Tasuta

Neu-Land

Tekst
iOSAndroidWindows Phone
Kuhu peaksime rakenduse lingi saatma?
Ärge sulgege akent, kuni olete sisestanud mobiilseadmesse saadetud koodi
Proovi uuestiLink saadetud

Autoriõiguse omaniku taotlusel ei saa seda raamatut failina alla laadida.

Sellegipoolest saate seda raamatut lugeda meie mobiilirakendusest (isegi ilma internetiühenduseta) ja LitResi veebielehel.

Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

– Gut- Sie schlugen die Richtung nach dem Stadtgarten ein: Markelow und Ssolomin gingen voran, Neshdanow folgte ihnen.

Achtzehntes Capitel

Es war ein seltsamer Zustand, in welchem sich Neshdanow befand. In den letzten zwei Tagen hatte er so viel erlebt, so viele neue Personen gesehen . . . Zum ersten Mal in seinem Leben war er in ein nahes Verhältniß zu einem jungen Mädchen getreten, das er, wie es schien, innig liebte; er war Zeuge der Vorbereitungen zu einem Unternehmen, dem er wahrscheinlich alle seine Kräfte widmen mußte. Und was fühlte er nun? – Freute es ihn? – Nein. – Schwankte er? Fürchtete er sich? – O nein, gewiß nicht! War seine Seele wenigstens in jener ganz besonderen, erhebenden Erregung, welche den Menschen zwingt, im Vorgefühl des nahe bevorstehenden Kampfes in die erste Reihe der Streitenden zu treten? – Auch das nicht! Glaubte er endlich überhaupt an dieses Unternehmen? Glaubte er an seine Liebe? – Verwünschte Aesthetik! Verwünschter Skeptizismus! – flüsterten tonlos die Lippen. Woher diese Müdigkeit, woher selbst diese Unlust zum Reden, so sehr man auch schreit und außer sich geräth? Was ist das für eine innere Stimme, die er dadurch berauben will? – Aber Marianne, diese gute, treue Freundin, diese reine, leidenschaftliche Seele, dieses herrliche Mädchen – liebt sie ihn denn nicht? Ist es nicht ein großes Glück, daß er sie gefunden, daß er ihre Freundschaft, ihre Liebe erworben? Und die beiden Gestalten, die vor ihm gehen, dieser Markelow, dieser Ssolomin, den er noch wenig kennt, zu dem es ihn aber so mächtig hinzieht, – sind sie denn nicht auch tüchtige Typen russischen Wesens, russischen Lebens? Und mit ihnen bekannt, befreundet zu sein – ist das nicht Glück? – Woher denn dies unbestimmte, unklare, nagende Gefühl? Was will, was soll diese Wehmuth – Wenn Du ein Gedankenmensch bist, ein Melancholiker – flüsterten wieder die Lippen – dann, zum Teufel, bist Du auch kein Revolutionär! Reime dann ohne Ende, und verkomme, tändle mit Deinen kleinlichen Gedanken und Gefühlen, und wühle in verschiedenen psychologischen Erörterungen und Feinheiten – dann aber bilde Dir nicht ein, daß die krankhafte Erregung Deines Wesens, daß Dein nervöser Trotz männlicher Zorn sei und tiefempfundener Haß eines überzeugungsfreudigen Menschen!– O Hamlet, Hamlet, Du Dänenprinz, wie soll man Deinem Schatten entfliehen, wie aufhören, Dir in Allem nachzustreben, sogar in der schmachvollen Wollust der Selbstpeinigung!

– Alexis! Freund! Rußlands Hamlet! – ertönte plötzlich eine bekannte scharfe Stimme – gleichsam als Wiederklang aller dieser Gedanken. – Bist Du’s, seh’ ich recht?!

Neshdanow schaute auf und erblickte Paklin in strohgelber Sommerkleidung, einen großen, mit einem himmelblauen Bande umschlungenen, in den Nacken gedrückten Strohhut auf dem Kopf, in Lackstiefeln – und ohne Halstuch!

Er näherte sich Neshdanow und ergriff dessen Hände.

– Erstens, – begann er, – obgleich wir in einem öffentlichen Garten uns befinden, muß ich Dich doch nach alter Sitte umarmen und drei Mal küssen . . . eins!t zwei! drei! – Zweitens, wisse, daß wenn ich Dich nicht heute erblickt, Du morgen mein Angesicht geschaut hättest, – dieweil mir Dein Aufenthaltsort bekannt ist und ich absichtlich in diese Stadt gekommen bin . . . wie das geschehen ist – davon später; drittens, stelle mich Deinen Freunden vor. Melde mir kurz und bündig, wer sie sind – und ihnen, wer ich bin – und genießen wir dann die Freuden des irdischen Lebens!

