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– Was fällt mir denn ein, – rief Ssolomin mit heller Stimme: – mich um fremde Bräute zu bekümmern! – und schüttelte den Kragen seines Mantels, als ob er gleichsam alle unnützen Gedanken von sich werfen wollte. Er war aber auch schon bei der Fabrik und erblickte an der Schwelle seiner Wohnung die Gestalt seines treuen Pauls.

Sechsundzwanzigstes Capitel

Ssipjagin fühlte sich durch Ssolomin’s Ablehnung der ihm angetragenen Stelle auf’s Tiefste beleidigt; er fand jetzt sogar, daß dieser hausbackene Stephenson durchaus kein so bedeutender Mechaniker wäre, und daß er, wenn er auch kein Phrasenmacher sei, den echten, groben Plebejerstolz desto mehr herauskehre – »So sind sie Alle, diese Russen, wenn sie sich etwas zu wissen einbilden – unerträglich! Au fond hat Kallomeyzew doch Recht! Unter dem Einfluß dieser feindseligen und erregten Gefühle sah der Staatsmann – en herbe – noch theilnahmloser und kühler auf Neshdanow herab; er erklärte Kolja, daß er sich heute mit dem Lehrer nicht zu beschäftigen brauche, daß er sich gewöhnen müsse, selbstständig zu arbeiten. . . Dem Lehrer selbst sagte er jedoch nicht auf, wie dieser erwartet hatte. Er fuhr fort ihn zu ignoriren! Um so weniger ignorirte aber Valentine Michailowna – Marianne. Zwischen ihnen kam es zu einem furchtbaren Auftritt.

Zwei Stunden vor dem Mittagsessen geschah es plötzlich, daß sie sich im Gastzimmer ganz allein befanden. Beide fühlten sogleich, daß der Augenblick des unvermeidlichen Zusammenstoßes gekommen sei, und gingen daher nach momentanem Schwanken langsam aufeinander zu – Valentine Michailowna mit lächelnder Miene, Marianne mit zusammengepreßten Lippen: Beide waren bleich. Ueber das Zimmer schreitend, blickte Valentine Michailowna bald nach rechts, bald nach links, und riß hin und wieder ein Geraniumblättchen ab . . . Mariannen’s Augen aber waren fest aus das sich nähernde, lächelnde Antlitz gerichtet.

Frau Ssipjagin blieb zuerst stehen.

– Marianne Wikentjewna – warf sie nachlässig hin, mit den Fingerspitzen an die Stuhllehne klopfend, – ich glaube, wir korrespondiren mit einander . . . Da wir unter einem Dache wohnen, scheint mir das ziemlich sonderbar; Sie wissen, daß ich nichts Absonderliches liebe.

– Nicht ich habe damit den Anfang gemacht, Valentine Michailowna.

– Ja . . . Sie haben Recht. Ich allein bin dieses Mal schuld an dieser Absonderlichkeit. Ich konnte jedoch kein anderes Mittel finden, um in Ihnen ein gewisses Gefühl zu wecken . . . wie soll ich es doch nennen? . . . ein Gefühl . . .

– Sprechen Sie ohne Umschweife, Valentine Michailowna, Sie brauchen sich nicht zu fürchten mich zu beleidigen.

– Das Gefühl . . . des Anstands.

Frau Ssipjagin verstummte; man hörte nur das leise Klopfen der an die Stuhllehne schlagenden Finger.

– Was habe ich denn gethan, wodurch ich den Anstand verletzt hätte? – fragte Marianne.

Frau Ssipjagin zuckte die Achseln.

– Ma chère, vous n’êtes plus un enfant – und Sie verstehen mich sehr gut. Glauben Sie denn wirklich, daß Ihre Handlungen mir, Anna Sacharowna, dem ganzen Hause endlich, geheim bleiben könnten? Sie haben sich übrigens ja auch gar nicht bemüht, dieselben geheim zu halten. Sie haben damit einfach geprahlt. Boris Andreitsch allein hat vielleicht nichts davon gemerkt, weil er von interessanteren und wichtigeren Dingen in Anspruch genommen ist. Sonst aber ist Ihr Benehmen Allen, Allen bekannt.

Marianne war noch blasser geworden.

– Ich möchte Sie bitten, Valentine Michailowna, sich etwas deutlicher auszudrücken. Womit sind Sie denn eigentlich unzufrieden?

– »L’insolente!« – dachte Frau Ssipjagin, hielt jedoch an sich.

