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Rudin

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V

Darja Michailowna’s Tochter, Natalia Alexejewna, konnte auf den ersten Blick nicht gefallen. Sie war noch nicht vollständig ausgebildet, mager, von bräunlicher Gesichtsfarbe, und hielt sich etwas gebückt. Die Züge ihres Gesichtes jedoch waren edel und regelmäßig, obgleich etwas breit für ein siebenzehnjähriges Mädchen. Besonders schön trat ihre reine und glatte Stirn, über den leicht geknickten Augenbrauen hervor. Sie sprach wenig, aber hörte und schaute mit Aufmerksamkeit, fast unverwandten Blickes, als wollte sie sich über Alles Rechenschaft geben. Sie war oft unbeweglich, in Gedanken versunken, und ließ die Arme herabhängen; es zeigte dann ihr Gesicht den Ausdruck innerer Gedankenthätigteit . . . Ein kaum merkliches Lächeln spielte um ihre Lippen und verschwand wieder; die großen dunkeln Augen hoben sich sanft . . .

Qu’avez vous

? pflegte sie dann Mlle. Boncourt zu fragen und ihr vorzuhalten, daß es sich für ein junges Mädchen nicht schicke, den Kopf hängen zu lassen und zerstreut anzusehen. Natalia war aber nicht zerstreut: im Gegentheil, sie lernte fleißig, las und arbeitete gern. Sie fühlte tief und stark, aber im Stillen; schon als Kind hatte sie selten geweint, jetzt seufzte sie sogar selten und wurde nur bleich, wenn etwas sie betrübte. Die Mutter sah in ihr ein wohlgesittetes, vernünftiges Mädchen, nannte sie scherzweise:

mon honnéte homme de fille

, hatte jedoch keine hohe Meinung von ihren Geistesfähigkeiten.



»Meine Natascha ist kalt von Natur – pflegte sie zu sagen – nicht wie ich . . . um so besser. Sie wird glücklich sein.« Darja Michailowna täuschte sich. Uebrigens, nicht jede Mutter kennt ihre Tochter.



Natalia liebte ihre Mutter, hatte aber kein volles Vertrauen zu ihr.



– Du hast Nichts vor mir zu verbergen, sagte ein Mal Darja Michailowna zu ihr: – sonst würdest Du wohl ein wenig geheim thun, denn Du hast Deinen Kopf für Dich.



Natalia blickte ihrer Mutter in’s Gesicht und dachte: »und warum sollte ich nicht meinen Kopf für mich haben?«



Als Rudin sie auf der Terrasse traf, schritt sie eben mit Mlle Boncourt in’s Zimmer, um ihren Hut aufzusetzen und in den Garten zu gehen. Ihre Morgenbeschäftigungen waren bereits beendigt. Man hatte aufgehört, Natalia als Kind zu behandeln, Mlle. Boncourt gab ihr « schon lange keinen Unterricht mehr in der Mythologie und Geographie; doch mußte Natalia jeden Morgen – in ihrer Gegenwart, historische Bücher, Reisebeschreibungen und andere erbauliche Schriften lesen. Darja Michailowna traf die Auswahl, scheinbar einem ihr eigenen Systeme folgend, in der That aber gab sie Natalia Alles, was ihr ein französischer Buchhändler aus Petersburg zuschickte, ausgenommen natürlich Romane von Alexander Dumas Sohn und Comp. Diese Romane las Darja Michailowna selbst. Mlle. Boncourt pflegte ganz besonders streng und sauer Natalia über ihre Brille anzuschauen, wenn Letztere historische Bücher las: nach den Begriffen der alten Französin, war die ganze Geschichte voll unerlaubter Dinge, obgleich sie von den berühmten Männern des Alterthums, Gott weiß warum, nur einzig und allein den Kambyses kannte und aus neuerer Zeit – Ludwig den XIV. und Napoleon, den sie nicht leiden konnte. Natalia las aber auch solche Bücher, deren Dasein Mlle. Boncourt nicht ahnte: sie kannte den ganzen Puschkin auswendig.



Natalia erröthete etwas, als sie mit Rudin zusammentraf.



– Sie wollen spazieren gehen? fragte er sie.



– Ja. Wir gehen in den Garten.



– Darf ich mich Ihnen anschließen?



Natalia sah Mlle. Boncourt an.



Rudin.



– 

Mais certainament, monsieur,


avec plaisir

, rief eilig die alte Jungfer.



Rudin nahm seinen Hut und folgte ihnen.