Neshdanow leistete dem Wunsche seines Freundes Folge, stellte die Herren einander vor und fügte bei einem Jeden kurz hinzu, wer er sei, was er treibe u.s.w.

– Prächtig! – rief Paklin, – jetzt aber gestattet mir, Euch den Blicken der Menge, die übrigens nicht vorhanden ist, zu entziehen, und zu einer einsamen Bank zu führen, auf welcher ich oft zu sitzen und in melancholischen Augenblicken die Natur zu bewundern pflege. Es ist etwas Herrliches, was das Auge da schaut: das Haus des Gouverneurs, zwei bunte Schilderhäuschen, drei Gendarmen und keinen einzigen Hund! – Wundert Euch nicht über die Reden, die ich im Munde führe, und die trotz meines Bemühens Euch kein Lächeln abzuzwingen im Stande sind! – Wie meine Freunde behaupten, repräsentire ich ja den russischen Witz . . . daher hinke ich wohl auch!

Paklin führte seine Freunde zur »einsamen Bank« auf welche sie sich niederließen, nachdem Paklin zuerst zwei alte Weiber verjagt, die dort saßen. Die jungen Leute begannen ihre Gedanken auszutauschen.« . . .

– Halt! – rief plötzlich Paklin, sich zu Neshdanow wendend, – ich muß Dir doch erklären, wie ich hierhergekommen. Du weißt, daß ich meiner Schwester wegen in jedem Sommer aus St. Petersburg fortziehe; als ich, nun erfuhr, daß Du auf einem Gut in der Nähe dieser Stadt, fiel es mir ein, daß ich hier Verwandte von Seiten meiner Mutter habe; zwei ganz absonderliche Subjekte, Mann und Frau! Mein Vater war ein Kleinbürger – meine Mutter aber eine Adlige. (Neshdanow wußte das Alles recht gut, Paklin hatte das aber wegen der zweien Anderen gesagt, um mit seiner väterlichen Abstammung zu prahlen.) – Schon seit langer, langer Zeit fordern sie uns auf, sie heimzusuchen! – Halt! denke ich . . . Das paßt vortrefflich! Es sind gute, herzensgute Menschen, die Schwester wird ein Leben bei ihnen haben, wie im Paradiese – was brauch’ ich mehr? Da kamen wir denn hergeflogen. Und ich sage Dir: so gut haben wir es hier, so gut . . . es ist nicht zu beschreiben! – Aber was das für Menschen sind, was für Menschen! – Ihr müßt sie durchaus kennen lernen! – Was thut Ihr hier? Wo werdet Ihr speisen? Und weshalb seid Ihr denn eigentlich nach S. gekommen?

– Wir essen heute bei einem gewissen Goluschkin . . . Es existirt hier ein Kaufmann dieses Namens, – antwortete Neshdanow.

– Um welche Zeit?

– Um drei Uhr.

– Und Ihr seid bei ihm wegen . . . wegen . . .

– Paklin blickte auf den wie gewöhnlich lächelnden Ssolomin, dann aus Markelow, dessen Mienen immer finsterer wurden . . .

– Hör’ Alex, sag’ ihnen doch . . . mach’ irgend ein Freimaurerzeichen, damit sie wissen, daß sie keine Umstände zu machen brauchen . . . Ich gehöre ja auch zu Euch . . . zu Eurem Verein . . .

– Goluschkin gehört auch zu uns, – bemerkte Neshdanow.

– Vortrefflich! – Wir haben bis zum Mittag noch sehr viel Zeit – hört mal: kommt zu meinen Verwandten!

– Bist Du von Sinnen? Wie können wir . . .

