Oblomow

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Sein Erscheinen auf der Welt wurde wohl kaum von irgend jemand außer von seiner Mutter bemerkt; sehr wenige bemerken ihn während seines Lebens; es wird wohl aber niemand bemerken, wie er aus der Welt verschwinden wird, niemand wird fragen, sein Bedauern ausdrücken, aber auch niemand wird sich über seinen Tod freuen. Er hat weder Feinde noch Freunde, aber eine Menge Bekannte. Vielleicht wird sein Leichenzug die Aufmerksamkeit des Passanten auf sich lenken, der dieser unbestimmten Persönlichkeit durch eine tiefe Verbeugung die ihr zum ersten Male zuteil werdende Ehrenbezeugung erweisen wird; vielleicht wird sogar ein Neugieriger der Prozession nachlaufen, um den Namen des Toten zu erfahren, den er sogleich wieder vergißt.



Dieser ganze Alexejew, Wassiljew, Andrejew, oder wie Sie sonst wollen, daß er heißt, ist ein unvollständiger, unpersönlicher Abklatsch der Masse, ihr dumpfer Widerhall und unklarer Widerschein. Sogar Sachar, der in offenherzigen Gesprächen in den Versammlungen beim Haustor oder im Krämerladen eine scharfe Charakteristik aller Gäste, die seinen Herrn besuchten, entwarf, wurde immer verlegen, wenn dieser ... sagen wir Alexejew an die Reihe kam. Er dachte lange nach, suchte lange irgendeinen scharfen Zug, an dem man sich festhalten könnte, im Äußern, in den Manieren oder im Charakter dieses Menschen zu entdecken, zuckte endlich die Achseln und drückte sich so aus: »Und dieser ist weder Fisch noch Fleisch noch Gemüse!«



»Ah!« empfing ihn Oblomow, »das sind Sie, Alexejew? Guten Tag. Woher? Kommen Sie nicht in meine Nähe; ich gebe Ihnen nicht die Hand. Sie bringen Kälte herein!«



»Aber es ist ja gar nicht kalt! Ich hatte nicht die Absicht, heute zu Ihnen zu kommen«, sagte Alexejew, »ich bin aber Owtschinin begegnet, und er hat mich mitgenommen. Ich komme, um Sie abzuholen, Ilja Iljitsch.«



»Wohin denn?«



»Kommen Sie zu Owtschinin mit. Dort sind Matwjej Andreitsch Oljanow, Kasimir Albertitsch Pchailo und Wassili Sewastjanitsch Kolimjagin.«



»Wozu haben sie sich dort versammelt, und wozu brauchen sie mich?«



»Owtschinin ladet Sie zum Mittagessen ein.«



»Hm! zum Mittagessen ...« wiederholte Oblomow eintönig.



»Und dann fahren alle nach Jekaterinhof; er wird Ihnen sagen lassen, Sie möchten einen Wagen neh men.«



»Und was wird man dort tun?«



»Was! Heut ist doch Korso dort. Wissen Sie nicht? Heute ist der erste Mai!«



»Setzen Sie sich; wir werden uns die Sache überlegen ...« sagte Oblomow.



»Stehen Sie doch auf! Es ist Zeit, sich anzukleiden.«



»Warten Sie ein wenig, es ist ja noch früh.«



»Es ist gar nicht mehr früh! Er hat gebeten, Sie möchten um zwölf Uhr kommen; wir werden etwas früher essen, damit wir um zwei Uhr schon fertig sind, und fahren dann zum Korso. Gehen wir also gleich! Soll ich Ihnen die Kleider geben lassen?«



»Wieso die Kleider? Ich habe mich noch nicht gewaschen.«



»Waschen Sie sich also.«



Alexejew begann im Zimmer auf und ab zu gehen, blieb dann vor einem Bilde stehen, das er tausendmal früher gesehen hatte, blickte flüchtig zum Fenster hinaus, nahm irgendeinen Gegenstand von der Etagere herunter, drehte ihn in den Händen herum, betrachtete ihn von allen Seiten, legte ihn dann hin und begann wieder pfeifend auf und ab zu gehen, um Oblomow beim Aufstehen und Waschen nicht zu stören. So vergingen zehn Minuten.



»Was ist denn mit Ihnen«, fragte plötzlich Alexejew Ilja Iljitsch.



»Was denn?«



»Sie liegen ja noch immer!«



»Muß ich denn aufstehen?«



»Aber gewiß! Man erwartet uns. Sie wollten ja mitkommen.«



»Wohin denn? Ich wollte nirgends mitkommen ...«



»Wir haben doch eben davon gesprochen, daß wir zu Owtschinin zum Essen, und dann nach Jekaterinhof fahren ...«



»Ich soll in dieser Nässe fahren! Und was gibt es dort Besonderes? Es sieht nach Regen aus, es wird trüb«, sagte Oblomow träge.



