsteht. Und sie hofft, dass auch Uwe mit von der Partie sein wird, wenn es darum geht, ein stummes kluges fremdes Menschenkind kennenzulernen. Tagtäglich.

War es tatsächlich so? Natürlich war es nicht so. Wishful thinking war’s, der Tag- und Nachttraum einer sozial Engagierten, die wider Willen bei den Grünen politisiert. Und dass sich der bestens dotierte Weinkeller eines gut situierten Paares in Bethlehems Stall verwandelt, ist des Guten zu viel. Das mit den Körpern und Seelen traf hingegen zu. Und es hatte nichts, aber auch gar nichts zu schaffen mit dem, was sich derzeit erotisch auf der Benutzeroberfläche des Digitalkosmos kräuselt. Selfies und Emojis und Blümchen und Herzchen und Softporno und Hardporno und beide mit einem Strauss Bildchen, die Minderjährige und Überfällige bloss mit der Netzhaut wahrnehmen können, falls sie darauf stossen. Dieses Paar findet sich rasch in der Tiefe darunter, dort wo sich die letzte archaische Kraft regt, die alles wegschwemmt, was sich an Ratgeberliteratur für sogenannten guten Sex so­wie an therapeutischem Beigemüse auf der Haut des mitmenschlichen Umgangs ansammelt.

Doch es war der Zitronenfalter in lauer Nachtluft, den der durchgepeitschte Wissenschafter nicht ertrug. Weshalb das Vorspiel zur anstehenden Liebesnacht besonders rigoros ausfiel. Und weil das die Gefährtin kommen sah, nahm sie dem Gefährten den Wind aus den Segeln und holte zu einem Präventivschlag aus. Damit du dir nicht zu viel einbildest auf deine Verführerqualitäten, Sex ist nur das Mittel zum Zweck der Erkenntnis, wo du anfängst und ich aufhöre. Diesen heftigen Satz prustete sie ins La­vabo, mit einem Wattebausch voller Abschminke in der Hand, während ihr Uwe über den Rücken fuhr und sie, was sie mag, kräftig unter den Schulterblättern massierte.

Gut zu hören aus dem Mund einer Komforthuma­nistin, gab Uwe schlagfertig zurück. So eine Bezeichnung kann eine Helen Grossniklaus hingegen nicht auf sich sitzenlassen. Warte, die Antwort kommt noch und nicht zu knapp, sagte sie erregt und wütend zugleich. Und das grosse Aber, das hier folgen möchte, muss passen.

Die Antwort zeigte Wirkung. Wochen später finden wir Helen nicht im IKRK auf einer Mission in Syrien, sondern als Freiwillige in einem Durchgangsheim im Kreis 5. Neben ihrem Pensum am Gymi jobbt sie dort zwei Nachmittage in der Woche als Dolmetscherin und Coach für minderjährige westafrikanische Flüchtlinge. Der dunkle Götterliebling hat nämlich, seit er bei den Eritreerinnen wiederaufgetaucht ist, ein paar Wörter von sich gegeben. Faim, nuschelte er, dann sagte er: boire, vous-plait, und dann: il fait froid. Die Eritreerinnen freilich hegten keinerlei humani­täre Absichten, weshalb sie den Jungen in jenes Durchgangsheim einlieferten, obschon Helen ihn liebend gern zu sich genommen hätte. Das kommt nicht in Frage, sagte die grosse Eindrückliche, dieser Junge muss erst einmal unter die Leute, unter seinesgleichen, er muss erzogen werden. Dass jemand in der Nachbarschaft tu­schel­te, der Wunderknabe tauge nicht als Accessoire für ein Hip­s­terpaar, hat Helen mit wundem Herzen weggesteckt. Wie sie so vieles im neuen Job wegstecken muss. Aber das Weg­zu­steckende liegt hier näher bei der Condition hu­maine als das willfährig Falsche, die kalkulierte Heuchelei im Wan­delgang der Politik.

Und die Schuhe? Sie sind, und das ist Helens winziger Triumph, nach den fruchtlosen Aktionen mit dem Jungen ins Durchgangsheim gegangen. Als Helen ihn nämlich dar­auf ansprach, äusserte er sogar einen ganzen französi­schen Satz. Er sagte: Les souliers, vous savez, c’est génial avec.