Anfangs machte es Natalia etwas verlegen, an Rudin’s Seite auf demselben Gartenwege zu wandeln; bald aber wurde es ihr leichter. Er that an sie Fragen über ihre Beschäftigungen, und auch darüber, wie ihr das Leben auf dem Lande gefalle. Sie antwortete ihm nicht ohne Schüchternheit, aber ohne jene sich überstürzende Befangenheit, die so oft für Schamhaftigkeit gehalten wird. Es klopfte ihr das Herz.



– Sie fühlen auf dem Lande keine Langeweile? fragte Rudin, sie mit einem Seitenblick streifend.



– Wie kann man aus dem Lande Langeweile empfinden? Ich bin sehr froh, daß wir hier sind. Ich bin hier sehr glücklich.



– Sie sind glücklich . . . Das ist ein großes Wort. Uebrigens ist es begreiflich: Sie sind jung.



Rudin betonte dies letzte Wort in eigenthümlicher Weise: es war wie eine Anwandlung von Neid und Beileid, die ihn überkam.



– Ja! die Jugend! setzte er hinzu. – Das Bestreben der Wissenschaft ist – mit Bewußtsein das zu erringen, was die Jugend von selbst hat.



Natalia blickte Rudin aufmerksam an: sie hatte ihn nicht verstanden.



– Ich habe mich heute den ganzen Morgen mit Ihrer Mama unterhalten, fuhr er fort: – eine außergewöhnliche Frau. Ich begreife, weßhalb alle unsere Poeten so großen Werth auf ihre Freundschaft legten. Lieben Sie auch Gedichte? setzte er nach einigem Schweigen hinzu:



»Er examinirt mich,« dachte Natalia und sagte: – ja, ich liebe sie sehr.



– Die Poesie ist die Sprache der Götter. Ich selbst liebe Gedichte. Doch nicht in Gedichten allein liegt Poesie: sie ist überall, sie umfängt uns . . . Sehen Sie diese Bäume, diesen Himmel an – von allen Seiten strömt Schönheit und Leben hervor; wo aber Schönheit und Leben, da ist auch Poesie.



– Wollen wir nicht aus der Bank hier Platz nehmen, fuhr er fort. – So. Mir scheint, ich kann mir nicht sagen warum, daß, sobald Sie sich ein wenig an mich werden gewöhnt haben (er blickte ihr hierbei lächelnd in die Augen), wir gute Freunde sein werden. Was meinen Sie?



»Er behandelt mich, wie ein kleines Mädchen,« dachte Natalia wieder, und ungewiß, was sie dazu sagen sollte, fragte sie ihn, ob er noch lange auf dem Lande zu bleiben beabsichtige.



– Den ganzen Sommer, den Herbst und vielleicht auch den Winter. Ich bin, wie Sie wohl wissen, wenig begütert; meine Verhältnisse sind zerrüttet und dann habe ich es auch schon satt, von einem Ort zum andern zu ziehen. Es ist Zeit, daß ich mir Ruhe gönne.



Natalia sah ihn erstaunt an.



– Sie finden wirklich, daß es

für Sie

 Zeit sei auszuruhen? fragte sie schüchtern.



Rudin wandte sein Gesicht ihr zu.



– Was wollen Sie damit sagen?



– Ich will sagen, erwiederte sie mit einiger Verwirrung: – daß Andere sich wohl Ruhe gönnen dürfen; Sie aber . . Sie müssen arbeiten, müssen sich bestreben, Nutzen zu schaffen. Wer denn wohl, wenn nicht Sie . . .



– Ich danke für die schmeichelhafte Meinung, unterbrach sie Rudin. – Nutzen schaffen . . . das ist leicht gesagt! (Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht.) Nutzen schaffen! wiederholte er. – Wenn ich auch die feste Ueberzeugung hätte: auf welche Art ich Nutzen bringen könnte – ja, wenn ich sogar Vertrauen in meine eigene Kraft hätte – wo fände ich wohl lautete, mitfühlende Seelen? . . .



Und Rudin ließ mit so hoffnungsloser Miene die Hand fallen und senkte so betrübt den Kopf, daß Natalia unwillkührlich die Frage an sich stellte: ob sie denn wohl aus

seinem

 Munde Tags zuvor so begeisterte, Hoffnung sprühende Reden gehört habe?



– Doch nein, setzte er hinzu, und schüttelte ungestüm seine Löwenmähne: – Unsinn das, Sie haben Recht. Ich danke Ihnen, Natalia Alexejewna, danke Ihnen von Herzen. (Natalia wußte entschieden nicht, wofür er ihr dankte). Ein Wort von Ihnen hat mich an meine Pflicht erinnert, hat mir meine Bahn vorgezeichnet . . . Ja, ich muß handeln. Ich darf mein Talent, wenn ich es wirklich besitze, nicht verbergen; ich darf meine Kräfte nicht in Geschwätz, in leerem, nichtsnutzigem Geschwätz und eitlem Gerede vergeuden . . .