– Sei nur ganz still, das ist meine Sache, – unter- brach ihn Paklin. – Ich sage Dir: eine Oase in der Wüste! – Keine Spur von Politik, von Literatur! nichts findet dort Eingang, was modern ist! Das Haus, in welchem sie wohnen, ist klein, dickbäuchig, wie Du jetzt nirgends ein zweites sehen wirst; die Luft in demselben ist – antik; die Menschen – antik; mit einem Wort Alles, Alles – antik – Zeitalter der zweiten Katharina – Puder, Reifrock, achtzehntes Jahrhundert! – Die Eheleute selbst denke Dir: alte uralte Gestalten, aber ohne Runzeln im Gesicht; ferner rund, klein, weich, sauber, – echte Inséparables; dabei bis zur Dummheit gutmüthig, bis zur Heiligkeit, unendlich gut! Freilich sagt man, daß »unendliche« Güte mit ungenügender Ausbildung des sittlichen Gefühls im Menschen in Verbindung stehen soll . . . Ich verstehe jedoch nichts von diesen Feinheiten und weiß nur, daß meine Alten – überaus herzig sind! Kinder haben sie niemals gehabt. Die »Glückseligen« —so nennt man sie in der Stadt. Sie gehen immer gleich gekleidet und tragen gestreifte lange Morgenröcke und es ist das Zeug, aus welchem diese Kleider gemacht sind, so fest, wie Du es jetzt nirgends mehr findest. – Sie sehen einander zum Verwechseln ähnlich – nur daß die Eine eine Haube auf dem Kopfe hat, der Andere aber eine Kappe – doch eben so besetzt, wie die Haube, wenn auch ohne Schleife. Wenn diese Schleife nicht wäre, könnte man sie nicht unterscheiden, da auch beim Mann das Kinn eben so glatt ist, wie bei der Frau. Und sie heißen: er – Thömchen und sie – Thymchen. – Glaube mir – man könnte Geld zahlen, um sie zu sehen. Sie lieben einander – bis zur Unmöglichkeit; besucht man sie aber, so ist man immer von Herzen willkommen. Und sie sind so freundlich, so zuvorkommend und zeigen auch gleich ihre kleinen Griffe und Kniffe. Nur eins: man darf nicht rauchen bei ihnen; sie sind zwar keine Raskolniki, aber sie haben einen Widerwillen gegen Tabak. . . Wer hat übrigens auch geraucht zu ihrer Zeit? – Dafür haben sie auch keine Kanarienvögel, denn diese Thiere waren damals noch wenig bekannt . . . Und das ist ein großes Glück – nicht wahr? – Nun, gehen wir?

– Ich weiß wirklich nicht, – meinte Neshdanow.

– Halt! ich habe noch Etwas vergessen. – Auch ihre Stimmen sind gleich: wenn man die Augen schließt, weiß man nicht, wer da spricht. Thömchen scheint übrigens mit ein wenig mehr Gefühl zu sprechen. – Ihr rüstet Euch, meine Herren, zu einem großen Werke – es steht Euch vielleicht ein schrecklicher Kampf bevor . . . Solltet Ihr nicht, ehe Ihr Euch in die stürmischen Wogen stürzt, Euch zuerst erfrischen . . .

– Durch ein Bad im stehenden Wasser? – unter- brach ihn Markelow.

– Und wenn auch? – Stehendes Wasser ist es freilich, aber kein unreines, kein faules Wasser. – Es giebt kleine Steppenteiche ohne sichtbaren Zufluß, die trotzdem immer klar bleiben, weil aus den Quellen auf dem Grunde derselben ununterbrochen frisches Wasser emporsprudelt – Solche Quellen sind auch in meinen Alten verborgen – dort, auf dem Grunde ihrer Seele, so klar, so rein . . . Ich sage Euch! wollt Ihr sehen, wie man vor hundert, hundertfünfzig Jahren gelebt hat, so folgt mir unverzüglich. Denn sonst kommt ein Tag und eine Stunde – und für Beide durchaus dieselbe Stunde – und meine Inséparables sind dahin! – und Alles vergeht mit ihnen – das kleine wanstige Häuschen verschwindet – und dort, wo es gestanden, wächst dann, was nach den Worten meiner Großmutter immer an den Stellen zu wachsen pflegt, wo einst Menschenkinder gewandelt: Nesseln, Kletten, Disteln, Wermuth und wilder Ampfer! und selbst die Straße wird nicht mehr sein – und es werden Menschen kommen und werden suchen und werden in Ewigkeit nichts dem Aehnliches finden!

 

– Nun? – rief Neshdanow, – was denkt Ihr, wollen wir gehen?

– Es würde mir ein großes Vergnügen bereiten, sie zu sehen, – antwortete Ssolomin; – es ist jedenfalls höchst interessant, – und wenn Herr Paklin und dafür bürgen will, daß wir Niemandem zur Last fallen, so . . . könnte man wohl . . .

– Seien Sie unbesorgt! – rief Paklin, – die Alten werden außer sich sein vor Entzücken; ich sage Euch, man nennt sie: die Glückseligen! Sie werden uns etwas vorsingen! – Und Sie, Herr Markelow?

Markelow zuckte ärgerlich die Achseln.

– Ich werde doch nicht allein hier bleiben.

Führen Sie uns! Die jungen Leute erhoben sich von ihren Sitzen.