Zwischenhalt:
Der ökologische Fussabdruck

Beni: Hört, hört, du fliegst also noch? Predigst uns zwar die 1000-­­ Watt-Gesellschaft, bist aber ein Umweltsünder der übelsten Sorte?

Mike: Sachte, mein Freund. Ich hab zwar meine Prinzipien, doch ein Missionar war ich nie. Und wenn einer wie ich alle zwei Jahre mal den Flieger nimmt, brauchst du nicht gleich Schaum vor dem Mund zu kriegen.

Beni: Klar, jeder hat da doch seine kleine Ausweichstelle, alle haben ihre Ausrede, und so ändert sich nichts. Weisst du, dass du beinahe ein Jahr lang täglich nach Paris pendeln kannst, um einen einzigen Langstreckenflug zu kompensieren?

Mike: Was soll diese doofe Aufrechnung, ich will nun mal nicht nach Paris, ich will, ach was. Und ist dir eigentlich klar, dass es mit­t­lerweile ein Ammenmärchen ist, dass der Flieger der Luftverpester Nummer eins ist?

Der andere schüttelt den Kopf: Es geht nicht um den Sprit, es geht um die Erhitzung der Atmosphäre, die der Flieger mit seinen Kondensstreifen anfacht, die sind das Problem.

Der Freund gluckst: Dir kann man doch alles weismachen, du glaubst ja auch an den Weihnachtsmann, Beni. Weisst du was? Ich denke, WIR sind das Problem. Wir selber. Und das lösen wir nicht mit Google Wissen, oder hast du’s von Wikipedia?

Beni: Du willst einfach nichts dazulernen, nicht wahr.

Mike: Mach mal halblang, Beni. Wenn du’s genau wissen willst, ich hab mein Auto verschenkt. So eine Grosstat würde ich kaum von dir verlangen, aber ein wenig Eindruck schinden, mein Freund, das sollte sie schon.

Beni: Mmmhhh.

Mike: Bist doch kein Fundi, Beni, hey. Früher warst du doch ein Verfechter der Widersprüche. Dialektik, Mann, das ist nach wie vor angesagt.

Beni: Das ist doch reiner Alt-Achtundsechziger-Kack, einer wie du sollte doch endlich erwachsen werden und den Tatsachen ins Auge blicken.

Mike: Von wegen Tatsachen, mein Freund, die nächste, die mir einfällt, ist deine Zweitwohnung im Engadin. Das möchte ich einfach feststellen, ohne den Zeigefinger zu erheben.

Der Freund sagt missmutig: Die war Karins Wunsch, nicht meiner. Ausserdem planen wir, sie abzustossen, weil wir zu selten dort sind. Du siehst, ein Ansatz zur Besserung, Mike. Ich weise ausserdem darauf hin, dass die Wohnung im Vextal liegt, wo ausschliesslich gewandert wird.

Der andere, ärgerlich: Das Wandern ist des Müllers Lust. Klingt beschissen. Das Wandern ist die Alibiübung der Happy Few.

Beni: Hörst du mir eigentlich zu?

Mike: Ich höre, aber dein Ton gefällt mir nicht.

Von wegen Wandern. Nach dem Vextal und dem Piemont folgt dann der Himalaya-Trek, die Müllhalde der europäischen Naturliebe, da sind wir dann ganz unter uns.

Beni: Du fährst die billige Tour, wenn du den Spiess einfach umdrehst. Und ich nehm sie dir nicht ab, Mike. Dein Gehabe klingt nach Neid. Seit deiner Scheidung bist du ein Sauertopf. Erhebst dich über alles, was nicht aus der linken Retorte stammt.

Mike: Asche auf mein Haupt. Ich werde Abbitte leisten, indem ich zu Hause bleibe und mich nicht mehr rühre, bis der Sensenmann kommt.

Beni: Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid. Such dir doch endlich eine Freundin, Mike. Die wird dich auf bessere Gedanken bringen.

 

Mike: Nun sind wir genau an dem Punkt, den ich vermeiden wollte. Wenn auch du mit den Wölfen heulst.

Beni: Ich heule nicht, ich rate dir als Freund.