– Sie wollen wissen, womit ich unzufrieden bin, Marianne? Gut, ich will es Ihnen sagen! Ich bin unzufrieden mit den langen Unterredungen mit einem jungen Manne, der durch seine Geburt, seine Erziehung, seine gesellschaftliche Stellung tief unter Ihnen steht; ich bin unzufrieden nein! das ist viel zu wenig gesagt – ich bin empört über Ihre späten . . . Ihre nächtlichen Visiten bei diesem selben Menschen! Und wo geschieht das? unter meinem Dache! Oder finden Sie vielleicht, daß es ganz in der Ordnung ist, daß ich schweigen müßte – und Ihren Leichtsinn befürworten und begünstigen? – Als einer ehrenhaften Frau oui, mademoiselle, je l’ai été, je le suis et je le serai toujours! – es ist mir unmöglich, darüber nicht empört zu sein!

Frau Ssipjagin warf sich in einen Lehnsessel, wie niedergedrückt von der Wucht eben dieser inneren Empörung.

Zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln auf Mariannen’s Lippen.

– Ich zweifle nicht an Ihrer Ehrenhaftigkeit, weder an der vergangenen, noch an der gegenwärtigen und zukünftigen, – sagte sie, – und meine es ganz aufrichtig. Aber Sie haben keinen Grund, empört zu sein. Ihr Haus habe ich nicht entehrt. Der junge Mann, den Sie meinen . . . ja, ich liebe ihn wirklich. . .

– Sie lieben Monsieur Neshdanow?

– Ich liebe ihn.

Frau Ssipjagin richtete sich im Sessel auf.

– Aber ich bitte Sie, Marianne! es ist ja ein einfacher Student ohne Haus und Hof; er ist sogar jünger als Sie! – (Diese letzten Worte hatte sie nicht ohne eine gewisse Schadenfreude ausgesprochen.) – Was wird denn dabei herauskommen? Und was haben Sie, bei Ihrem Verstande, in ihm gefunden? Es ist ja einfach ein geistarmes Knäblein!

– Sie sind nicht immer dieser Meinung gewesen, Valentine Michailowna.

– Um Gottes Willen, meine Liebe, lassen Sie mich doch aus dem Spiele. . . Pas tant d’esprit que ça, je vous prie. Hier ist von Ihnen die Rede, von Ihrer Zukunft. Bedenken Sie doch! was ist denn das für eine Partie?

– Ich muß gestehen, Valentine Michailowna, daß ich an eine Partie noch gar nicht gedacht habe.

– Wie’s was? ich verstehe Sie nicht Nehmen wir an, daß Sie dem Zuge Ihres Herzens gefolgt sind. . . Aber es muß doch Alles mit einer Heirath endigen!

– Ich weiß nicht . . . daran habe ich nicht gedacht.

– Daran haben Sie nicht gedacht?! – Sie sind von Sinnen!

Marianne wandte sich etwas zur Seite.

– Brechen wir dies Gespräch ab, Valentine Michailowna. Es ist unnütz, daß wir noch weiter darüber sprechen, wir würden uns doch nicht verstehen.

Frau Ssipjagin erhob sich hastig.

– Ich kann, ich darf dies Gespräch nicht abbrechen! Die Sache ist zu wichtig ich verantworte für Sie vor – Valentine Michailowna wollte sagen:, vor Gott! hielt jedoch inne und sagte: vor der ganzen Welt! – Ich kann nicht schweigen, wenn ich dergleichen Thorheiten höre! Und warum soll ich Sie denn nicht verstehen können? Was für ein unerträglicher Stolz bei diesen jungen Leuten! Nein . . . ich verstehe Sie sehr gut; ich sehe, daß Sie ganz durchdrungen sind von diesen neuen Ideen, welche Sie unabwendbar dem Untergang zuführen werden! Dann wird es aber zu spät sein.

– Kann sein; glauben Sie mir aber: wenn wir auch untergehen, werden wir Ihnen nie auch nur einen – Finger entgegenstrecken, damit Sie uns retten!

Frau Ssipjagin schlug die Hände zusammen.

– Wieder dieser Stolz, dieser furchtbare Stolz! So hören Sie mich doch, Marianne, hören Sie mich! – setzte sie, den Ton der Rede verändernd, hinzu . . . Sie wollte Marianne an sich ziehen – diese trat aber zurück. – Ecoutez moi, je vous en conjure! – Ich bin ja doch nicht so alt – und nicht so dumm, daß wir uns nicht verständigen könnten! – Je ne suis pas une encroutée. In meiner Jugend hielt man mich sogar für eine Republikanerin . . . nicht weniger als Sie. – Hören Sie mich: ich will nichts heucheln; mit mütterlicher Zärtlichkeit habe ich Sie nie geliebt; – und es liegt ja auch nicht in Ihrem Charakter, dieses zu beklagen . . . Aber ich wußte, und ich weiß es, daß ich Ihnen gegenüber Pflichten zu erfüllen habe – und habe mich stets bemüht, denselben gerecht zu werden. Es ist möglich, daß die Partie, die ich für Sie in Aussicht genommen – und für welche sowohl Boris Andreitsch, als auch ich keine Opfer gescheut hätten daß diese Partie nicht ganz Ihren Ideen entsprach . . . in der Tiefe meines Herzens aber . . .