– Was das für ein finsterer Herr ist, – flüsterte Paklin Neshdanow zu, indem er auf Markelow wies: – Johannes der Täufer, der sich an Heuschrecken satt gegessen . . . an Heuschrecken ganz allein, ohne Honig! – Der Andere aber – fügte er, mit dem Kopf auf Ssolomin deutend, hinzu, – das ist ein prächtiger Mensch! Wie sein Lächeln so wunderbar ist. – Ich habe bemerkt, daß nur solche Leute so zu lächeln verstehen, die höher stehen, als Andere – und doch selbst nichts davon wissen.

– Giebt es denn solche Menschen? – fragte Neshdanow.

– Man findet sie zuweilen, aber selten, antwortete Paklin.

Neunzehntes Capitel

Thömchen und Thymchen – Thomas Lawrentjewitsch und Euthymia Pawlowna Ssubotschew – entstammten Beide demselben altadligen Geschlecht und gehörten zu den ältesten Bewohnern der Stadt S. Sie waren Beide sehr jung, als sie sich vermählten, und hatten sich bald darauf, vor langer, langer Zeit, von ihrem Dorfe in das hölzerne, großväterliche Haus an der äußersten Grenze der Stadt zurückgezogen; dieses Haus hatten sie seitdem nicht mehr verlassen und sich auch nie entschließen können, eine Aenderung in ihrer Lebensart eintreten zu lassen. Sie standen gleichsam außerhalb der Zeit, niemals hatte etwas »New modisches« in ihre »Oase« einzudringen vermocht. Wenn sie auch nicht reich waren, so hatten sie doch ihr gutes Auskommen, denn die Bauern brachten ihnen nach wie vor ein paar Mal im Jahre allerlei Provision und Geflügel vom Dorfe; regelmäßig erschien zur bestimmten Zeit der Dorfälteste mit dem Gelde, und einem Paar Birkhühner aus den herrschaftlichen Wäldern, die jedoch längst nicht mehr existirten; er wurde dann auf der Schwelle des Gastzimmers mit Thee traktirt, mit einer Fellmütze und einem Paar sämischledernen Fausthandschuhen beschenkt und schließlich mit Gott entlassen. Das Hausgesinde war gleichfalls unverändert dasselbe geblieben. In alter, gewohnter Weise trat der alte Diener Kalliopytsch, in einem ungewöhnlich dicken Tuchrock mit einem stehenden Kragen und stählernen Knöpfen, täglich um die bestimmte Stunde in’s Zimmer, um seiner Herrschaft in singendem Tone zu vermeiden, daß »der Tisch gedeckt« sei, woraus er dann hinter dem Stuhl seiner Herrin stehend regelmäßig einzuschlafen pflegte. Er hatte die Oberaufsicht über das Buffet – über die »Spezereien, Kardamomen und Citronen«; wenn man ihn aber fragte, ob er nicht gehört, daß die Leibeigenen nun Alle frei wären, antwortete er, daß das Unmöglich, daß es eine Lüge sei; bei den Türken, da herrsche Freiheit, ihn aber hätte der liebe Gott davor behütet. Ein Mädchen, Namens Pusska, von Gestalt eine Zwergin, hatte die Aufgabe, die alten Leute zu unterhalten und zu zerstreuen; während des Mittags aber erschien die alte Bonne Wassiljewna, mit einem großen dunklen Tuch um den Kopf, und erzählte ihnen mit zitternder Stimme allerlei Neuigkeiten: wie Napoleon im Jahre 1812 in Rußland gewesen, wie der Teufel als Antichrist durch die Welt ziehe oder wie man jetzt weiße Mohren entdeckt hätte; – ein anderes Mal theilte sie dann wieder mit nachdenklich-klagender Miene mit, was ihr in der Nacht geträumt und was dieser Traum zu bedeuten habe, – und was ihr die Karten verrathen. Das Haus selbst, in welchem sie wohnten, hatte ein anderes Aussehen, als die übrigen Häuser der Stadt: es war aus Eichenholz gezimmert mit einer Reihe von kleinen Fenstern in Form gleichseitiger Vierecke; diese Fenster waren mit doppelten Rahmen versehen, welche auch im Sommer vorgesetzt blieben. Inwendig aber waren Gastzimmer und Wohnzimmer, Kammern und Stübchen, Korridore und Verschläge, Treppen und Aufgänge u.s.w. Ein schmaler Streifen eingefriedigten Gartenlandes zog sich an der vorderen Seite des Hauses hin, der eigentliche Garten aber lag hinter demselben und war besäet mit kleinen Scheunen und Speichern, Ställen und Kellern, die fast nichts von Werth und Bedeutung enthielten, aber da sie nun ein Mal vorhanden waren, auch unterhalten wurden. Zwei Pferde standen im Stalle, zwei alte, zottige Gäule mit eingefallenem Rücken, von denen das eine – es hieß Nedwiga – so alt war, daß sich auf dem Körper bereits weiße Flecke zu zeigen begannen. Ein Mal im Monat, wenn es hoch kam, wurden sie vor die in der ganzen Stadt bekannte Equipage gespannt, – in Form eines Globus, dessen vorderer Theil herausgeschnitten war; inwendig war dieser Globus mit einem gelben, ausländischen Stoffe voll schwarzer, warzenähnlicher Punkte ausgeschlagen. Die letzte Elle dieses Stoffes mochte in Utrecht oder Lyon zur Zeit der Kaiserin Elisabeth von Rußland verfertigt worden sein. Auch der Kutscher Ssubotschew’s, Namens Perfischka, war ein alter, uralter Greis, der einen Geruch von Fischthran und Theer um sich verbreitete; der lange Bart bedeckte das ganze Gesicht bis zu den Augen, während die Brauen ihrerseits über die Augen auf den Bart herabfielen. Er war so langsam in Allem, was er that, daß er fünf Minuten brauchte, um eine Prise zu nehmen, zwei Minuten, um die Peitsche in den Gurt zu stecken, und über zwei Stunden, um Nedwiga einzuspannen. Wenn er mit seiner Herrschaft ausfuhr und die Pferde die Equipage bergauf ziehen wußten, zitterten Thömchen und Thymchen am ganzen Körper – wenn sie bergab fuhren zitterten sie übrigens auch – und hielten sich an den Wagenriemen und riefen Beide mit lauter Stimme: »Den Pferden – den Pferden . . . Samuel’s Kräfte; – wir aber, – wir aber, so leicht wie die Feder, so leicht wie der Wind!! . . .«