Mike: Siehst du mich etwa in Thailand, bei den Eurogreisen im Mangrovenbordell? Ganzkörpermassage als Demenzprävention, alles inklusive. Sorry, aber dafür bin ich noch nicht alt genug.

Beni: Mit dem Flieger hab ich nicht den Bumsbomber gemeint, vorhin.

Mike: Dein Wohlwollen ist schwer erträglich, weisst du. Wie hiess noch der Spruch der Achtzigeraktivisten? Du hast keine Chance, also nutze sie. Sehr konstruktiv.

Beni: Komm schon, du weisst genau, was ich meine. Auch die Jungen gehen auf Parship.

Eine Pause entsteht. Dann sagt Beni: Überhaupt. Warum kommst du eigentlich nicht mehr zu uns? Karin sorgt sich um dich.

Mike: Das glaube ich kaum. Sie ist ja noch fanatischer als du. Das letzte Mal hat sie mir ordentlich den Kopf gewaschen.

Beni: Komm jetzt, gehen wir einen heben, das bessert deine Stimmung.

Mike: Nur unter einer Bedingung.

Beni: Und die wäre?

Mike: Themawechsel. Ich habe nämlich schon gebucht.

Beni: So sag schon, wo geht’s hin?

Mike: Ich gestehe, es geht zum Kite-Surfen nach Costa Rica.

Beni: Du wirst es kaum glauben, das finde ich klasse. Ich meine, für dich.

Mike: Nun wird’s Tag, Beni. Übrigens kommt Noah, dein grüner Gewährsmann, auch mit.

Beiläufig, dann hin und weg

Ihr kennt nicht die Stunde, nicht den Tag. Der Bibelvers schlittert aus der Kindheitsschublade, wenn ein Tod mich überrascht. In diesem Fall war er ein Abgang, so schrecklich wie das Wort. Nicht dass er mich an einen Fötus erinnert hätte, der in der Kloschüssel sein Ende fand, ein grausliches, jedoch bekanntes Bild, während dieser Ab­gang zu keinem Bild fand und mir der kalte Schweiss ausbrach, als ich davon erfuhr.

Die Umstände nannten die anderen «verblüffend» oder «ungewöhnlich» – was für eine Verharmlosung, ich habe sie noch nicht schlucken können, geschweige denn verdauen. Obschon es jetzt genau achtundzwanzig Tage her ist, seit ein Sarg aus dem Hause getragen wurde. Und wir eine Woche später an einem Gemeinschaftsgrab standen, peinlich berührt von den Floskeln, die darauf tropften, dann heftig niedergingen und prasselten, als sei eine Bestattung ein von Meteo Schweiz ausgelöstes Gewitter.

Haben wir denn ein Wir? Seit diesem Todestag gibt es, der Not gehorchend, eine Hausgemeinschaft, die sich regelmässig in der Wohnung von Claire trifft, Claire Honold, um die es geht. Es wäre in ihrem Sinne, schlug jemand vor, und jemand ergänzte: im Gegensatz zu einer Abdankung, die sie selber wohl dankend abgelehnt hätte. Aber irgendwie muss der Mensch ja in die Erde zurück, aus der er kommt. Die Hausbewohner, das darf ich wohl verallge­meinern, sind dankbar, dass Sonnenmoser, unser Hauswart, die notwendigen Massnahmen traf und versprach, die anfallenden Formalitäten zu erledigen. Auch willigte er ein, mit der Meldung des Todesfalls an die Hausverwal­tung der zuständigen Immobilienfirma zuzuwarten, es schien auch ihm ein Bedürfnis, unserer Hausgenossin zu gedenken, und zwar dort, wo sie gelebt hatte.

Wir treffen uns also noch in der Aura, die Claire ausstrahlte, um herauszufinden, was geschehen ist, und was vorher geschah in einem Leben, von dem wir allem Anschein nach keine Ahnung haben. Wir knabbern Salznüsschen und fahnden nach dem Grund, warum eine lebensfrohe, lebenstüchtige, emsig Sudoku-Lösende und dem Backgammon-Brett frönende, kurzum eine mit allen Fasern dem prallen Diesseits zugewandte Endsiebzigerin plötzlich Schluss macht. Im kommenden Juni wäre sie achtzig geworden, und ich hatte mir schon über eine Geburtstagsparty Gedanken gemacht.