»Es ist kein Wölkchen am Himmel, und Sie denken sich einen Regen aus! Es ist deshalb trübe, weil die Fenster bei Ihnen schon sehr lange nicht mehr geputzt worden sind. Wieviel Schmutz darauf ist! Man sieht nichts, und außerdem ist die eine Jalousie fast ganz geschlossen.«



»Ja, erwähnen Sie das nur einmal in Sachars Anwesenheit, da wird er Ihnen gleich Abwaschfrauen vorschlagen und mich für den ganzen Tag aus dem Hause jagen!«



Oblomow sann nach, während Alexejew mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, an dem er saß, und die Augen zerstreut über die Wände und die Zimmerdecke irren ließ.



»Also wie wird es sein? Was tun wir? Ziehen Sie sich an oder bleiben Sie so?« fragte er nach ein paar Minuten.



»Wohin?«



»Nach Jekaterinhof!«



»Was finden Sie denn an diesem Jekaterinhof!« antwortete Oblomow ärgerlich. »Können Sie denn hier nicht sitzenbleiben? Ist es denn kalt im Zimmer oder ist hier schlechte Luft, daß Sie hinaus wollen?«



»Nein, ich fühle mich bei Ihnen immer wohl; ich bin hier zufrieden«, sagte Alexejew.



»Also, wenn es hier schön ist, wozu dann anderswohin wollen? Bleiben Sie lieber den ganzen Tag bei mir, essen Sie hier zu Mittag, und gehen Sie dann abends, wenn es sein muß ... Übrigens, ich habe ganz vergessen: ich kann ja gar nicht mitfahren! Tarantjew kommt zum Essen; es ist ja heute Samstag.«



»Wenn es so ist ... gut ... wie Sie wollen ...« sagte Alexejew.



»Habe ich Ihnen noch nichts von meinen Angelegenheiten erzählt?« fragte Oblomow lebhaft.



»Von welchen Angelegenheiten? Ich weiß nichts«, antwortete Alexejew, ihn neugierig anblickend.



»Wissen Sie, warum ich so lange nicht aufstehe? Ich habe immer dagelegen und habe nachgedacht, wie ich mich von der Verlegenheit befreien soll.«



»Was ist es denn?« fragte Alexejew und bestrebte sich, ein erschrockenes Gesicht zu machen.



»Ich habe ein doppeltes Unglück! Ich weiß nicht, was ich tun soll.«



»Was denn für eins?«



»Man jagt mich aus der Wohnung heraus, denken Sie sich – ich soll umziehen: das Einpacken, die Schererei ... es ist schrecklich, daran zu denken! Ich wohne doch nun acht Jahre in dem Hause. Der Hausherr hat mir einen Streich gespielt und sagt: ›Räumen Sie schnell die Wohnung.‹«



»Und noch dazu schnell! Es muß also sein. Das Umziehen ist etwas sehr Unangenehmes; damit sind immer viele Scherereien verbunden«, sagte Alexejew. »Vieles wird zerschlagen und geht verloren – das ist sehr langweilig! Und Sie haben eine so schöne Wohnung ... Was zahlen Sie?«



»Wo findet man eine zweite solche Wohnung«, sagte Oblomow, »und noch dazu in der Eile? Die Wohnung ist trocken und warm; es ist ein ruhiges Haus; man hat mich nur einmal bestohlen. Die Zimmerdecke schaut ganz unzuverlässig aus, der Mörtel ist ganz lose daran, fällt aber doch nicht herab.«



»Wirklich?« sagte Alexejew, den Kopf hin und her wiegend.



»Wie soll man es einrichten, daß ich nicht umziehen muß?« sagte Oblomow grübelnd vor sich hin.



»Haben Sie Ihre Wohnung kontraktlich gemietet?« fragte Alexejew, das Zimmer von der Decke bis zum Fußboden musternd.



»Ja, aber der Kontrakt ist abgelaufen; ich habe die ganze Zeit monatlich gezahlt ... ich weiß aber nicht wie lange.«



Beide sannen nach.



»Was haben Sie also vor?« fragte Alexejew nach einem Schweigen, »ziehen Sie um oder bleiben Sie?«



»Ich habe gar nichts vor«, sagte Oblomow, »ich will gar nicht daran denken. Sachar soll etwas erfinden.«



»Und manche Menschen lieben das Umziehen«, sagte Alexejew, »das Wohnungswechseln ist ihr einziges Vergnügen ...«



»Nun, dann sollen die ›Manchen‹ auch umziehen! Aber ich kann alle diese Veränderungen nicht ausstehen! Die Wohnung ist noch das wenigste! Schauen Sie einmal, was mir der Dorfschulze schreibt. Ich werde Ihnen gleich den Brief zeigen ... Wo ist er? Sachar, Sachar!«



»Ach du himmlische Jungfrau!« krächzte Sachar in seinem Zimmer, indem er von der Ofenbank heruntersprang: »Wann wird mich Gott zu sich rufen?«



Er kam herein und blickte den Herrn mit trüben Augen an.