Marianne sah sie an; sah dieses wunderschönen Augen, diese rosigen, kaum merklich gefärbten Lippen, diese weißen Hände, die ein wenig gespreizten, mit Ringen geschmückten Finger, welche die schöne Frau so ausdrucksvoll an die Taille des seidenen Kleides drückte . . . und unterbrach sie plötzlich.

– Eine Partie, sagen Sie, Valentine Michailowna! Sie nennen diesen Ihren herzlosen, flachen Freund, Herrn Kallomeyzew eine »Partie«?

Frau Ssipjagin hob die Finger von der Taille.

– Ja, Marianne Wikentjewna! Ich spreche von Herrn Kallomeyzew, von diesem gebildeten, vortrefflichen jungen Manne, der seine Frau jedenfalls glücklich machen wird – und den nur eine Verrückte zurückweisen kann, nur eine Verrückte!

– Was ist da zu machen, ma tante! Ich muß wohl eine Verrückte sein!

– Was hast Du ihm denn im Ernst vorzuwerfen, frage ich Dich.

– O gar nichts! – ich verachte ihn . . . das ist Alles.

Frau Ssipjagin schüttelte ungeduldig den Kopf und sank wieder in den Lehnsessel.

– Lassen wir das. Retournons à nos moutons. – Du liebst also Herrn Neshdanow?

– Ja.

– Und beabsichtigst Deine . . . Rendezsvous fortzusetzen?

– Ja.

– Wenn ich es aber nun verbiete?

– So werde ich Ihnen nicht gehorchen.

Valentine Michailowna schnellte aus dem Sessel empor.

– Ah! Sie werden nicht gehorchen! Also so! . . . Das sagt mir ein Mädchen, deren Wohlthäterin ich bin, welches ich in meinem Hause gepflegt und gehütet, das sagt mir . . . das sagt mir . . .

– Die Tochter eines entehrten Vaters, – fiel Marianne finster ein, – fahren Sie fort, machen Sie doch keine Umstände!

– Ce n’est pas moi qui vous le fait dire, mademoiselle! Jedenfalls ist es aber nichts, worauf man stolz sein könnte! Das Mädchen, welches mein Brod ißt . . .

 

– Lassen Sie diesen Vorwurf, Valentine Michailowna. Es wäre Ihnen theurer gekommen, eine Französin für Kolja zu engagiren ich unterrichte ja Kolja in der französischen Sprache!

Frau Ssipjagin hob die Hand, in welcher sie ein parfümirtes Battisttaschentuch mit einem großen weißen Namenszug in der einen Ecke hielt und wollte etwas erwidern. – Marianne fuhr jedoch ungestüm fort:

– Sie hätten Recht, tausend Mal Recht, wenn Sie statt all der Dinge, die Sie hier aufgezählt haben, statt dieser trügerischen Wohlthaten und Opfer hätten sagen können: »Jenes Mädchen, welches ich geliebt. . . « Aber Sie sind ehrlich genug, diese Lüge nicht über die Lippen zu bringen! – Marianne bebte, wie vom Fieber geschüttelt. – Sie haben mich stets gehaßt. – Auch jetzt sogar freuen Sie sich in der Tiefe Ihres Herzens, von der sie soeben gesprochen – ja, Sie freuen sich, daß ich Ihre alten Prophezeihungen rechtfertige, daß ich Schimpf und Schande auf mich lade – und nur das Eine ist Ihnen unangenehm, daß ein Theil dieser Schande auf Ihr aristokratisches, Ihr ehrliches Haus zurückfällt. . .

– Sie beleidigen mich, – flüsterte Frau Ssipjagin, – verlassen Sie dies Zimmer!

Marianne war ihrer jedoch nicht mehr mächtig.

– Ihrem Hause haben Sie gesagt, Ihrem ganzen Hause, Anna Sacharowna, Allen wäre mein Betragen bekannt! – Und Alle sind erschreckt und empört. . . Aber habe ich Sie denn um etwas gebeten, Sie und Ihr ganzes Haus? Kann mir an der Meinung all der Leute etwas liegen? Ist es denn nicht bitter, Ihr Brod zu essen? Wo ist die Armuth, die ich nicht diesem Reichthum vorziehen würde? Liegt denn nicht ein Abgrund zwischen Ihrem Hause und mir, ein Abgrund, der durch nichts, nichts ausgefüllt werden kann? Ist es denn möglich, daß Sie – Sie sind ja auch eine kluge Dame – daß Sie das nicht fühlen? Und wenn Sie nur Haß gegen mich empfinden, ist es denn möglich, daß Sie über das Gefühl im Unklaren sind, das ich gegen Sie hege und das ich nur daher näher zu bezeichnen unterlasse, weil es zu offenbar ist?