Das Fläschchen, das war der Angelpunkt.

Wir standen im Treppenhaus und nickten uns zu. Er, Sonnenmoser auf dem Absatz unter mir, bündelte Zeitungen, während ich mit zwei vollen Tragtaschen nach oben schoss, weil ich fürchtete, der Mann würde ausposaunen, was seit gestern in unserem Haus umging: der Rumor. Ein Rumor ist gravierender als ein Gerücht, unbedingter als jede Vermutung. Ein Rumor hat die Möglichkeitsform getilgt; er weiss schon, wie es war.

Gestern nämlich hat Palowitsch den Verdacht ge­­äussert, dass Claires Tod unter Umständen auf Fremdein­wirkung zurückzuführen sei. Obschon Sonnenmoser, der ehemalige Anwalt, ordnungsgemäss die Polizei orientiert und den diensttuenden Notfallarzt hat kommen lassen, ist bisher kein Verdacht gefallen, es könnte etwas faul sein an diesem plötzlichen Hinschied der geschätzten Hausgenossin.

Erst jetzt bricht Alarm aus, es ist, als sei eine Landmine geplatzt, ich bin vom Stuhl geschnellt, Norbert verzog das Gesicht, und Ingrid zeigte mit Fingern auf ihn: Palowitsch, Sie sind eine Kassandra. Plötzlich avancierte dieser Zeitgenosse undefinierbaren Alters, der uns bisher wie ein Faktotum vorgekommen war – als einer, den die Weltgeschichte vorübergehend bei uns parkiert und dann vergessen hat –, zum Ankläger gegen uns. Der Mann ist ein vom KGB, dem berüchtigten sowjetischen Geheimdienst, drangsalierter Tscheche, der nach dem gescheiterten ­Prager Frühling bei uns gelandet ist und sich mit Gele­genheitsjobs durchbringt, obschon er in seiner Heimat ein ge­suchter Diplomingenieur war und mehrere Sprachen spricht. Er habe jede Illusion über die wahren Absichten der westlichen Technokratie verloren, liess er einmal fallen, in einem dieser angekauten Gespräche, die abrupt vor der Wohnungstür enden. Der erfahrene Mann ist nicht zu unterschätzen, das wissen wir.

Was fällt dir ein, Palowitsch, wie kommst du darauf? So­gar Sonnenmoser, der mit ihm auf Du und Du ist, scheint verärgert über die unerwartet eintreffende Komplikation, und Rachel äussert verdrossen: Herr Palowitsch, wie können Sie bloss so unverantwortlich daherreden, jetzt, da doch alles vorbei ist.

Nichts ist vorbei, moine Dame, röin gar niichts. (Er plat­­­zierte die Dehnungen des tschechischen Akzents geniesserisch.) Bevor wir den Inhalt des Fläschchens kennen, das auf dem Beistelltisch gefunden worden ist. Von wem? Von Norbert, the Nerd, wie ich ihn heimlich nenne. Was habe der Herr Remscheid mit diesem Fläschchen angestellt?, fragt der Tscheche in die Runde. Das habe der diensttuende Arzt mitgenommen. Norbert klingt dumpf. Das Fläschchen, möine Damen, möine Herren, muss schleinigst in die Gerichtsmedizin.

Der Tscheche ist furchteinflössend und Ingrid empört. Hier hört der Spass auf, Herr Palowitsch, die Sitzung ist beendet. Doch alle bleiben hocken und beaugapfeln den verstörten Norbert. Er scheint sich offenbar schuldig zu fühlen, denn Palowitsch hat seinem Verdacht gleich noch einen Vorwurf hinterhergeschickt: Der Herr Remscheid hätte sofort die Mordkommission verständigen sollen, damit sie die Wohnung versiegle.

Mordkommission? Was für ein Quatsch. Dieser Mann leidet an Paranoia, da sind wir uns einig. Die Polizei war da und hat ihre Pflicht getan, sodass wir Claire beerdigen konnten. Die Polizei heisst jetzt Sicherheitsbehörde und hat ihr bedrohliches Image verloren.