Alle kannten das wunderliche Ehepaar; in den Augen der Menge waren es zwei Sonderlinge, zwei Verrückte sogar! . . . Sie fühlten übrigens selbst, daß sie in die Zeit, in welcher sie lebten, nicht mehr hineinpaßten, machten sich jedoch keine Sorgen deshalb: sie blieben, was sie waren, blieben der Zeit getreu, in welcher sie geboren und aufgewachsen. Trotzdem konnten sie es nicht übers Herz bringen, Jemanden zu strafen oder zu schelten – in dieser Beziehung standen sie zu dem Geist ihrer Zeit in direktem Gegensatz. Wenn sich ergab, daß einer von den Dienern ihres Hauses ein Trunkenbold oder ein Dieb war, so ertrugen sie es wie man schlechtes Wetter ertragen muß, Und Wenn sie ihn endlich entließen, so thaten sie es, ohne ein böses Wort zu sagen. Dergleichen Fälle kamen jedoch höchst selten vor – so selten, daß von denselben als ganz besonders bemerkenswerthen Ereignissen gesprochen wurde, z.B.: »Das ist schon lange her; es war damals, als der freche Aljoschka bei uns diente«; oder: »als die Fellmütze des Großvaters mit dem Fuchsschwanze gestohlen wurde.« Sie unterschieden sich auch noch dadurch von ihren Zeitgenossen, daß sie nichts weniger als fromm waren. Thömchen war sogar ein Anhänger Voltaire’s, Thymchen aber erbebte, wenn sie einen Geistlichen erblickte: »sie haben ein so böses Auge!« – pflegte sie zu sagen – »wenn ein Pfaff bei mir sitzt, wird auch der Schmand gleich sauer!« Die Kirche besuchten sie selten und fasteten nach katholischer Art, d.h. sie aßen Eier und Butter und tranken Milch. Man wußte das in der Stadt und es ist begreiflich, daß ihr Ruf eben daher gerade nicht der beste war. Ihre Sanftmuth und Güte aber machte Alles wieder gut, und wenn man sie auch verspottete, wenn man sie auch für blödsinnig und verrückt erklärte – so behandelte man sie im Grunde doch mit einer gewissen Hochachtung.