Und es ergoß sich seine Rede wie ein Strom. Er sprach schön, begeistert, hinreißend – über Kleinmüthigkeit und Trägheit, über die Nothwendigkeit, Thaten zu vollbringen. Er machte sich selbst Vorwürfe, bewies, daß sich über das, was man leisten wolle, im Voraus auszulassen, ebenso nachtheilig wäre, wie wenn man eine reisende Frucht mit einer Nadel anstechen wollte, das sei nur nutzlose Vergeudung der Kräfte und Säfte. Er behauptete, es gäbe keinen edleren Gedanken, der nicht Anklang fände, daß nur jene Menschen unverstanden blieben, die entweder selbst noch nicht wüßten, was sie wollen, oder solche, dir nicht werth seien, verstanden zu werden. Er sprach lange und schloß seine Rede damit, daß er Natalia nochmals dankte, und ganz unerwartet ihr die Hand drückend, sagte: – Sie sind ein herrliches, edles Wesen!



Diese Freiheit setzte Mlle. Boncourt in Erstaunen, die, trotz ihres vierzigjährigen Aufenthalts in Rußland, mit Mühe das Russische verstand und nur die anmuthige Schnelligkeit und das Fließende in der Rede Rudin’s bewunderte. Er galt überhaupt in ihren Augen als eine Art Virtuos oder Künstler, und an Leute dieses Schlages durften keine Schicklichkeitsforderungen gestellt werden.



Sie erhob sich von ihrem Platze und ihr Kleid hastig zurecht klopfend, machte sie Natalia daraus aufmerksam, daß es Zeit sei, heimzukehren, um so mehr, da monsieur Volinsoff (so nannte sie Wolinzow) sich zum Frühstücke habe einfinden wollen.



– Da ist er bereits! fügte sie mit einem Blicke nach einer der Alleen, die zum Hause führten, hinzu.



Und wirklich zeigte sich Wolinzow in einiger Entfernung.



Mit unentschlossenen Schritten trat er näher, begrüßte Alle schon von Weitem und, mit leidendem Ausdrucke im Gesichte, sich zu Natalia wendend, fragte er:



– Ah! sie gehen spazieren?



– Ja, antwortete Natalia, – wir waren im Begriff, nach Hause zurückzukehren.



– Ah! sprach Wolinzow. – Nun, so wollen wir gehen.



Und Alle machten sich nach dem Hause auf.



– Wie ist das Befinden Ihrer Schwester? fragte Rudin mit besonders theilnehmender Stimme Wolinzow. Auch am Abende vorher war er sehr freundlich gegen ihn gewesen.

 



– Ich danke recht sehr. Sie befindet sich wohl. Sie wird vielleicht heute kommen . . . Sie unterhielten sich vorhin, wie mir schien, als ich herkam?



– Ja, wir unterhielten uns. Natalia Alexejewna hat ein Wort fallen lassen, das eine gewaltige Wirkung auf mich hervorgebracht hat . . .



Wolinzow fragte nicht, was für ein Wort das gewesen sei, und in tiefem Schweigen erreichten Alle das Haus der Darja Michailowna.



* * *

Vor dem Essen fand sich die Gesellschaft wieder im Salon ein. Pigassow jedoch erschien nicht. Rudin war nicht aufgelegt; er bat fortwährend Pandalewski, aus Beethoven vorzuspielen. Wolinzow schwieg und schaute vor sich hin. Natalia blieb der Mutter immer zur Seite, und war bald in Gedanken versunken, bald mit ihrer Arbeit beschäftigt. Bassistow verwandle die Augen nicht von Rudin, immer in der Erwartung, er werde etwas Kluges vorbringen. So vergingen ziemlich einförmig drei Stunden. Alexandra Pawlowna kam nicht zu Mittag – und Wolinzow ließ, gleich nach beendigter Tafel seine Kalesche anspannen und fuhr davon, ohne von Jemand Abschied genommen zu haben.



Er fühlte sich beklommen. Schon lange liebte er Natalia, hatte es aber noch nicht gewagt, ihr seine Neigung zu gestehen, und unter diesem ängstlichen Zustande litt er aufs Grausamste . . . Sie sah ihn gerne – doch blieb ihr Herz ruhig: darüber täuschte er sich nicht. Er hatte auch nicht gehofft, ihr zärtlichere Gefühle einzuflößen und erwartete nur, sie werde mit der Zeit, wenn sie sich vollkommen an ihn gewöhnt haben würde, ihm näher stehen. Was konnte ihn denn beunruhigen? Was für eine Veränderung hatte er in diesen paar Tagen wahrgenommen? Natalia’s Benehmen gegen ihn war ganz so wie vorher . . .