Bis an jenem Mittwoch in vier Monaten, wenn eine Schar bewaffneter Beamter vor unserer Haustüre stehen wird. Doch ich greife vor.

Jede Woche jemand, den man gekannt hat, daran ge­wöhnt man sich, aber das, das ist … Der angebissene Satz drang von unten herauf und blieb in den frischpolierten Eisenstäben des Geländers stecken.

Die Fortsetzung ist unverständlich, ich bekomme ledig­lich mit, dass Sonnenmoser über den Todesanzeigen brütet, bevor er die Zeitungen schnürt. Dann wird es un­ten wieder lauter: Da klinge so vieles falsch, all das Sentimentale, Kitschige, manchmal auch Neckische, das die Verbli­chenen beschäme, statt sie zu ehren, und die Forderungen, die daraus folgten, mit Angabe des Spendenkontos, die gehörten verboten, denn das grenze an Nötigung und verbreite bloss unangebrachte Schuldgefühle. Unser Hauswart erwartet keine Anwort von mir, er führt ein Selbstgespräch.

Ich beeile mich, nach oben zu kommen, während der Treppenhausmonolog ins Philosophische pendelt: Das Leben ist die Krankheit zum Tode, haben Sie das gewusst, Frau Brüderlin? Ein Schlurfen, dann fällt die Türe ins Schloss.

Ich bleibe stehen. Es berührt mich seltsam, dass er mich beim Nachnamen nennt, für gewöhnlich heisse ich Irma, das ist die handfeste Schrumpfung meines Taufnamens Irmelda, und weil kein Mensch in unsern Breitengraden Irmelda heisst, bin ich zufrieden mit Irma, das ist das unbeschriebene Blatt vom fünften Stock rechts. Dass ich einmal andere Ambitionen hatte, als Webdesignerin einer Import / Export-Firma zu werden, hat meine Ellbogen nicht gespitzt. Ich bin nicht tüchtig, für andere erschreckend genügsam und habe beruflich keinen Ehrgeiz. Jedenfalls nicht in dieser Branche, wenn schon, dann hätte ich ganz neu anfangen müssen, die Matura nachholen und Tierärztin studieren wollen.

Claire Honold, dritter Stock links, war das Zentrum des Hausfriedens, das muss ja jetzt ins Präteritum, dachte ich, seltsam, Claire Honold ins Präteritum zu setzen, gegenwärtiger als Claire Honold konnte man gar nicht sein. Seit das Unbegreifliche geschah, sind meine Sinne getrübt, ich halte mich an Floskeln: Wir pflegen einen guten Umgang, auch eine dieser lavierenden Redensarten, Tode verbinden sich mit Redensarten, wahrscheinlich wegen der Begriffsstutzigkeit, die unsere Kultur dem Definitiven entgegenbringt. Anderswo ist das anders, doch bei uns ist der Tod nach wie vor die grösste Beleidigung für die am ewigen Leben herumwerkelnden Life Sciences, vorab die Humangenetik.

Ich sitze den ganzen Abend steif auf meinem Stuhl und werde die Vorstellung nicht los, dass jemand kam, um ihr den letzten Wunsch zu erfüllen. War es wirklich ein Wunsch? Wenn nicht, ist dieser Jemand ein Mörder und hat Zutritt zu unserem Haus. Es fällt mir nicht auf, dass ich an einen Mann denke, obschon doch der Rumor die Frauen als Giftmischerinnen will.

Das nächste Treffen verläuft behutsamer, wir sind jetzt auf der Hut. Palowitsch glänzt durch Abwesenheit. Wir seien ihn ein für alle Mal los, meint eine immer noch verdrossene Ingrid. Sie hat ihn zur Rede gestellt, und die Antwort war unmissverständlich, er hält uns für ein naives Kaffeekränzchen. Es sei ihm bisher nicht bewusst gewesen, wie konfliktscheu die Schweizer seien, sie hätten eben keine Ahnung vom Leben draussen.

Wir sehen uns an und nicken ohne Schuldbewusstsein. Und bewegen uns auf leisen Sohlen in der Wohnung, in der unsere Nachbarin über vierzig Jahre zu ­Hause gewesen ist. Sonnenmoser hat sich auf den Eames Chair ge­pflanzt, was mir pietätlos vorkommt. Dort nämlich hat Norbert sie gefunden. Norbert, the Nerd. Dieser N. Remscheid, siehe Briefkastenschild, ist schon geraume Zeit mein Etagennachbar, aber ausser einem fadenscheinigen Hallo beim Kommen und Gehen verbindet uns nichts.