– Sortez, sortez, vous dis- je . . . – rief Frau Ssipjagin und stampfte mit ihrem niedlichen, schmalen Füßchen . . .

Marianne wandte sich zur Thür.

– Ich werde Sie sogleich von meiner Gegenwart befreien; wissen Sie aber was, Valentine Michailowna?

Man sagt, daß das »Sortez« in Racines »Bajazet« einer Rachel selbst nicht gelingen wollte – Ihnen aber erst recht nicht! Und noch eins: wie sagten Sie doch . . . Je suis une honnête femme, je l’ai été et le serai toujours? Nun denn: ich bin überzeugt, daß ich viel ehrenhafter bin als Sie! Leben Sie wohl!

Marianne entfernte sich eilig, Frau Ssipjagin aber sprang vom Lehnsessel, wollte schreien, weinen. . . . Aber sie wußte nicht – was sie schreien sollte; und die Thränen wollten ihr nicht gehorchen.

Sie begnügte sich damit, sich mit dem Taschentuch Kühlung zuzuwehen, aber der parfümirte Duft desselben erregte ihre Nerven noch mehr. . . Sie fühlte sich unglücklich, beleidigt. . . Sie sah ein, daß eine gewisse Wahrheit in den Worten lag, die sie eben gehört. Aber wie war es möglich, sie so grausam, so ungerecht zu beurtheilen? »Bin ich denn wirklich so böse?« – dachte sie – und blickte in den Spiegel, der sich zwischen den beiden Fenstern ihr gerade gegenüber befand. Dieser Spiegel strahlte ein reizendes, etwas entstelltes Antlitz zurück, mit rothen Flecken auf Stirne und Wangen, aber doch ein bezauberndes Antlitz, mit prachtvollen, weichen, sammtenen Augen . . . »Ich? Ich böse?« – dachte sie wieder, – »mit solchen Augen?«

In diesem Augenblick trat ihr Gemahl ins Zimmer – sie drückte von neuem das Taschentuch an das Gesicht.

– Was ist Dir? – fragte er besorgt. – Was ist Dir, Valja? – Dies zärtliche Diminutiv hatte er selbst für sie ersonnen, erlaubte sich den Gebrauch desselben aber nur in ganz vertraulichem tête-à-tete, hauptsächlich auf dem Lande.

Sie weigerte sich zuerst, ihm etwas zu sagen, versicherte, daß es nichts sei . . . endigte jedoch damit, daß sie sich höchst anmuthig und rührend im Lehnstuhl umwandte, ihm die Hände auf beide Schultern legte – er hatte sich zu ihr herabgebeugt – ihr Antlitz in seinem Westen- Ausschnitt verbarg – und ihm Alles erzählte; sie bemühte sich – ohne jeglichen Hintergedanken – Marianne, wenn nicht zu entschuldigen, so doch bis zu einem gewissen Grade zu rechtfertigen; sie schrieb die ganze Schuld ihrer Jugend zu, ihrem leidenschaftlichen Charakter, den Mängeln ihrer ersten Erziehung und machte auch sich selbst Vorwürfe – gleichfalls bis zu einem gewissen Grade und wieder ohne Hintergedanken. »Mit meiner Tochter wäre das nicht geschehen! Ich hätte auf sie anders Acht gegegeben!« Ssipjagin hörte sie nachsichtsvoll, theilnehmend – und zugleich streng bis ans Ende an, war unverändert in der gebeugten Stellung geblieben, bis sie endlich die Hände herabsinken ließ und ihr Köpfchen zurückzog; er nannte sie einen Engel, küßte sie auf die Stirn, erklärte, daß er jetzt wisse, was er in seiner Rolle als Hausherr zu thun habe, und entfernte sich, wie sich ein humaner, aber energischer Mensch zu entfernen pflegt, der eine unangenehme, aber nothwendige Pflicht zu erfüllen hat. . .