War es die Befürchtung: er kenne Natalia’s Charakter nicht, sie sei ihm fremder, als er geglaubt habe – war’s Eifersucht, die in ihm erwacht war, oder hatte er eine dunkele Ahnung von etwas Schlimmen . . . genug, er litt, so sehr er sich auch zu beherrschen suchte.



Als er bei seiner Schwester eintrat, saß Leschnew bei ihr.



– Warum so früh zurückgekehrt? fragte Alexandra Pawlowna.



– Ich weiß es selbst nicht! ich langweilte mich.



– War Rudin da?



– Er war da.



Wolinzow warf seine Mütze hin und setzte sich.



Alexandra Pawlowna wandte sich mit Lebhaftigkeit zu ihm.



– Ich bitte Dich, Sergei, hilf mir diesem starrsinnigen Menschen da – sie wies dabei auf Leschnew – begreiflich zu machen, daß Rudin ungewöhnlich klug und beredt ist.



Wolinzow brummte etwas in den Bart.



– Ich widerstreite Ihnen durchaus nicht, begann Leschnew: – ich zweifle nicht an Rudin’s Geist und Beredtsamkeit; ich sage bloß, daß er mir nicht gefällt.



– Hast Du ihn denn gesehen? fragte Wolinzow.



– Ich habe ihn heute Morgen bei Darja Michailowna gesehen. Er ist ja jetzt ihr Großvezier. Es wird die Zeit kommen, wo sie auch ihn verabschiedet – von Pandalewski allein wird sie sich niemals trennen – jetzt aber herrscht jener. Ja wohl, ich habe ihn gesehen! Er saß da – und sie zeigte mich ihm: da schauen Sie einmal, mein Bester, was für sonderbare Kerle wir hier haben. Ich bin kein Zuchtpferd – bin es nicht gewohnt, vorgeführt zu werden. Da bin ich ohne Umstände davongefahren.



– Warum warst Du denn aber bei ihr?



– Wegen einer Vermessung; aber das ist nur ein Vorwand: sie wollte sich ganz einfach meine Physiognomie besehen. Eine große Dame – wir kennen das!



– Seine Ueberlegenheit ist Ihnen störend – das ist es! sagte mit Feuer Alexandra Pawlowna: – das ist es, was Sie ihm nicht vergeben können. Ich aber bin überzeugt, daß er nicht nur Verstand, sondern auch ein vortreffliches Herz hat. Betrachten Sie nur seine Augen, wenn er . . .



– »Von hoher Tugend spricht . . . «

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  aus Gribojedaw. D. Uebersetzer.



 aus Gribojedaw. D. Uebersetzer.] setzte Leschnew hinzu.



– Sie werben mich böse machen und zum Weinen bringen.



Es thut mir in der Seele leid, daß ich bei Ihnen geblieben und nicht zu Darja Michailowna gefahren bin. Sie waren es nicht werth. Hören Sie auf, mich zu reizen, setzte sie mit weinerlicher Stimme hinzu. – Es wird besser sein, Sie erzählen mir Etwas aus seinen Jugendjahren.



– Aus Rudin’s Jugendjahren?



– Ja doch. Sie sagten mir ja, Sie kennten ihn gut und seien schon lange mit ihm bekannt.



Leschnew erhob sich und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.



– Ja, begann er: – ich kenne ihn gut. Sie wollen, daß ich Ihnen seine Jugend erzähle? Wohlan! Er ist in T. geboren, eines armen Gutsbesitzers Kind. Sein Vater starb früh und er blieb mit der Mutter allein. Sie war eine herzensgute Frau und liebte ihn über Alles; sie lebte sehr sparsam, und das wenige Geld, was sie hatte, gab sie für ihn aus. Seine Erziehung hat er in Moskau erhalten, anfänglich auf Kosten eines Oheims, dann aber, als er aufgewachsen und flügge geworden war, auf Rechnung eines reichen Fürstensöhnchens, den er ausgewittert hatte . . . schon gut, verzeihen Sie, ich werde nicht mehr . . . mit welchem er sich befreundet hatte. Dann bezog er die Universität. Dort wurde ich mit ihm bekannt und sehr intim. Von unserem damaligen Leben erzähle ich Ihnen ein anderes Mal. Jetzt geht es nicht. Dann reiste er in’s Ausland . . .



Leschnew ging noch immer im Zimmer auf und ab; Alexandra Michailowna folgte ihm mit den Blicken.