»Warum hast du den Brief nicht gefunden?«



»Wo soll ich ihn finden? Weiß ich denn, was für einen Brief Sie brauchen? Ich kann nicht lesen.«



»Das ist ganz gleich, suche nur«, sagte Oblomow.



»Sie haben gestern abend irgendeinen Brief gelesen«, sprach Sachar, »und dann hab' ich ihn nicht mehr gesehen.«



»Wo ist er denn«, entgegnete Oblomow ärgerlich. »Ich hab' ihn nicht verschluckt. Ich erinnere mich sehr gut, daß du ihn mir fortgenommen und irgendwohin gelegt hast. Schau einmal nach, wo er ist!«



Er schüttelte die Decke; der Brief fiel aus den Falten auf den Fußboden.



»Sie schieben immer alles auf mich ...«



»Nun, geh nur, geh nur!« Oblomow und Sachar schrien zu gleicher Zeit einander an. Sachar ging, und Oblomow begann den Brief zu lesen, dessen graues Papier mit Kwaß beschrieben zu sein schien und der mit braunem Siegellack versiegelt war.



»Geehrter Herr«, begann Oblomow, »Euer Wohlgeboren, unser Vater und Ernährer, Ilja Iljitsch ...!«



Er übersprang ein paar Begrüßungsworte und Wünsche für sein Wohlergehen und las aus der Mitte weiter:



»Ich berichte Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren, daß auf Deinem Gut, Du unser Ernährer, alles in Ordnung ist. Wir haben schon seit fünf Wochen keinen Regen. Der Herrgott zürnt uns wohl, da er uns keinen Regen sendet. Selbst die Alten können sich einer solchen Dürre nicht erinnern. Die Sommersaaten sind wie vom Feuer verbrannt. Die Wintersaaten sind an manchen Stellen von Würmern zernagt, und an manchen Stellen haben frühzeitige Fröste sie zugrunde gerichtet; wir haben sie zu Sommersaaten umgepflügt, wissen aber nicht, ob es geraten wird! Vielleicht wird der barmherzige Gott Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren helfen, um uns sorgen wir uns nicht, wir sollen nur krepieren. Und zu Johanni sind noch drei Bauern fort: Laptjew, Balotschow und Wassjka, der Sohn vom Schmied ist allein fort. Ich hab' die Weiber nach den Männern geschickt. Die Weiber sind nicht zurückgekehrt und leben, wie man sagt, in Tscholki, und mein Gevatter aus Werchljewo ist auch nach Tscholki gefahren, der Verwalter hat ihn hingeschickt; man soll einen ausländischen Pflug hingebracht haben, und der Verwalter hat den Gevatter nach Tscholki geschickt, damit er diesen Pflug anschaue. Ich habe dem Gevatter von den flüchtigen Bauern erzählt; ich habe mich dem Kreisrichter zu Füßen geworfen, er hat gesagt: ›Reiche ein Papier ein, dann werden wir die Bauern nach ihrem früheren Wohnort zurückschicken‹, sonst hat er nichts gesagt, und ich bin ihm zu Füßen gefallen und hab' ihn flehentlich gebeten; und er hat mich laut angeschrien: ›Geh, geh! Man hat dir gesagt, daß es gemacht wird – reiche ein Papier ein!‹ Ich habe aber kein Papier eingereicht. Man kann hier niemand zur Arbeit aufnehmen; alle sind an die Wolga gegangen, sie arbeiten dort auf den Barken. Das Volk ist jetzt hier so dumm geworden, unser Ernährer Väterchen Ilja Iljitsch! Unser Leinen kommt dies Jahr nicht auf den Markt: ich hab' die Bleichkammer und die Trockenkammer zugeschlossen und habe den Sitschug angestellt, bei Tag und bei Nacht aufzupassen; er ist ein nüchterner Bauer, ich bin aber bei Tag und Nacht hinter ihm her, damit er nichts von der Herrschaft einsteckt. Die anderen trinken viel und zahlen gar nichts. Die Abgaben sind im großen Rückstand: wir werden Dir, Du unser Väterchen und Wohltäter, in diesem Jahr um zwei Tausend weniger schicken als im vergangenen Jahr, wenn uns die Dürre nicht ganz zugrunde richtet, sonst schicken wir es Dir, was wir Deinem Wohlgeboren hiermit mitteilen.«