Nach dem Mittagsessen, ungefähr um acht Uhr Abends, saß Neshdanow in seinem Zimmer und schrieb seinem Freunde Ssilin:

»Wladimir, Freund, ich schreibe Dir in dem Moment einer entscheidungsvollen Wendung meines Geschickes. Man hat mir meine Stelle gekündigt, ich muß fort aus diesem Hause. Dies allein hätte nichts zu sagen. . . Aber ich gehe in Begleitung jenes Mädchens von hier fort, von dem ich Dir geschrieben. Uns fesselt Alles an einander: die Aehnlichkeit der Lebensschicksale, die Uebereinstimmung der Ansichten und Bestrebungen, die Gemeinsamkeit des Gefühls endlich, das uns verbindet. Wir lieben einander, ich bin wenigstens überzeugt, daß ich Liebe in keiner andern Form empfinden könnte, als eben so, wie dies Gefühl jetzt über mich gekommen ist. – Aber ich würde lügen, wollte ich Dir sagen, daß ich insgeheim nicht eine gewisse Furcht empfände, eine unbestimmte, seltsame Beklemmung. . . Alles ist dunkel vor mir – und Beide dringen wir nun ein in diese Finsterniß. Ich brauche Dir nicht zu erklären, wohin wir gehen und was wir thun wollen. Marianne und ich, Beide jagen wir nicht nach Glück, nicht genießen wollen wir – sondern neben einander kämpfen, uns gegenseitig unterstützen. Unser Ziel liegt klar vor uns; welches die Wege aber sind, die zu dem Ziele hinführen – das wissen wir nicht. – Werden wir wenigstens die Möglichkeit des Handelns finden, wenn wir auch nicht auf Sympathie, auf Beistand rechnen können? – Marianne ist ein herrliches, ehrenhaftes Mädchen; wenn es unser Schicksal ist, daß wir zu Grunde gehen müssen, so werde ich mir keine Vorwürfe darüber machen, daß ich sie mit mir fortgerissen, weil ein anderes Leben für sie undenkbar wäre. – Und doch, Wladimir, Wladimir! es liegt mir centnerschwer auf dem Herzen. . . Es quält mich der Zweifel, nicht an meinem Gefühl zu ihr, sondern . . . ich weiß nicht woran. – Jetzt ist jedoch keine Umkehr mehr möglich. Strecke uns Beiden aus der Ferne Deine Hand entgegen – und wünsche uns Geduld, die Kraft der Selbstentäußerung, Liebe . . . vor Allem Liebe. Du aber, unergründetes, mit allen Fibern unseres Wesens, mit dem Blute unseres Herzens geliebtes russisches Volk, nimm uns auf – nicht zu theilnahmlos – und lehre uns, was wir von Dir zu erwarten haben!

Leb’ wohl, Wladimir, leb’ wohl!«

Nachdem er diese wenigen Zeilen geschrieben, ging Neshdanow in das Dorf hinab. – In der folgenden Nacht stand er beim ersten Morgengrauen bereits am Rande des Birkenwäldchens, unweit des Ssipjagin’schen Gartens. In einiger Entfernung von ihm schimmerte, durch das dichte Grün eines breiten Nußgebüsches kaum sichtbar, ein Bauernkarren mit zwei angespannten Pferden; in diesem Karten schlief, unter einem Strickgeflecht, auf einem Bündel Heu, in einem geflickten, über den Kopf gezogenen Kittel, ein altes, graues Bäuerlein. Neshdanow blickte ununterbrochen auf den Weg, auf die Weiden am Rande des Gartens; rings umher erschien Alles noch still und grau, kaum merklich blinkten die sich in der Himmelstiefe verlierenden Sternlein. Aus die abgerundeten unteren Ränder der lang gestreckten Wölkchen fiel von Osten her ein blaßrother Schein; von dort auch kam der erste Hauch morgenfrischer Luft. Neshdanow fuhr plötzlich zusammen und sah mit gespanntem Blick den Weg hinab. Ganz in der Nähe knarrte eine Gartenthür, die gleich daraus zugeschlagen wurde; ein, in ein Tuch gehülltes, kleines weibliches Wesen mit einem Bündelchen am Arm trat ohne zu eilen aus dem unbeweglichen Schatten der Weiden in den weichen Staub des Fahrwegs, schritt in schräger Richtung über denselben hinüber und lenkte dann ihre Schritte, als ginge sie gleichsam auf den sehen, zu dem Birkenhain Neshdanow flog ihm entgegen.

– Marianne! – flüsterte er.

– Ich bin es! – drang eine leise Antwort aus dem herabhängenden Tuch.

– Hierher, mir nach – rief Neshdanow, sie ungeschickt an der mit dem Bündel beschwerten Hand fassend.