– Aus dem Auslande, fuhr er fort: – schrieb Rudin seiner Mutter äußerst selten und hat sie nur ein Mal besucht, auf zehn Tage . . . Die Alte starb auch in seiner Abwesenheit in fremden Armen, hat aber bis zu ihrem Todesstündchen nicht das Auge von seinem Bildnisse verwandt. Als ich in T. lebte, besuchte ich sie. Sie war eine gute, überaus gastfreie Frau und pflegte mir immer eingemachte Kirschen vorzusehen. Ihren Mitja liebte sie unsäglich. Die Herren aus der Petschorinschen Schule

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  Petschorin, der Held in Lermontoff’s Roman: der »Held unserer Zeit.« D. Uebersetzer.



 werden Ihnen sagen, daß wir immer Diejenigen lieben, die selbst wenig fähig sind, Liebe zu fühlen; mir aber scheint es, daß alle Mütter ihre Kinder lieben, besonders die fern von ihnen Weilenden. Später traf ich mit Rudin im Auslande zusammen. Dort hatte ihn eine Dame, eine unserer russischen Damen, an sich gezogen, ein Blaustrumpf, weder jung noch hübsch, wie sich’s auch für einen Blaustrumpf schickt. Ziemlich lange schleppte er sich mit ihr umher und ließ sie dann im Stich . . . – doch nein, entschuldigen Sie: sie ließ ihn im Stiche. Und auch ich verließ ihn zu jener Zeit. Das ist Alles.



Leschnew schwieg, strich mit der Hand über die Stirn und ließ sich wie erschöpft auf einen Lehnstuhl nieder.



– Wissen Sie aber wohl, Michael Michailitsch, begann Alexandra Pawlowna: – Sie sind, wie ich sehe, ein boshafter Mensch; wahrhaftig, Sie sind nicht besser als Pigassow. Ich bin überzeugt, daß Alles, was Sie gesagt haben, wahr ist, daß Sie nichts hinzugedichtet haben, und dennoch, in welch’ mißgünstigem Lichte haben Sie das Alles dargestellt! Die alte Frau, ihre Mutterliebe, ihr einsamer Tod, jene Dame . . . Wozu alles das? . . .



Wissen Sie wohl, man kann das Leben des allerbesten Menschen mit solchen Farben schildern – ohne Etwas hinzuzufügen, wohl verstanden – daß sich Jeder davor entsetzen wird! Das ist auch Verleumdung in ihrer Art!



Leschnew erhob sich und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen.



– Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Ihnen Entsetzen einzuflößen, Alexandra Pawlowna, brachte er endlich heraus. – Ich bin kein Verleumder. Uebrigens, setzte er nach einigem Schweigen hinzu: – in Dem, was Sie gesagt haben, ist ein Theil Wahrheit. Ich habe Rudin nicht verleumdet; doch – wer weiß! – vielleicht hat er sich seit jener Zeit verändert – vielleicht bin ich ungerecht gegen ihn.



– Da haben Sie es! . . . Versprechen Sie mir also, daß Sie die Bekanntschaft mit ihm erneuern, ihn gehörig ergründen und mir dann erst Ihre schließliche Meinung über ihn sagen wollen.



– Wenn Sie es wünschen . . . Warum schweigst Du aber, Sergei Pawlitsch?



Wolinzow fuhr zusammen und erhob den Kopf, als hätte man ihn aus dem Schlafe gerüttelt.



– Was sollte ich sagen? Ich kenne ihn nicht. Uebrigens habe ich heute Kopfweh.



– Du bist Wirklich etwas bleich, bemerkte Alexandra Pawlowna.



– Ich habe Kopfweh, wiederholte Wolinzow und verließ das Zimmer.



Alexandra Pawlowna und Leschnew sahen ihm nach und tauschten einen Blick mit einander, doch ohne ein Wort zu sprechen. Weder ihm, noch ihr, war es ein Geheimniß, was im Herzen Wolinzow’s vorging.



VI

Ueber zwei Monate waren vergangen. Während dieser ganzen Zeit war Rudin fast nicht aus Darja Michailowna’s Hause gekommen. Sie konnte ihn nicht mehr entbehren. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, ihm von sich zu erzählen und sich von ihm erzählen zu lassen. Ein Mal hatte er abreisen wollen, unter dem Vorwande, seine Geldmittel seien erschöpft – sie gab ihm fünfhundert Rubel, was ihn nicht hinderte, weitere Zweihundert von Wolinzow zu borgen. Pigassow besuchte Darja Michailowna bedeutend seltener als vorher: Rudin übte durch seine Gegenwart auf ihn einen Druck aus, den übrigens Pigassow nicht allein empfand.