Als sei sie eingenickt, ihr Kopf bloss ein wenig zur Seite geneigt, die Augen auf Halbmast, meint er, unpassend salopp für die prekäre Situation, denke ich. Und nun? Sonnenmoser erhebt sich, als hätte er den Fauxpas gewittert, bleibt aber mitten im Raum stehen, mit den hängenden Armen der Verlegenheit.

Nachdem Ingrid einen Apéro aufgetischt hat, setzen wir uns an den Esstisch, sitzen dort wir die Ölgötzen und starren auf den Eames Chair, der plötzlich sehr allein ist, ohne die Designernoblesse, die seinen Ruhm begründet. Die gesamte Einrichtung hat ihren Glanz eingebüsst, stilvoll und elegant ist sie uns erschienen, doch ohne das Fluidum der Bewohnerin ist sie atmosphärisch taub, wie viele der mondänen Lofts, wenn Leute sie bewohnen, die nichts als Geldverdiener sind.

Einsilbiges Nüsschenknacken, niemand rührt an Palowitschs Vermutung. Weil sich wohl niemand den Konsequenzen stellen will, nähme man ihn ernst. So halten wir uns ans Obenhin, tändeln herum, haushalten mit dürren Fakten, jemand meint, sie sei als Dozentin sehr beliebt gewesen. Claire war Linguistin und hat an der Uni gelehrt. Einen Mann hat man nie in ihrer Begleitung getroffen, murmelt Sonnenmoser, und es scheint, als habe er sich daraus eine Chance für sich selber gezimmert, was Ingrid mit einem schnöden «was du nicht sagst» quittiert. So geht das, aufgelockert von Plänkeleien, um das Unabänderliche zu übertünchen, es ist nach wie vor zu früh, um es wirklich zu begreifen.

Und dann landen wir doch wieder beim springenden Punkt: dass es kein natürlicher Tod gewesen ist. Wie konnte sie sich mir nichts, dir nichts das Leben nehmen, ohne Begleitung, ohne medizinische Betreuung und ja, das ist der eigentliche Skandal, ohne uns, die wir uns für ihre Freunde hielten? Es war uns nicht aufgefallen, dass sie häufiger um eine Gefälligkeit bat, es lag im Rahmen der üblichen Dienstbereitschaft, wenn wir bei ihr eine Glühbirne ersetzten oder einen Getränkeharass die Treppe hochhievten, die Stufen sind steil wie in einem hollän­dischen Grachtenhaus, und es leuchtet ein, dass auch eine kerngesunde Demnächstachtzigerin das nicht mehr schafft, selbst wenn sie so grazil und wendig wie Claire war. Ich hatte schon erwogen, ob der Einbau eines Lifts das passende Geschenk einer Hausgemeinschaft zu einem Achtzigsten sei, doch der Kostenvoranschlag der Firma, die ich konsultierte, hat meine Geschenkidee ins Reich des Unerschwinglichen spediert.

 

Kerngesund? Das frage ich mich jetzt, da es zu spät ist. Moniert Ingrid, die neben mir sitzt und ein Kleenex ums andere zerkrümelt, was ihr selber nicht auffällt, bis ich ihr die Papierfetzen aus der Hand nehme.

Norbert referiert weiter. Das leere Glas stand neben dem Fläschchen auf dem Beistelltisch, er deutet mit seinen geschniegelten Fingern, an denen nicht weniger als drei Ringe sitzen, darauf: Es handelt sich um ein Eileen-Gray-Tischchen, echt und keine Kopie, wie mir Claire stolz eröffnete, sie besass einen ausgesuchten Geschmack. Formelhaft heischt der Mann um Aufmerksamkeit, sodass Sonnenmoser ihn unterbricht: Wissen wir, wissen wir, doch das bringt uns nicht weiter.