Trotzdem fiel es Niemandem ein, sie zu besuchen und zu ihnen in gesellschaftliche Beziehung zu treten, was sie übrigens auch nicht im Geringsten bedauerten. Sie empfunden nie Langeweile, wenn sie zusammen waren, trennten sich nie von einander und sehnten sich auch nach keiner anderen Gesellschaft. Keines von ihnen war jemals krank gewesen; wenn sich das Eine auch ein Mal zufällig unwohl fühlte, so tranken sie sogleich Beide Lindenblüthenthee, oder rieben sich mit warmem Oel ein, oder bespritzten die Sohlen mit heißem Talg – und waren wieder gesund. – Ein Tag verging bei ihnen wie der andere. Sie standen spät auf, tranken am Morgen aus kleinen, becherförmigen Tassen Chokolade – »Thee am Morgen zu trinken, ist erst später Mode geworden,« behaupteten sie – und unterhielten sich dann – der Stoff ging ihnen niemals aus – oder lasen im »Angenehmen Zeitvertreib« oder im »Spiegel der Welt«; zuweilen besahen sie aber auch ein altes in Saffian mit Golddruck gebundenes Album, welches einst, wie es die Aufschrift bezeugte, einer M-me Barbe de Kabyline gehört hatte. – Wie und wann dieses Album zu ihnen gekommen – wußten sie selbst nicht zu sagen. Es befanden sich in demselben einige französische und russische Gedichte und kleinere aphoristische Bemerkungen in Art der folgenden »kurzen« Betrachtungen über »Cecero«:

»In welcher Stimmung Cecero das Amt des Quästors übernommen, erklärt er folgendermaßen: Nachdem er vor den Göttern bekräftigt die Reinheit seiner Empfindungen in allen Aemtern, durch die er bis dato geehrt worden war, glaubte er sich durch die heiligsten Bande verpflichtet zu einer derselben würdigen Ausübung und in dieser Absicht habe er, Cecero, niemals getrachtet nach der Süße der Gesetzesübertretungen, sondern sich sogar denjenigen Vergnügungen, welche nothwendig scheinen können, immer entzogen.« Unten stand: »Niedergeschrieben in Sibirien, im Hunger und in der Kälte.« Gut war ferner ein Gedicht, »Thyrsis« überschrieben, in welchem unter Anderen folgende Verse vorkamen:

 
Im Weltall herrschet tiefe Stille,
Es glänzt der Thau so feenhaft,
Erfrischend wirket dessen Kühle,
Verleiht den Pflanzen neue Kraft.
 
 
Des Thyrsis Herz ist schwer, des Armen,
Er grämt sich, seufzet, weint und klagt,
Sein Aennchen flieht ihn – habt Erbarmen!
O seht, er ist so traurig, so verzagt!
 

und die Improvisation eines vorüberreisenden Kapitäns aus dem Jahre 1790, »im Monat Mai am sechsten Tage«:

 
Dich vergessen niemals werd’ ich!
Du schöner, lieber Landesstrich!
Ewig dein gedenken werd’ ich!
Die Zeit so angenehm verstrich!
Die ich gehabt die Ehr’!
Zu sein bei der Besitzerin!
Fünf schöne Tag’ mit frohem Sinn!
Mit werthen Gästen im Verkehr!
Von Jungfrauen, Frauen umgeben,
Und interessanten Personen daneben!
 

Auf der letzten Seite des Albums befanden sich schließlich – statt der Verse – allerlei Recepte zu Medikamenten gegen Magenkrankheiten, Krämpfe und sogar gegen Bandwürmer!

Genau um zwölf Uhr pflegten Thömchen und Thymchen zu Mittag zu essen, und zwar ganz altmodische Speisen, wie z.B. Käsetuchen, saure Gurkensuppe, kaltes Fleisch in Essig, Brei aus Buchweizenmehl, Hühnerfleisch mit Safran, Löffelkuchen mit Honig u.s.w.; nach dem Mittag ruhten sie ein wenig – höchstens eine Stunde – erhoben sich dann wieder und tranken Preißelbeer-Wasser, zuweilen aber auch ein besonders präparirtes moussirendes Getränk, welches gewöhnlich mit solcher Kraft aus der Flasche herausspritzte, daß in derselben nichts mehr nachblieb, was Thömchen und Thymchen jedes Mal viel Freude machte, den alten Kalliopytsch aber ungeheuer ärgerte, da er überall aufwischen mußte; er brummte dann noch lange über die Haushälterin und den Koch, die seiner Meinung nach dies Getränk ausgedacht hätten . . . »Was ist denn für ein Genuß dabei? Blos um die Möbel zu ruiniren!« Darauf griffen sie wieder nach irgend einem Buche, oder amüsirten sich mit Pusska oder sangen auch alte Lieder. Sie hatten vollkommen gleiche, schwache, heisere, etwas zitternde Stimmen, die jedoch ganz angenehm klangen; zuweilen spielten sie auch Karten, aber ganz alte Spiele, Krebs, Mönche oder sogar Boston sans prendre! – Dann wurde die Theemaschine gebracht: am Abend pflegten sie immer Thee zu trinken . . . das war das einzige Zugeständniß, welches sie dem Geiste der Zeit gemacht, obgleich ihrer Meinung nach, es doch nur eine unnütze »Verwöhnung« war, und der Genuß dieses »chinesischen Grases« die Menschen entkräfte! Sie waren übrigens weit davon entfernt, die neue Zeit zu tadeln – sie lobten auch nicht die alte Zeit; wenn sie selbst auch niemals anders gelebt hatten, so gaben sie doch zu, daß man anders, und sogar besser, leben könne, aber man solle sie nur nicht zwingen, ihren Gewohnheiten untreu zu werden!