 



Dann folgten Versicherungen der Ergebenheit und die Unterschrift: »Dein Dorfschulze, Dein ergebener Sklave Prokofij Witjaguschkin hat eigenhändig unterschrieben.« Da der Betreffende des Schreibens nicht kundig war, hatte er ein Kreuz hingemalt. »Nach dem Diktat des obigen Dorfschulzen von seinem Schwager Djomka, dem Krummen, geschrieben.«



Oblomow sah sich den Schluß des Briefes an. »Es ist weder der Monat noch das Jahr angegeben«, sagte er, »der Brief liegt gewiß seit vorigem Jahr beim Dorfschulzen; es steht von Johanni und der Dürre drin! Es ist ihm erst jetzt eingefallen, ihn fortzuschicken«; er vertiefte sich in seine Gedanken.



»Nun?« fragte er dann, »was sagen Sie dazu? Er bietet mir ›um zwei Tausend weniger‹ an! Wieviel bleibt denn da? Wieviel habe ich voriges Jahr bekommen?« fragte er, Alexejew anblickend. »Habe ich's Ihnen damals nicht gesagt? ...«



Alexejew wandte seine Augen der Zimmerdecke zu und dachte nach.



»Ich muß Stolz fragen, wenn er kommt«, fuhr Oblomow fort, »ich glaube, sieben oder acht Tausend ... es ist schlimm, wenn das nicht geschrieben wird! Er teilt mir jetzt also nur sechs zu! Ich werde ja verhungern! Wie soll ich damit auskommen?«



»Warum regen Sie sich so auf, Ilja Iljitsch?« sagte Alexejew, »man darf niemals verzweifeln; wenn etwas gemahlen ist, wird Mehl daraus.«



»Hören Sie denn nicht, was er schreibt? Anstatt mir Geld zu schicken, mich irgendwie schadlos zu halten, bereitet er mir, wie um sich über mich lustig zu machen, lauter Unannehmlichkeiten! Und so ist es jedes Jahr! Ich bin jetzt ganz außer mir! ›Um zwei Tausend weniger‹!«



»Ja, das ist ein großer Schaden«, sagte Alexejew, »zwei Tausend, das ist kein Spaß mehr! Alexei Loginitsch soll in diesem Jahr auch nur zwölftausend statt siebzehn bekommen haben.«



»Also doch zwölf und nicht sechs«, unterbrach ihn Oblomow. »Der Dorfschulze hat mich ganz verstimmt! Und wenn es auch tatsächlich so ist, daß Mißernte und Dürre herrschen, warum muß er mich da im vorhinein kränken?«



»Ja ... wirklich«, begann Alexejew, »das sollte er nicht tun; aber wie kann man denn von einem Bauern Feinfühligkeit erwarten? Dieses Volk versteht gar nichts.«



»Was würden Sie an meiner Stelle tun?« fragte Oblomow und blickte Alexejew mit der schwachen Hoffnung an, dieser würde sich zu seiner Beruhigung etwas ausdenken.



»Man muß die Sache überlegen, Ilja Iljitsch, das kann man nicht auf einmal abtun«, sagte Alexejew.



»Soll ich vielleicht dem Gouverneur schreiben?« sagte Ilja Iljitsch nachdenklich.



»Wer ist denn dort Gouverneur?«



Ilja Iljitsch antwortete nicht und sann nach. Alexejew schwieg und vertiefte sich auch in seine Gedanken.



Oblomow zerknitterte den Brief, stützte seinen Kopf auf die Hände, stemmte seine Ellbogen gegen die Knie und saß einige Zeit so da, vom Ansturm beunruhigender Gedanken gepeinigt.



»Wenn wenigstens Stolz bald käme«, sagte er, »er schreibt, daß er bald hier sein wird, und treibt sich dabei Gott weiß wo herum! Er hätte mir alles geordnet.«



Er wurde wieder traurig. Lange Zeit schwiegen beide. Endlich kam Oblomow als erster zur Besinnung.



»Man muß folgendes tun!« sagte er entschlossen und wäre fast aufgestanden, »und das muß möglichst bald geschehen, man darf nicht zögern ... Erstens ...«



Da ertönte ein verzweifeltes Läuten im Vorzimmer, so daß Oblomow und Alexejew zusammenfuhren und Sachar augenblicklich von der Ofenbank herabsprang.





Drittes Kapitel



»Zu Hause?« fragte jemand im Vorzimmer laut und grob. »Wohin soll man um diese Zeit gehen?« antwortete Sachar noch gröber.