Seine gefurchte Stirn spricht von echtem Gram, er war Witwer und hatte, wie schon vermutet, wahrscheinlich ein Auge auf sie geworfen. Vor zwei Jahren war er in Rente ge­gangen, wie die Deutschen sagen, das tönt in meinen Ohren menschlicher als das Damoklesschwert der Pensionierung. Diese gleicht in meinen Augen fast schon dem sozialen Tod, während ein Rentner, eine Rentnerin immerhin noch öffentlich auftritt, und sei es nur als Fussgängerin, welche täglich die überzähligen Wasservögel im Parkweiher füttern geht. Trotz des am Ufer angebrachten Emailleschildes, das Vögelfüttern untersagt, nimmt man es ihr nicht übel.

Sonnenmoser ist fern davon, Vögel zu füttern, er gibt sich sehr beschäftigt, seit er die Anwaltskanzlei seinem Sohn übergeben hat. Er befasse sich mit einer Publikation über strafrechtliche Sonderfälle, bemerkt er ausweichend, als ich ihn auf seine jüngste Tätigkeit anspreche. Es ist mir aufgefallen, dass er sich häufiger im Hausgang als in seiner Wohnung aufhält; es vergeht kein Tag, an dem ich ihn nicht im Treppenhaus oder im Entrée antreffe: Ob er vielleicht Agent der NSA geworden sei? Meine spasshafte Anspielung bringt ihn unnötig in Wallung: Was fällt Ihnen ein, mir so zu kommen, Irma? Er wirkt echt aufge­bracht, sodass ich beteuere, ach was, das war doch bloss ein markiger Spruch.

Die Versammlung löst sich auch diesmal ergebnislos auf. Ich beeile mich, nach oben zu kommen. Und vernehme wieder ein Grummeln. Sonnenmoser grummelt. Vermutlich argwöhnen sämtliche Hausbewohner dasselbe wie ich und fragen sich, weshalb ein mässig erfolgreicher Rechtsanwalt nach der Pensionierung Hauswart wird. Ob sich dahinter nicht doch eine Spitzeltätigkeit verbirgt? Plötzlich höre ich von innen Claires Stimme: Irma, du phantasierst, halte dich an das, was du siehst. Was ich sehe, gibt Anlass zu einer banaleren, wenn auch traurigen Erklärung: dass Sonnenmoser einsam ist und sich von seinem Job engere Kontakte im Haus verspricht.

Beim nächsten Treffen verlangt Rachel, die bisher ge­schwiegen hat, eine detaillierte Chronologie jenes fatalen Abends. Norbert räuspert sich: Natürlich suchte ich nach einer Notiz, nach einem Abschiedsbrief, doch es gibt nicht die geringste Spur, die auf eine finale Absicht deuten würde. Norbert hebt das Kinn, er ist gewappnet, er will sich kei­nem Vorwurf mehr aussetzen. Beschwichtigend meint er: Sie sass so friedlich im Stuhl. Bei Gewaltanwendung wären Striemen oder Hämatome sichtbar geworden. Das wisst ihr doch aus dem «Tatort».

Machen Sie sich nicht lächerlich, raunzt Sonnen­moser – er verhehlt seine Abneigung gegen den Deutschen schlecht –, ich schliesse nicht aus, dass jemand da war, der ihr diese mörderische Tinktur untergejubelt hat. Sie hören deutlich, Herr Remscheid, dass ich von Sterbehilfe rede, und zwar von aktiver Sterbehilfe, die ja nach wie vor verboten ist, schockierend ist das. Eins steht daher fest: Exit kann es nicht gewesen sein, weder Exit noch Dignitas, die würden sich hüten, eine solche Nacht-und-Nebel-Aktion zu veranstalten.

Sonnenmoser pflegt seine Empörung etwas pene­trant, wie mir scheint, während Ingrid in Lethargie versinkt. Rachel gibt sich zurückhaltend, sagt dann träumerisch, sie wollte uns nicht belasten und vor allem jeden Aufruhr vermeiden. Gehen, den letzten Gang, einfach so, das wünsche ich mir auch.