 

Um acht Uhr Abends brachte Kalliopytsch das Abendessen mit der unvermeidlichen kalten Kwaßsuppe, um neun Uhr aber zogen sich Thömchen und Thymchen in ihr Schlafzimmer zurück und begaben sich zur Ruhe. Dann wurde es still im Hause: es flackerte das Lämpchen vor dem Gottesbilde, es zirpte das Heimchen, es verbreitete sich ein Duft wie von Melisse und Moschus durch die ganze Wohnung – und es schlief das gute, komische, unschuldige Ehepaar!

Das waren die Inséparables, zu denen Paklin seine Schwester gebracht hatte, und jetzt auch seine Freunde führte.

Paklin’s Schwester war ein kluges, durchaus nicht häßliches Mädchen – sie hatte namentlich wunderbar schöne Augen; sie war aber bucklig, und das Bewußtsein davon zehrte so sehr an ihr, daß sie jedes Selbstvertrauen und Lebenslust verloren, daß sie argwöhnisch, beinahe boshaft geworden war. Sie hatte einen seltsamen Namen bei der Taufe erhalten: Snandulia! Paklin wollte sie umtaufen, wollte sie Sophie nennen – sie meinte aber, daß eine Bucklige gar nicht anders heißen dürfe, als Snandulia! Sie war eine große Musikfreundin und spielte selbst ziemlich gut Klavier – »weil ich lange Finger habe,« versicherte sie nicht ohne Bitterkeit, – »wie das gewöhnlich bei Buckligen zu sein pflegt.«

Als die Gäste kamen, saßen Thömchen und Thymchen im Gastzimmer und tranken, wie sie es in der Regel nach dem Mittagsschlaf zu thun pflegten, Preißelbeerwasser.

– Wir treten jetzt in’s achtzehnte Jahrhunderts – rief Paklin, als sie über die Schwelle des Hauses schritten.

Und in der That: bereits im Vorzimmer begrüßte sie das achtzehnte Jahrhundert in Gestalt eines kleinen, blauen Bettschirms mit aufgeklebten schwarzen Silhouetten gepuderter Damen und Herren: in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren diese Bilder in Rußland sehr in Mode gewesen. Beim Eintritt der vier Gäste gerieth das ganze Haus in Aufregung: —man hörte das Getrappel bloßer und beschuhter Füße, Frauengesichter zeigten sich und verschwanden allsogleich – Jemand wurde gequetscht, es folgte ein kurzes Aechzen, Kichern, leises Fluchen . . . bis endlich Kalliopytsch erschien, die Thür in den »Saal« öffnete und mit lauter Stimme hineinrief:

– Da ist Ssila Ssamssonytsch mit anderen Herren! Thömchen und Thymchen schienen viel weniger erschreckt, als ihre Dienerschaft. Freilich waren auch sie etwas verwundert, als sie vier ganz erwachsene Herren plötzlich in ihrem sonst ziemlich geräumigen Gastzimmer erblickten; aber Palkin beruhigte sie sofort, indem er Neshdanow, Ssolomin und Markelow der Reihe nach unter witzigen Bemerkungen vorstellte und den beiden Alten erklärte, daß es sehr stille Leute, die nicht bei der »Krone« angestellt wären, daß es keine Beamten seien, welche Thömchen und Thymchen besonders ungern sahen.

– Die auf den Ruf des Bruders herbeigekommene Snandulia war viel aufgeregter, als die Alten, welche – Beide zugleich und in denselben Ausdrücken – die Gäste Platz zu nehmen baten und sich bei ihnen erkundigten, was sie ihnen anbieten könnten: Thee, Chokolade oder Limonade? Als sie jedoch erfuhren, daß die Gäste eben beim Kaufmann Goluschkin gefrühstückt und gleich wieder bei ihm speisen würden, daher gar nichts bedürften, hörten die beiden Alten auf, weiter in sie zu dringen und gingen, nachdem sie die Hände in gleicher Weise über ihren runden Bäuchchen geschlagen, zur Unterhaltung über, die auch bald in Fluß kam.