Es kam ein etwa vierzigjähriger Mann herein, der einer stämmigen Rasse anzugehören schien, groß, in den Schultern und im ganzen Körper breit war, ausgeprägte Gesichtszüge, einen großen Kopf, einen stämmigen kurzen Nacken, große Glotzaugen und dicke Lippen besaß. Ein flüchtiger Blick auf diesen Menschen erzeugte die Vorstellung von etwas Grobem und Unsauberem. Man sah, daß er sich nicht um die Eleganz seines Anzuges kümmerte. Man kam selten dazu, ihn ordentlich rasiert zu sehen. Doch das war ihm offenbar gleichgültig; seine Kleidung brachte ihn nicht in Verlegenheit und wurde von ihm mit einer zynischen Würde getragen. Das war Michej Andrejitsch Tarantjew, Oblomows Landsmann.



Tarantjew blickte alles düster an, mit halber Verachtung und offenkundiger Feindseligkeit seiner Umgebung gegenüber, er war bereit, über alle und alles auf der Welt zu schimpfen, als wäre er ungerecht gekränkt oder in irgendeiner seiner Eigenschaften verkannt worden, wie ein selbständiger, vom Schicksal verfolgter Charakter, der sich nur unfreiwillig und protestierend fügt. Seine Bewegungen waren selbstbewußt und schwungvoll; er sprach laut, dreist und fast immer zornig; wenn man ihm aus der Ferne zuhörte, schien es, drei leere Fuhren rasselten über eine Brücke. Er ließ sich durch niemands Anwesenheit einschüchtern, suchte nicht lange nach Ausdrücken und war überhaupt immer mit allen grob, ohne seine Freunde auszuschließen, als wollte er einen jeden fühlen lassen, daß er ihm durch sein Sprechen, selbst durch sein Teilnehmen am Mittagessen oder Abendbrot eine große Ehre erwies.



Tarantjew war schlagfertig und schlau; niemand konnte besser als er eine Frage des alltäglichen Lebens oder eine verwickelte juridische Angelegenheit klarlegen: er stellte sogleich eine Theorie auf, wie in dem einen oder dem andern Fall zu handeln war, führte sehr treffende Beweise an und wurde zum Schluß fast immer gegen denjenigen, der seinen Rat begehrt hatte, grob.



Dabei bekleidete er selbst, trotz seiner grauen Haare, noch dasselbe Schreiberamt in irgendeiner Kanzlei, das er vor fünfundzwanzig Jahren angenommen hatte. Es fiel weder ihm noch irgend jemand anderem ein, daß er avancieren könnte. Die Sache war die, daß Tarantjew nur gut zu sprechen verstand; in der Theorie entschied er alles, besonders das, was andere anging, klar und leicht. Sowie er aber nur einen Finger bewegen, sich erheben oder überhaupt den von ihm selbst erdachten Plan anwenden, der Sache eine praktische Richtung geben und sie schnell in Gang bringen sollte, wurde er ein ganz anderer Mensch: dazu reichte es bei ihm nicht aus, es wurde ihm plötzlich zu viel, bald war er unwohl, bald schickte es sich nicht oder es fiel ihm etwas Neues ein, das er auch nicht in Angriff nahm, oder aus dem, wenn er es tat, Gott weiß was herauskam. Dann war er wie ein Kind: bei dem einen paßte er nicht genug auf, bei dem andern wußte er irgendeine Kleinigkeit nicht, oder er kam zu spät und ließ die Sache zum Schluß halbvollendet, oder er packte sie beim verkehrten Ende an und verhunzte alles in einer solchen Weise, daß man es gar nicht wieder gutmachen konnte, und dabei war er noch imstande zu schimpfen.



Sein Vater, der ein altmodischer Gerichtsschreiber in der Provinz war, wollte seinem Sohn seine Kunst und Erfahrung, sich mit fremden Angelegenheiten abzugeben, und seine mit Erfolg zurückgelegte Laufbahn in Amtsdiensten als Erbe überlassen, doch das Schicksal fügte es anders. Der Vater, der, wie es einst in Rußland üblich war, sich seine Bildung für ein paar Kupfermünzen angeeignet hatte, wollte seinen Sohn mit der Zeit mitgehen lassen und wünschte, ihm auch außer der schwierigen Kunst, fremde Angelegenheiten zu vertreten, etwas beizubringen. Er schickte ihn drei Jahre lang zum Popen, wo er Latein lernte.