Du? Gehörst du jetzt auch zu denen? Sonnenmoser gerät in Rage. Das nimmt ja überhand, einfach abhauen, ab und durch die Binsen, ohne Rücksicht auf Hinterbliebene. Er schmeisst den Satzbrocken im schwer verständlichem Prättigauer Dialekt von sich – das ergibt eine kleine Fluchtdistanz zu Norbert, dann folgt in schnarrendem Schweizerhochdeutsch das Fazit seiner Moralpauke: Es ist eine Schande, dass man uns Alte so einfach entsorgen kann, mir nichts, dir nichts. Niemand reagiert, obschon Ingrid wieder zu nesteln anfängt, diesmal an einem losen Knopf ihres Jeansjäckchens.

Es war ihr gutes Recht, beschwichtigte Rachel. Und aus­serdem, Arthur, willst du dich im Ernst als Hinterblie­benen bezeichnen? Der vertrauliche Ton zwischen den beiden überrascht mich. Haben die zwei ein geheimes Einvernehmen? Ich mustere die Runde und stosse auf einen verdrossenen Norbert. Er stiert in sich hinein, dann fallen bittere Worte: Ich hab sie gemocht, sie hat mir viel bedeutet, wenn ihrs genau wissen wollt. Rachel nickt ihm zu. Während unser überqualifizierter Hauswart finster auf diese roboterhafte Kreatur schaut, die sich daran macht, die Menschwerdung zu vollziehen. Nun wird er mir allmählich sympathisch, und ich frage unbedacht impulsiv: Hast du sie denn geliebt?

Ein betretenes Schweigen folgt, augenblicklich bereue ich meine Indiskretion, während Ingrid vom Stuhl schnellt.

Du benimmst dich voll daneben, Irma, mässige dich. Es geht hier um Klarheit, und das heisst um die Analyse des Vorgefallenen.

Nein, entgegnet Rachel, es geht hier um eine Gedenkstunde für eine Nachbarin und – hörbarer Leerschluck – eine Freundin. Ändern können wir sowieso nichts mehr. Sie ruhe in Frieden.

Ingrid begehrt auf: Ich will wissen, was abging und wie ihr Zustand in Wirklichkeit aussah. Vielleicht war sie ja todkrank und hatte eine Vertraute, die kam, um sie zu er­lösen.

Davon hätten wir Kenntnis gehabt. Das ist wohl, was wir alle denken, aber niemand wagt es zu äussern. Die Vorsicht vor neuem Verdacht ist mit Händen zu greifen. Rachel wendet sich nun beinahe zartfühlend an die Er­zürnte: Liebe Ingrid, das wollen wir alle, mehr davon wissen, ich meine, wir alle hätten gern mehr von ihr gewusst. Nun ist es zu spät dafür.

Hat jemand den Palowitsch gesehen? Ist er durchgebrannt? Durchgebrannt, wohin sollte er bloss durchbrennen, be­merkt Ingrid, und ich bereue, dass wir den Tschechen so ungastlich behandelt haben. Vielleicht hat er doch was zu befürchten, seit diese erbärmliche Durchsetzungsinitia­tive im Umlauf ist. Das kommt von Norbert, the Nerd. Und alle schauen auf. Mein Etagennachbar hat sich gewandelt.

Unser Tscheche kommt nicht mehr, nachdem ihr auf ihm herumgehackt habt. Er hat uns ja auch nicht nötig, meint Ingrid, als sässe sie in der eben gegründeten Palowitsch-Partei.

Das ist ja wohl eine Tussy, wenn der nicht mehr verträgt: O-Ton Sonnenmoser, der sich bemüht, souverän zu wirken. Wir vermissen ihn nicht, meint er nun trocken. Ich würde sagen, es geht jetzt um die weiteren Vorkehrun­gen, zum Beispiel, ob wir eine Anzeige aufgeben und was darin steht. Ferner müssen die Angehörigen informiert werden und die Uni benachrichtigt, vielleicht verfasst ja ein Kollege einen Nachruf auf Claire. Jemand muss das Prozedere koordinieren, und dieser Jemand bin ich. Oder ich, erwidert Norbert sachlich, aber bestimmt. Ich stand ihr wahrscheinlich am nächsten. So? Fehlt noch, knurrt Sonnenmoser, dass Sie nun den grossen Trauernden markieren. Norbert schenkt ihm einen vernichtenden Blick. Sonnenmoser neigt zur Übertreibung wie die meisten Menschen, wenn sie von einer Situation überfordert sind.

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