– Ich mag ihn nicht, diesen eingebildeten Menschen, pflegte er zu sagen: – seine Ausdrucksweise ist unnatürlich, ganz so wie bei den Helden in russischen Romanen. Mit einem: Ich fängt er an, hält dann wie gerührt inne . . . »Ich, also, ich . . . « Und er zieht die Worte so lang. Habt Ihr geniest, so wird er Euch sogleich auseinander setzen, warum Ihr genießt und nicht gehustet habt . . . lobt er Euch, so klingt es, als befördere er Euch zu einer höhern Rangstufe . . . fängt er aber an, sich selbst zu schelten, dann zieht er sich geradezu in den Schmutz herab – nun, denkt Ihr, der darf sich jetzt nicht mehr bei Tageslicht zeigen! Nichts davon! Noch heiterer stimmt Es ihn, so daß man glauben könnte, jene bitteren Worte hätten ihm nur zur Erfrischung und Kräftigung gedient, wie ein Schluck bitteren Schnapses! Pandalewski empfand Eine gewisse Scheu vor Rudin und machte ihm mit einiger Vorsicht den Hof. Wolinzow’s Stellung, Rudin gegenüber, war eigenthümlicher Art. Dieser nannte ihn einen Ritter und rühmte ihn, er mochte zugegen sein oder nicht, über die Maßen; Wolinzow aber konnte ihn nicht lieb gewinnen, und seine schmeichelhaftesten Complimente erzeugten in ihm unwillkürlich Ungeduld und Aerger. »Er macht sich wohl gar über mich lustig?« dachte er, und eine feindselige Stimmung überschlich ihn dann. Wolinzow versuchte Herr über sich zu werden; es ging nicht; die Eifersucht nagte heimlich an ihm. Aber auch Rudin, der Wolinzow stets geräuschvoll entgegenkam, ihn einen Ritter nannte und Geld bei ihm borgte, fühlte sich nichts weniger als zu ihm hingezogen. Es wäre nicht leicht zu bestimmen gewesen, was in beiden Männern vorging, wenn sie einander freundschaftlich die Hände drückten und ihre Blicke sich begegneten . . .



Bassistow fuhr fort, vor Rudin die äußerste Hochachtung zu empfinden und jedes seiner Worte im Fluge zu haschen. Dieser aber beachtete ihn wenig, Ein Mal brachte er mit ihm einen ganzen Morgen zu, unterhielt sich von den wichtigsten Weltfragen und Weltausgaben und erregte in ihm das lebhafteste Entzücken, nachher beachtete er ihn nicht mehr . . . Es war demnach nur eitles Gerede gewesen, wenn er nach reinen und ergebenen Seelen Verlangen geäußert hatte. Mit Leschnew, der mit seinen Besuchen bei Darja Michailowna begonnen hatte, ließ Rudin sich niemals in einen Wettstreit ein, ja er schien ihm auszuweichen. Leschnew seinerseits behandelte ihn gleichfalls kalt, ließ aber immer noch nicht seine letzte Meinung über ihn laut werden, was Alexandra Pawlowna sehr unangenehm berührte. Sie beugte sich vor Rudin – zu Leschnew aber hatte sie Vertrauen. Alle im Hause Darja Michailowna’s unterwarfen sich den Launen Rudin’s: seinen geringsten Wünschen wurde nachgekommen. Die Vertheilung der täglichen Beschäftigungen hing von ihm ab. Nicht eine einzige

partie de plaisir

 konnte ohne ihn zu Stande kommen. Alle unerwarteten Ausflüge und Ueberraschungen waren übrigens nicht sehr nach seinem Geschmack, und er nahm Theil daran wie Erwachsene am Spiel der Kinder, mit freundlicher und etwas gelangweilter Miene. Dagegen mischte er sich in Alles: raisonnirte mit Darin Michailowna über Gutsverwaltung, Kindererziehung, Wirthschafts – und Geschäftsangelegenheiten überhaupt; hörte ihre Pläne an, schätzte auch Unwichtiges nicht zu gering und schlug Verbesserungen und Neuerungen vor. Darja Michailowna war entzückt darüber – doch dabei blieb es. Bezüglich der Gutsverwaltung folgte sie den; Rathschlägen ihres Verwalters, eines ältlichen, einäugigen Kleinrussen, eines gutmüthigen, doch listigen Schelmes. – »Das Alte ist fett, das Neue ist hager,« pflegte er zu sagen, und schmunzelte und blinzelte dabei wohlgefällig.