Der von Natur aus begabte Knabe hatte im Laufe der drei Jahre die lateinische Grammatik samt Syntax bewältigt und begann gerade Cornelius Nepos zu lesen, als sein Vater entschied, daß er schon genügend wußte, daß er auch durch diese seine Kenntnisse der alten Generation gegenüber einen ungeheuren Vorsprung gewonnen hatte und endlich, daß ihm seine weiteren Studien möglicherweise im Amtsdienst schaden konnten. Der sechzehnjährige Michej wußte nun nicht, was er mit seinem Latein beginnen sollte, und vergaß es nach und nach in seinem Elternhause, nahm aber dafür, in Erwartung der großen Ehre, im Landes-und Kreisgericht anwesend sein zu dürfen, an allen Festgelagen seines Vaters teil, und in dieser Schule, inmitten der aufrichtigen Gespräche, verfeinerte und entwickelte sich der Geist des jungen Mannes. Er lauschte mit jugendlicher Empfänglichkeit den Erzählungen des Vaters und dessen Kameraden von verschiedenen strafrechtlichen und zivilen Angelegenheiten, von all den interessanten Fällen, welche durch die Hände aller dieser altmodischen Gerichtsschreiber gegangen waren. Doch das alles führte zu nichts. Michej wurde zu keinem Sachkundigen und Fintenmacher, obwohl alle Bemühungen des Vaters darauf gerichtet waren und auch gewiß von Erfolg gekrönt worden wären, wenn das Schicksal seine Absichten nicht hintertrieben hätte. Michej hatte sich tatsächlich die ganze Theorie der väterlichen Belehrungen angeeignet, er brauchte sie nur anzuwenden; doch er kam infolge des Todes seines Vaters nicht dazu, eine Anstellung bei Gericht zu erlangen, und er wurde von einem Wohltäter, der ihm eine Schreiberstelle in irgendeinem Departement verschafft hatte und ihn später vergaß, nach Petersburg mitgenommen. Auf diese Weise blieb Tarantjew sein Leben lang nur Theoretiker. Er konnte in dem Petersburger Amt mit seinem Latein und mit seiner raffinierten Theorie, gerechte und rechtlose Sachen willkürlich zum Ziele zu führen, nichts anfangen. Und dabei trug er die schlummernde Kraft bewußt mit sich herum, die durch feindliche Umstände ohne Hoffnung auf Befreiung in ihm eingeschlossen war. Vielleicht war Tarantjew infolge dieses Bewußtseins so grob, feindselig, immer zornig und streitsüchtig im Verkehr. Er verhielt sich seinen amtlichen Beschäftigungen, dem Abschreiben von Papieren, dem Zusammennähen von Akten usw. gegenüber voll Bitterkeit und Verachtung. Ihm lächelte in der Zukunft nur die eine letzte Hoffnung entgegen: bei der Akzise angestellt zu werden; das war für ihn der einzige Weg, der für die ihm vom Vater vermachte, aber nicht erreichte Laufbahn einen lohnenden Tausch bot. Und in Erwartung all dessen äußerte sich die fertige, von seinem Vater erschaffene Theorie der Tätigkeit und Lebensführung, diese Theorie der Bestechlichkeit und der Kniffe, nachdem sie um ihre würdigste Anwendung in der Provinz gekommen war, in allen Details seiner nichtigen Existenz zu Petersburg und schlich sich in Ermangelung von offizieller Betätigung in alle seine freundschaftlichen Beziehungen ein. Er war seiner Seele und seinen Prinzipien nach bestechlich und brachte es fertig, in Ermangelung von Geschäften und Bittstellern von seinen Kameraden und Kollegen Bestechungsgelder einzufordern, Gott weiß warum und wofür, ließ sich, von wem und wo es nur ging, bald durch List, bald durch Aufdringlichkeit freihalten, verlangte allen unverdiente Achtung ab und suchte Händel. Seine abgetragenen Kleider brachten ihn niemals in Verlegenheit; doch er wurde unruhig, wenn er in der Perspektive des Tages kein opulentes Mittagmahl mit einer angemessenen Quantität von Wein und Schnaps vor sich sah. Infolgedessen spielte er im Kreise seiner Bekannten die Rolle eines großen Kettenhundes, der alle anbellte und von keinem sich berühren ließ, dabei aber unfehlbar jedes Stück Fleisch im Fluge auffing, woher und wohin es auch fliegen mochte.