Sie zitterte, als ob der Frost sie schüttelte. Er führte sie an den Karten und weckte das Bäuerlein. Dieses sprang hastig auf, kroch auf das Sitzbrett, fuhr mit den Armen in den Kittel und ergriff die Strickleine. Die Pferde wurden munter und wollten gleich fort: mit nach dem festen Schlaf noch heiserer Stimme gebot er ihnen Ruhe. Neshdanow setzte Marianne aus den Quersitz, nachdem er zuerst seinen Mantel Untergelegt, hüllte ihre Füße in eine Decke – das Heu Auf dem Boden des Kartens war feucht – setzte sich Neben sie, und flüsterte dem Bäueriein leise zu: «Fahr zu, du weißt wohin!« Der Bauer zog die Leine an, die Pferde arbeiteten sich schnaufend und sich drängend aus dem Gebüsch heraus, und klappernd und schleudernd rollte der Karren mit den alten schmalen Rädern auf dem Wege dahin. Neshdanow hatte den einen Arm um Marianne’s Taille geschlungen, sie hob mit den kalten Fingern das Tuch empor, und sagte, lächelnden Antlitzes zu ihm gewandt:

– Welch herrliche Frische, Alex!

– Ja, – antwortete das Bäuerlein, – es wird ein starker Thau kommen.

Der Thau war bereits so stark, daß die Zapfen der Räder, die Spitzen der am Wege ragenden Gräser berührend, von denselben einen ganzen Sprühregen feinsten Wasserstaubes abstreiften – und das Grün des Grases graublau zu schillern begann.

Ein kalter Schauer durchzuckte von Neuem Marianne. – Es ist frisch, frisch – rief sie heiter. Und die Freiheit, Alex, die Freiheit!

Siebenundzwanzigstes Capitel

Als man Ssolomin die Meldung überbrachte, daß ein Herr mit einer Dame angekommen seien und nach ihm fragten, eilte er sogleich an das Thor der Fabrik. Ohne seine Gäste zu begrüßen, nickte er ihnen nur mehrmals mit dem Kopfe zu und befahl dem Bäuerlein in den Hof zu fahren, zu dem Flügel, den er bewohnte. Als der Karren hielt, hob er Marianne von demselben herab. Neshdanow sprang gleichfalls herunter. Ssolomin führte die Beiden durch einen langen, dunklen Korridor auf einer schmalen, krummen Stiege in den hinteren Theil des Flügels, in die zweite Etage. Dort stieß er eine niedrige Thür auf – und alle drei traten in ein kleines, ziemlich sauberes Zimmer mit zwei Fenstern.

, – Willkommen! – rief Ssolomin mit dem gewöhnlichen Lächeln auf den Lippen, weiches dies Mal jedoch noch freier und breiter schien als sonst. – Das hier ist Eure Wohnung. – Dieses Zimmer – und nebenbei noch das andere. Grade nicht sehr sein, aber es läßt sich schon leben darin. Hier wird Euch Niemand anglotzen. Unter den Fensten befindet sich – wie mein Prinzipal versichert – ein Blumen-, meiner Ansicht nach aber – ein Gemüsegarten; er stößt dort an die Mauer, rechts und links aber sind Zäune. Ein stilles Plätzchen. – Nun, noch ein Mal, willkommen, liebes Fräulein, – willkommen auch Sie, Neshdanow!

Er drückte Beiden die Hände. – Sie standen unbeweglich da, ohne ihre Ueberzieher abzulegen und blickten Beide mit halbverwunderter, halbfreudiger Aufregung schweigend vor sich hin.

– Nun, was steht Ihr denn da? – begann Ssolomin von neuem. – Enthüllt Euch! – Was habt Ihr noch?

Marianne wies aus ihr Bündelchen, welches sie noch immer in der Hand hielt.

– Ich habe nur Dieses.

– Und ich einen kleinen Reisekoffer und einen Sack, die beide im Karren geblieben sind. Ich hol’ sie gleich . . .

– Bleiben Sie, bleiben Sie! – Ssolomin öffnete die Thür. – Paul! – rief er aus die dunkle Treppe hinaus, – lauf’ zum Karten, mein Junge. . . Es sind einige Sachen dort . . . bringe sie her.

– Gleich! – erschallte die Stimme des Allgegenwärtigen.

Ssolomin wandte sich zu Marianne, welche das Tuch vom Kopfe gezogen hatte und die Mantille auszuklopfen begann.

 

– Und es ist Alles glücklich abgelaufen?—fragte er.

– Alles . . . es hat uns Niemand gesehen. – Ich habe einen Brief an Herrn Ssipjagin zurückgelassen. – Ich habe weder Kleider noch Wäsche mitgenommen, Wassili Fedotitsch, weil Sie uns doch fortschicken werden . . . (Marianne entschloß sich nicht hinzuzufügen: in das Volk) – jene Sachen würden ja doch nicht taugen Ich habe Geld bei mir, um das zu kaufen, was nöthig ist.