 



Außer mit Darja Michailowna hatte Rudin mit Niemandem so häufige und lange Unterredungen wie mit Natalia. Er steckte ihr insgeheim Bücher zu, vertraute ihr seine Pläne und lag ihr die ersten Seiten künftiger; Aufsätze und Werke vor. Das Verständniß dafür fehlte ihr oft, doch daran lag Rudin anscheinend wenig, wenn sie ihn nur anhörte. Dieses nahe Verhältniß zu Natalia war Darja Michailowna nicht ganz unangenehm. Mag sie immerhin – dachte sie – mit ihm hier auf dem Lande schwatzen. Er findet Gefallen an ihr, wie an einem kleinen Mädchen. Gefahr ist nicht dabei, und jedenfalls! lernt sie von ihm. . . In Petersburg will ich das Alles anders einrichten.



Darja Michailowna täuschte sich. Nicht wie ein kleines Mädchen schwatzte Natalia mit Rudin: sie rauschte gierig seinen Worten, bemühte sich, in den Sinn derselben einzudringen und unterwarf seinem Urtheile ihre Gedanken, ihre Zweifel; er war ihr Erzieher, ihr Führer. Für’s Erste kochte es bei ihr nur im Kopfe . . . in einem jungen Kopfe kocht es aber nicht lange, ohne daß das Herz auch ein Wort mitredet. Was für wonnevolle Minuten verbrachte Natalia, wenn, wie es oft vorkam, Rudin im Garten auf einer Bank, im leichten und lichten Schatten einer Eiche, anfing ihr Göthe’s Faust, Hoffmann, die Briefe Bettina’s oder Novalis vorzulesen, und er sich dabei beständig unterbrach, um ihr zu erläutern, was ihr dunkel schien! Sie sprach das Deutsche nicht gut, wie fast alle unsere jungen Damen, verstand es aber vollkommen, und Rudin war ganz in deutscher Poesie, deutscher Romantik und deutscher Philosophie versunken und zog Natalia nach sich in jene höheren Regionen. Eine unbekannte, erhabene Welt enthüllte sich dem aufmerksamen Blicke des jungen Mädchens. Von den Seiten des Buches, das Rudin in der Hand hielt, strömten gleich einer Fluth entzückender Musik wunderbare Bilder, neue, lichte Gedanken unaufhörlich in ihre Seele über, und in ihrem Herzen, das von edler Freude hoher Empfindungen erschüttert worden, erglimmte und entbrannte sanft der heilige Funken der Entzückung . . .



– Sagen Sie doch, Dmitri Nikolaitsch, redete sie ihn einst an, als sie vor ihrem Stickrahmem am Fenster saß: – Sie werden für den Winter wohl nach Petersburg fahren?



Ich weiß es nicht, erwiederte Rudin, das Buch, in welchem er herumblätterte, auf die Kniee senkend lassend: – wenn ich die Mittel dazu auftreibe, fahre ich hin.



Er sprach träge: er fühlte sich ermattet und war den ganzen Morgen über müßig gewesen.



– Wie sollten Sie die nicht finden?



Rudin schüttelte den Kopf.



– Ihnen däucht es so!



Und er warf einen bedeutsamen Seitenblick auf sie.



Natalia wollte Etwas sagen, hielt jedoch inne.



– Sehen Sie, begann Rudin und wies mit der Hand nach dem Fenster: – sehen Sie jenen Apfelbaum: er ist gebrochen unter der Last und Fülle seiner Früchte. Ein treues Sinnbild des Genies . . .



– Er ist gebrochen, weil er keine Stütze gehabt hat, erwiederte Natalia.



– Ich verstehe Sie, Natalia Alexejewna; es ist aber für den Menschen nicht so ganz leicht, sie zu finden, diese Stütze, – Mir scheint, das Mitgefühl Anderer . . . Einsamkeit aber muß jedenfalls . . .



Natalia verwirrte sich ein wenig und wurde roth.



– Und was wollen Sie im Winter auf dein Lande anfangen? setzte sie rasch hinzu.



– Was ich anfangen werde? Ich werde meine große Abhandlung beendigen – Sie wissen – vom Tragischen im Leben und in der Kunst – ich setzte Ihnen vorgestern den Plan auseinander – und werde Ihnen den Aufsatz zustellen.



– Und werden ihn drucken lassen?



– Nein.



– Warum aber nicht? Für wen wollen Sie denn arbeiten?



– Nun, wenn es für Sie wäre?



Natalie senkte den Blick.



– Das wäre für meinen Verstand zu hoch.



– Wovon handelt, wenn ich fragen darf, der Aufsatz? fragte bescheiden Bassistow, der in einiger Entfernung saß.