 



So waren die beiden eifrigsten Besucher Oblomows. Warum kamen diese beiden russischen Proletarier zu ihm? Das wußten sie sehr gut: um zu essen, zu trinken und gute Zigarren zu rauchen. Sie fanden warme, ruhige Räume und einen gleichmäßigen, wenn nicht freudigen, so doch gleichgültigen Empfang. Aber warum Oblomow sie zu sich ließ, darüber gab er sich wohl kaum Rechenschaft. Wahrscheinlich aus demselben Grunde, aus welchem noch bis heute in unseren entlegenen Oblomowkas1 in jedem wohlhabenden Hause sich ein Schwarm ähnlicher Persönlichkeiten beiderlei Geschlechtes drängt, ohne Brot, ohne Beschäftigung, ohne Hände, um etwas zu produzieren, nur mit einem Magen, um zu konsumieren, aber fast immer mit einem Rang und einem Titel. Es gibt noch Sybariten, für welche solche Anhängsel in ihrem Leben ein Bedürfnis sind: sie langweilen sich, wenn sie auf der Welt nicht etwas Überflüssiges haben. Wer wird eine irgendwohin verschwundene Tabatiere reichen, oder wer wird das auf den Fußboden herabgefallene Taschentuch aufheben? Wem kann man mit einem Anrecht auf Teilnahme über Kopfweh klagen, einen bösen Traum erzählen und dessen Deutung verlangen? Wer wird vor dem Schlaf vorlesen und einzuschlafen helfen? Und manchmal wird ein solcher Proletarier in die nächste Stadt zum Einkauf geschickt und hilft in der Wirtschaft mit – man wird sich doch mit diesen Dingen nicht selbst befassen!



Tarantjew machte viel Lärm und rüttelte Oblomow aus seiner Unbeweglichkeit und Langeweile auf. Er schrie, stritt und führte selbst etwas von der Art einer Vorstellung auf, indem er den faulen Edelmann von der Notwendigkeit zu sprechen und zu handeln befreite. Tarantjew brachte in das Zimmer, in welchem Schlaf und Ruhe herrschten, Leben, Bewegung und manchmal Kunde von außen, Oblomow konnte ohne einen Finger zu rühren etwas Lebendiges sehen und hören, das sich vor ihm bewegte und sprach. Außerdem war er noch einfältig genug zu glauben, Tarantjew wäre imstande, ihm tatsächlich etwas Brauchbares anzuraten.



Alexejews Besuche wurden von Oblomow aus einem anderen, nicht minder wichtigen Grunde geduldet. Wenn er die Zeit nach seinem Geschmack verbringen, d.h. schweigend daliegen, schlummern oder im Zimmer auf und ab gehen wollte, schien Alexejew gar nicht anwesend zu sein; er schwieg gleichfalls, schlummerte oder blickte in ein Buch hinein und betrachtete mit einem faulen Gähnen, bis zu Tränen, die Bilder und Kleinigkeiten. Er konnte drei Tage ununterbrochen auf diese Weise verbringen. Wenn das Alleinsein Oblomow aber lästig wurde, wenn er das Bedürfnis zu sprechen, zu lesen, zu räsonieren, irgendeine Erregung zu äußern, fühlte, hatte er stets einen gehorsamen und bereitwilligen Gesellschafter vor sich, der sein Schweigen und Sprechen, seine Aufregung und seine Denkweise, wie diese auch sein mochten, mit dem gleichen Diensteifer teilte. Die übrigen Gäste kamen selten, nur auf einen Augenblick, wie die früheren drei; das lebenskräftige Band, das ihn mit ihnen allen verbunden hatte, lockerte sich immer mehr und mehr. Oblomow interessierte sich manchmal für irgendeine Neuigkeit, für ein Gespräch von fünf Minuten, und schwieg dann befriedigt. Man mußte sich ihnen durch Aufmerksamkeit erkenntlich erweisen und an allem, was sie interessierte, teilnehmen. Sie ließen sich vom Menschenstrom forttragen; ein jeder von ihnen faßte das Leben auf seine Weise auf, so, wie Oblomow es nicht auffassen wollte; sie drängten ihn aber auch hinein. Das alles mißfiel ihm, stieß ihn ab, war ihm unangenehm. Nur ein Mensch war nach seinem Geschmack; auch dieser störte ihn in seiner Ruhe; auch dieser liebte das Neue, die Welt, die Wissenschaft und das ganze Leben, doch er liebte das alles tiefer, wärmer, aufrichtiger – und Oblomow, der mit allen freundlich war, liebte nur ihn allein von Herzen und glaubte nur ihm allein, vielleicht deswegen, weil er mit ihm zusammen aufgewachsen war, mit ihm zusammen gelernt und gelebt hatte. Das war Andrej Iwanitsch Stolz. Er war abwesend, doch Oblomow erwartete ihn stündlich.



Fußnoten



1 Die vom Familiennamen des Besitzers abgeleitete Benennung des Gutes.





Viertes Kapitel



»Guten Tag, Landsmann«, sagte Tarantjew kurz angebunden, seine zottige Hand Oblomow hinstreckend. »Warum liegst du noch bis jetzt wie ein Holzklotz da?«



»Komm nicht heran, komm nicht heran: du bringst Kälte mit«, sagte Oblomow, sich zudeckend.