– Das wird sich ja Alles finden . . . hier aber, – sagte Ssolomin, auf Paul weisend, der eben mit Neshdanow’s Sachen in’s Zimmer tritt, – empfehle ich Ihnen meinen besten Freund auf der Fabrik, auf den Sie sich wie auf mich selbst verlassen können. – Hast Du Tatjana gesagt, daß sie die Theemaschine bringe? – fügte er leise hinzu.

– Wird gleich gebracht werden, – antwortete Paul, – und Schmand und Alles.

– Tatjana – ist seine Frau – fuhr Ssolomin fort, – sie ist eben so treu und sicher, wie er. – Bis Sie sich selbst . . . wie soll ich sagen? . . . hier eingewöhnen werden, wird Tatjana Sie, mein Fräulein, bedienen.

Marianne warf ihre Mantille auf den kleinen, in der Ecke stehenden ledernen Divan. – Nennen Sie mich einfach Marianne, Wassili Fedotitsch! Ich will kein Fräulein sein! Und ich brauche auch keine Aufwärterin . . . Ich bin nicht fortgegangen, um Aufwärterinnen zu haben. Achten Sie nicht auf mein Kleid; dort habe ich ja keine anderen Kleider gehabt. Das wird man Alles ändern müssen.

Dies Kleid war aus braunem Tuch und sehr einfach; von einer Petersburger Schneiderin genäht, schmiegte es sich aber ihrem Körper anmuthig an und hatte überhaupt ein modisches Aussehen.

– Nun, wenn sie nicht aufwarten soll, so kann sie Ihnen wenigstens behilflich sein, nach amerikanischer Art. – Thee können Sie aber jedenfalls trinken. Es ist noch früh – und Ihr werdet auch wohl müde sein. Ich gehe jetzt in die Fabrik, wir sehen uns später. – Wenn Ihr etwas brauchen solltet, sagt es nur Paul oder Tatjana.

Marianne streckte ihm beide Hände entgegen.

– Wie sollen wir Ihnen danken, Wassili Fedotitsch? Sie sah ihn voll Rührung an.

Ssolomin streichelte ihre Hand. – Ich könnte sagen, daß Sie keine Ursache hätten zu danken – es würde aber eine Unwahrheit sein. Lieber sage ich Ihnen, daß Ihre Dankbarkeit mir unendliches Vergnügen bereitet. – Jetzt sind wir quitt. Auf Wiedersehen! Komm, Paul!

Marianne und Neshdanow blieben allein.

Sie ging auf ihn zu und sagte, ihn ebenso anschauend, wie sie Ssolomin angesehen, nur noch freudiger, noch inniger, noch glücklicher: – O mein Freund! . . . Wir beginnen ein neues Leben . . . Endlich! endlich! – Du glaubst nicht, wie freundlich und heimisch mir diese zwei Zimmer, in denen wir nur wenige Tage verbleiben werden, im Vergleich zu jenen verhaßten Salons erscheinen! Sage – freust Du Dich?

Neshdanow ergriff ihre Hände und drückte sie an sein Herz.

– Ich bin glücklich, Marianne, daß ich dies neue Leben mit Dir zusammen beginnen kann! – Du wirst der Stern sein, dem ich folge, meine Stütze, mein Muth . . .

– Lieber Alex! Warte jedoch – ich muß erst den Staub von mir abschütteln und meine Toilette ein wenig in Ordnung bringen. – Ich gehe in mein Zimmer . . . Bleibe so lange hier. – Ich bin gleich fertig.

Marianne ging in’s Nebenzimmer, drehte den Schlüssel im Schloß – steckte jedoch nach ein paar Augenblicken durch die halbgeöffnete Thür den Kopf wieder heraus und rief: – Ist Ssolomin nicht ein herrlicher Mensch! – Dann warf sie die Thür wieder zu und der Schlüssel knarrte wieder im Schloß.

Neshdanow trat an das Fenster und blickte in das Gärtchen . . . ein alter, uralter Apfelbaum schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. . . Er schüttelte und streckte sich – öffnete den Reisekoffer – nahm aber nichts heraus, sondern blieb in Gedanken versunken vor demselben stehen.

Eine Viertelstunde darauf erschien Marianne, die sich gewaschen hatte, mit erfrischtem, lebhaft bewegtem Antlitz, ganz Freude und Eifer. Gleich nach ihr trat auch Tatjana ein mit Theemaschine, Tassen, Brod und Schmand.

Im Gegensatz zu ihrem zigeunerartigen Mann, war Tatjana ein echtes russisches Weib aus dem Volke, wohlbeleibt, stark, mit dunkel-blondem, glatt angekämmtem Haar, das hinten in eine breite Flechte auslief, welche um einen Hornkamm geschlungen war, mit groben, doch angenehmen Gesichtszügen und gutmüthigen grauen Augen. Sie hatte ein sauberes, wenn auch verblichenes Kattunkleid an, ihre Hände waren rein und hübsch, wenn auch groß. Ruhig verbeugte sie sich vor den Gästen, rief ihnen mit fester, klarer Stimme, ohne den gewöhnlichen Singsang zu; »Grüß’ Gott!« – und begann den Tisch zu decken.