– Vom Tragischen im Leben und in der Kunst, wiederholte Rudin. – Hier, Herr Bassistow wird ihn auch lesen. Uebrigens bin ich in Betreff des Grundgedankens noch nicht mit mir im Reinen. Ich habe mir bis jetzt noch nicht hinreichend die tragische Bedeutung der Liebe klar gemacht.



Rudin ließ sich gern und häufig über Liebe aus. Beim Worte: Liebe war Mlle. Boncourt bisher immer zusammengefahren und hatte die Ohren gespitzt wie ein alter Schlachtgaul, der die Trompeten hört; nachher aber wurde sie es gewohnt und begnügte sich, die Lippen zusammen zu ziehen und in Zwischenräumen Tobak zu schimpfen.



– Mich dünkt, bemerkte Natalia schüchtern: – das Tragische in der Liebe – das ist die unglückliche Liebe.



– Keineswegs! erwiederte Rudin: – das ist eher die komische Seite in der Liebe . . . Man muß diese Frage ganz anders stellen . . . tiefer hineingreifen . . . Die Liebe! fuhr er fort: – in ihr ist Alles Geheimniß, wie sie kommt, wie sie sich entwickelt, wie sie verschwindet. Bald zeigt sie sich plötzlich, unzweideutig, freudig, wie der Tag; bald glimmt sie lange, wie die Gluth unter der Asche, und bricht als Flamme in der Seele aus, wenn Alles bereits zerstört ist; bald schleicht sie sich schlangenhaft in’s Herz hinein und unerwartet wieder hinaus . . . Ja, ja; das ist eine bedeutsame Frage. Und wer liebt wohl zu jetziger Zeit? wer erkühnt sich zu lieben?



Rudin wurde nachdenkend.



– Weshalb zeigt sich aber Sergei Pawlitsch schon so lange nicht mehr? fragte er plötzlich.



Natalia wurde über und über roth und senkte den Kopf auf ihren Stielrahmen.



– Ich weiß es nicht, antwortete sie leise.



– Was für ein herrlicher, vortrefflicher Mensch, sagte aufstehend Rudin. – Das ist einer der besten Vertreter des jetzigen russischen Adels . . .



Mlle. Boncourt betrachtete ihn von der Seite mit ihren kleinen, französischen Augen.



Rudin ging einige Male durch’s Zimmer.



– Haben Sie vielleicht die Bemerkung gemacht, hub er an, sich rasch auf den Absätzen umdrehend: – daß die Eiche – und die Eiche ist ein starker Baum – ihr altes Laub erst dann abwirft, wenn das neue bereits hervorzubrechen beginnt?



– Ja, erwiederte langsam Natalia: – ich habe das beobachtet.



– Ganz dasselbe ist auch der Fall mit alter Liebe in einem starken Herzen: sie ist bereits abgestorben, hält sieh aber noch immer; und nur eine andere, neue Liebe vermag sie zu verdrängen.



Natalia erwiederte nichts.



»Was soll das bedeuten?« dachte sie.



Rudin blieb eine Weile stehen, schüttelte die Haare und entfernte sich.



Natalia ging auf ihr Zimmer. Lange blieb sie in Nachdenken versunken auf ihrem Bettchen sitzen, lange dachte sie über die letzten Worte Rudin’s nach, drückte plötzlich die Hände zusammen und brach in Thränen aus. Worüber sie geweint hat – das weiß Gott allein! Sie selbst wußte nicht, warum sie so plötzlich weinen mußte. Sie trocknete ihre Thränen, doch von Neuem flossen sie, gleich dem Wasser einer lange verhaltenen Quelle.



* * *

An eben diesem Tage war Rudin der Gegenstand eines Gespräches zwischen Alexandra Pawlowna und Leschnew. Anfangs wollte Letzterer sich durch Schweigen abfinden; sie hatte es aber daraus angesetzt, Etwas aus ihm herauszubringen.



– Ich sehe, sagte sie zu ihm: – Dmitri Nikolajewitsch gefällt Ihnen nach wie vor nicht. Ich habe Sie absichtlich bis heute nicht befragt; jetzt aber müssen Sie die Gewißheit gewonnen haben, ob in ihm eine Veränderung vorgegangen ist und ich wünsche zu erfahren, weshalb er Ihnen nicht gefällt.



– Sehr wohl, erwiederte Leschnew mit gewohntem Phlegma: – wenn Sie wirklich so ungeduldig sind; doch, merken Sie sich’s, Sie müssen nicht böse werden . . .



– Nun, fangen Sie an, fangen Sie an.



– Und lassen Sie mich ausreden, bis zu Ende.



– Gut, gut;