Paklin erzählte eine komische Anekdote von Gogol, die so lächerlich war, daß den Alten die Thränen aus den Augen flossen. Sie pflegten Beide in derselben Weise zu lachen, indem sie zuerst freudig aufschrieen und die Stimme dann hüstelnd senken ließen, während sich das erröthende Gesicht leicht mit Schweiß überzog. Paklin hatte bemerkt, daß aus Leute wie Thömchen und Thymchen Citate aus Gogol niemals ihre Wirkung verfehlen; aber da es ihm nicht darum zu thun war, die Alten selbst zu ergötzen, sondern dieselben seinen Bekannten zu zeigen, so zog er andere Segel auf und wußte die Sache so zu führen, daß Thömchen und Thymchen bald ganz zutraulich wurden und alle ihre Herrlichkeiten zu zeigen begannen.

Thömchen holte eine alte aus Holz geschnitzte Tabaksdose heraus, auf der man ein Mal sechsunddreißig menschliche Figuren in verschiedenen Stellungen hatte zählen können, jetzt konnte man sie freilich nicht mehr unterscheiden, Thömchen aber sah sie noch immer und zählte sie alle auf: – »Sehen Sie« – sagte er, – »da sieht Einer aus dem Fenster – sehen Sie: er hat den Kopf herausgesteckt« . . . Die Stelle jedoch, auf welche er mit dem Nagel des kleinen runden Fingers wies, war eben so glatt, wie die anderen Theile der Dose. Dann bat er die Gäste, ihre Aufmerksamkeit dem Oelgemälde zuwenden zu wollen, welches über seinem Kopfe hing: es stellte einen Jäger in Profil dar, der aus einem salben Pferde – gleichfalls in Profil – über eine schneeige Fläche dahinjagte. Der Jäger war in einer hohen weißen Fellmütze mit einem blauen Querstreifen und in einem Rock aus Kameelhaar, wie ihn die Tscherkessen tragen, mit einem sammetnen Stoß; um die Taille war ein vergoldeter Gurt geschlungen, hinter welchem ein in Seide gestickter Fausthandschuh steckte und von dem auch ein Dolch in silberner Scheide herabhing. In der einen Hand hielt der jugendliche, etwas volle Jäger ein großes, mit rothen Quasten geschmücktes Horn, in der andern die Zügel und eine Peitsche. Die vier Füße des Pferdes hingen in der Luft, und es hatte der Maler auch nicht vergessen, die Hufen und sogar die Nägel auf den Hufeisen sorgfältig auszumalen. »Und sehen Sie hier,« – sagte Thömchen, indem er mit demselben kleinen runden Finger auf vier halbrunde dunkle Flecken hinter den Füßen der Pferde hinwies, – »die Spuren im Schnee – auch die hat er hingemalt!« Daß man nur vier Flecken sah, im Hintergrunde aber gar keine Spuren erblickte – davon schwieg Thömchen.

– Das bin – ich! – fügte er mit verschämtem Lächeln hinzu.

– Wie! – rief Neshdanow. – Sie sind Jäger gewesen?

– Ja . . . aber nur kurze Zeit. Denn ein Mal bin ich im vollen Galopp kopfüber vom Pferde gestürzt und habe mir den »Kurpeï« verletzt. Thymchen hat sich natürlich erschreckt . . . und hat mir die Jagd verboten. Seitdem bin ich auch nicht mehr auf der Jagd gewesen. —

– Was haben Sie sich verletzt, frug Neshdanow.

– Den Kurpeï wiederholte Thömchen mit leiser, gleichwie verschämter Stimme. Die Gäste wechselten einen stummen Blick. Niemand wußte, was eigentlich ein »Kurpeï« für ein Ding sei. – Zwar dem Markelow war nicht unbekannt, daß man die wollige Quaste auf einer Kosaken- oder Tscherkessen-Mütze so zu nennen pflegte – aber Thömchen hatte sich unmöglich das verletzen können?

– Ihm aber die Frage zu stellen, was er sich eigentlich verletzt hatte – dazu entschloß sich keiner.

– Nun, wenn Du Dich so herausstreichst, – begann plötzlich Thymchen. – so habe auch ich etwas, was ich zeigen kann.

Sie holte aus einem kleinen »bonheur du jour« – so nannte man einst die alten Bureaus auf kleinen krummen Füßen mit einer runden Verschlußklappe zum Zurückschieben – ein Aquarellbild en miniature in einem Bronze-Rahmen, auf welchem man ein nacktes vierjähriges Kindchen erblickte mit einem Köcher und einem blauen Bändchen um die Brust; das krausköpfige, ein wenig schielende Kindchen lächelte und drückte den Finger prüfend an die Spitze des Pfeils. Thymchen zeigte das Bild den Gästen.

– Das bin . . . ich – sagte sie.

– Sie?

– Ja, ich, als ich noch ein Kind war.