Marianne ging auf sie zu.

– Erlauben Sie, Tatjana, ich werde Ihnen helfen. – Geben Sie mir wenigstens das Tischtuch.

– Lassen Sie mich nur machen, Fräulein, unsereins ist daran gewöhnt. Wassili Fedotitsch hat mir’s gesagt. Wenn etwas nöthig ist, befehlen Sie nur, wir sind stets gern bereit Ihnen zu dienen.

– Bitte, Tatjana, nennen Sie mich nicht mehr Fräulein . . . Ich bin wohl so gekleidet, – aber sonst bin ich . . . bin ich ganz. . .

Tatjana’s durchdringender, scharfer Blick verwirrte Marianne – sie verstummte.

– Was werden Sie denn für eine sein? – fragte Tatjana in ihrer ruhigen Weise.

– Wenn Sie wollen bin ich wirklich . . . bin ich eine Adlige; aber ich will mich von Allem lossagen – und werden wie . . . wie die einfachen Frauen.

– Ach so! Nun, jetzt weiß ich’s. Sie gehören also zu denen, die sich mit »vereinfachen« wollen. Jetzt giebt es viele solche Leute.

– Wie sagten Sie, Tatjana? sich vereinfachen?

– Ja wir haben jetzt ein solches Wort. Es bedeutet so sein wie das einfache Volk. Sich vereinfachen. – Nun? Dabei ist ja nichts. Es ist ja ganz gut – dem Volk ein wenig Verstand beibringen. – Es ist nur eine schwierige Sache! o wie schwierig, wie schwierig! – Glück auf!

– Sich vereinfachen! – wiederholte Marianne. – Hörst Du, Alex, wir sind jetzt vereinfachte Leute geworden!

Neshdanow lachte und wiederholte gleichfalls:

– Sich vereinfachen, vereinfachte Leute!

– Wer ist denn das, Ihr Männchen – oder Ihr Bruder? – fragte Tatjana, mit den großen geschickten Händen die Tassen waschend und mit freundlichem Lächeln bald auf Neshdanow, bald auf Marianne blickend.

– Nein, – versetzte Marianne, – es ist weder mein Mann, noch mein Bruder.

Tatjana hob den Kopf.

– Also lebt Ihr aus freier Gnade? Auch das geschieht jetzt sehr oft. – Früher war es nur bei den Naskolniki gebräuchlich – jetzt kommt es aber auch bei andern Menschen vor. – Wenn nur Gottes Segen dabei ist – und man in Frieden und Eintracht lebt! – Dann ist der Priester auch nicht nöthig. Bei uns auf der Fabrik giebt es ja auch solche Leute. Es sind nicht die schlechtesten.

– Was Sie für schöne Worte kennen, Tatjana! . . . »Aus freier Gnade « . . . Wie mir das gefällt! – Hören Sie, Tatjana, was ich Sie bitten möchte. Ich muß mir ein Kleid nähen, oder kaufen, so wie das Ihrige, aber noch einfacher. – Und auch Schuhe und Strümpfe und ein Tuch – Alles, so wie Sie es haben. Das Geld dazu habe ich.

– Warum nicht, Fräuleins Das kann ja Alles gemacht werden. . . Nun gut, ich werde nicht mehr, seien Sie nicht böse ich werde Sie nicht mehr Fräulein nennen. Wie soll ich Sie denn aber nennen?

– Marianne.

– Und wie heißen Sie nach dem Vater?

– Wozu brauchen Sie denn noch den Vaternamen? Nennen Sie mich einfach Marianne. Ich nenne Sie doch Tatjana.

– Das ginge wohl, aber es geht nicht. Sagen Sie es mir doch lieber!

– Nun gut. Mein Vater hieß Wikentij. Und der Ihrige?

– Der meine – Ossip.

– Nun, so werde ich Sie Tatjana Ossipowna nennen.

– Und ich Sie Marianne Wikentjewna. So wird es prächtig gehen!

– Sollten wir nicht ein Täßchen Thee zusammen trinken, Tatjana Ossipowna?

– Vorläufig ginge das schon, Marianne Wikentjewna.

Ein Täßchen könnte ich mir schon schmecken lassen. Aber nicht mehr, sonst wird Jegoritsch schelten.

– Wer ist denn Jegoritsch?

– Paul, mein Mann.

– Setzen Sie sich, Tatjana Ossipowna.