»Was du dir einbildest! Ich sollte Kälte mitbringen?!« schrie Tarantjew auf. »Nimm nur die Hand, wenn man sie dir reicht! Es ist bald zwölf Uhr, und er liegt noch herum!«



Er wollte Oblomow vom Bett aufheben, doch dieser kam ihm zuvor, indem er die Füße rasch herabgleiten ließ und sofort in beide Pantoffeln zugleich schlüpfte.



»Ich wollte selbst bald aufstehen«, sagte er gähnend.



»Ich weiß schon, wie du aufstehen wolltest; du wärest bis zum Mittagessen liegen geblieben. He, Sachar! wo steckst du, alter Dummkopf? Hilf dem Herrn beim Anziehen.«



»Schaffen Sie sich zuerst Ihren eigenen Sachar an, dann können Sie schimpfen!« sagte Sachar, ins Zimmer tretend und Tarantjew feindselig anblickend. »Wieviel Straßenkot Sie hereingebracht haben, wie ein Hausierer!« fügte er hinzu.



»Du redest noch, du Teufelsfratze!« antwortete Tarantjew und hob den Fuß auf, um den vorübergehenden Sachar zu stoßen; doch dieser blieb stehen, wandte sich zu ihm hin und machte sich kampfbereit.



»Rühren Sie mich nur an! Was ist denn das? Ich gehe ...« sagte er und näherte sich der Tür.



»Aber hör doch auf, Michej Andreitsch, wie aufgeregt du bist! Warum läßt du ihn nicht in Ruh'?« sagte Oblomow. »Sachar, gib alles her, was ich brauche!«



Sachar kehrte um und lief, Tarantjew anschielend, geschwind an ihm vorüber. Oblomow stütze sich auf ihn, erhob sich ungern, wie ein sehr ermüdeter Mensch, vom Bett, ließ sich ebenso ungern in einen großen Lehnstuhl sinken und blieb reglos sitzen. Sachar nahm vom Tischchen Pomade, die Kämme und Bürsten, schmierte ihm den Kopf mit Pomade ein, machte ihm einen Scheitel und bürstete ihm dann die Haare.



»Werden Sie sich jetzt waschen?« fragte er.



»Ich werde noch ein wenig warten«, antwortete Oblomow, »geh!«



»Ah, Sie sind auch da?« sagte Tarantjew, sich plötzlich an Alexejew wendend, während Sachar Oblomow frisierte, »ich habe Sie gar nicht gesehen. Weshalb sind Sie hier? Ihr Verwandter ist ein solches Schwein! Ich wollte es Ihnen immer sagen ...«



»Was für ein Verwandter? Ich habe gar keinen Verwandten«, antwortete schüchtern der verblüffte Alexejew und glotzte Tarantjew an.



»Nun dieser da, welcher hier angestellt ist, wer ist es doch gleich? ... Er heißt Afanassjew. Wieso soll er denn nicht Ihr Verwandter sein? Er ist doch Ihr Verwandter.«



»Ich bin doch nicht Afanassjew, ich bin Alexejew«, sagte dieser, »ich habe keinen Verwandten.«



»Das ist nicht Ihr Verwandter? Er ist ebenso unansehnlich wie Sie und heißt auch Wassilij Nikolaitsch.«



»Bei Gott, er ist nicht mit mir verwandt; ich heiße Iwan Alexeitsch.«



»Nun, das ist ganz gleich, er sieht Ihnen ähnlich. Er ist aber ein Schwein; sagen Sie ihm das, wenn Sie ihn sehen.«



»Ich kenne ihn nicht und habe ihn niemals gesehen«, sagte Alexejew, seine Tabatiere öffnend.



»Geben Sie mir einmal Ihren Tabak«, sagte Tarantjew, »Sie haben einfachen und keinen französischen Tabak? Ja gewiß«, sagte er, nachdem er geschnupft hatte, »warum haben Sie keinen französischen?« fügte er dann strenge hinzu. »Wirklich, ich habe noch niemals ein solches Schwein gesehen, wie Ihr Verwandter es ist«, fuhr Tarantjew fort. »Ich habe von ihm einmal, es wird schon zwei Jahre her sein, fünfzig Rubel geborgt. Nun, sind denn fünfzig Rubel viel Geld? Wie sollte man so etwas nicht vergessen? Er denkt aber noch daran; er sagt mir nach einem Monat, wo er mich auch trifft: ›Und wie steht's mit Ihrer Schuld?‹ Es ist mir zu dumm geworden! Außerdem ist er gestern in unser Departement gekommen. ›Sie haben gewiß Ihr Gehalt bekommen‹, sagte er, ›jetzt können Sie mir das Geld zurückgeben.‹ Ich habe ihm mein Gehalt gegeben und ha